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Eva Illouz: Der Mensch ist die Pipline (in progress)

Es wird Zeit! Wofür? Gedanken zuzulassen, die Menschen an ihrem absehbaren Lebensende begleiten. Gedanken sind etwas Nebulöses, etwas gänzlich Intransparentes. Sie werden erst hör- bzw. lesbar, wenn ihnen jemand Sprache verleiht. Aber dann sind sie keine Gedanken mehr. Ich habe in den letzten vierzehn Tagen so viel Lebensendliches erlebt bzw. wahrgenommen, dass es mich nach Sprache drängt. Ich durfte auf bescheidene Weise einen 84sten Geburtstag mitfeiern. Dabei traf ich einen alten Freund, dem der 80ste Geburtstag im vorletzten Jahr offenkundig eine deutliche Veränderung der Wahrnehmung seiner selbst und der Welt offenbarte – zumindest deutet er dies an. Dazu mag zentral die Entscheidung gehören, Mitglied der Gesellschaft für humanes Sterben zu werden. Der Sterbenswille findet seine Grenzen in einer restriktiven Gesetzgebung. Er zwingt Menschen dazu, in Grenzsituationen, in denen ihnen der Suizid alternativlos erscheint, auf inhumane und für das Umfeld belastende Weise Hand an sich zu legen. Auch mein inzwischen verstorbener Schwager hat mehrfach seinen Sterbenswillen explizit geäußert. Es stellt sich die Frage, die häufig ins Dilemma führt: Was werden Menschen gezwungen zu ertragen bzw. was ertragen wir (als Angehörige oder als Freund:innen), wenn die Fürsorge und die Begleitung in den letzten Monaten in die Hände professioneller Pflege führt; einer Pflegesituation, von der man aus dem Munde des der Fürsorge Anheimfallenden erfährt, dass sie dem erkennbaren Recht auf Selbstbestimmung entgegensteht? Im Schreiben dieser Zeilen selbst wird mir bewusst, dass ich mich - sollte ich alt und älter werden - aus der Hand geben werde. Die letzten 25 Jahre meines Lebens finden ihren Fokus in liebevoller und dankbarer Fürsorge und Zuwendung gegenüber der mir nahen und nächsten Menschen.

Auf der Zielgeraden dieses Beitrags werde ich dann auch bekennen müssen, dass mich das Interview von Silke Weber mit Eva Illouz zwar interessiert, dass mich die Antworten aber eher ernüchtern und in eine andere Richtung des Nachdenkens führen. Der Spannungsraum zwischen Hoffnung auf der einen Seite und Enttäuschung auf der anderen Seite beginnt sich altersabhängig naturgemäß zu lichten. Nicht dass ich ohne Hoffnung wäre. Gleichwohl gewinnt die Enttäuschung über das, was der Mensch - im Sinne der Kantischen Fragen - wissen kann, was er tun soll, was er hoffen darf und was der Mensch sei - die Oberhand. Das mag mit der - hoffentlich vorschnellen - Feststellung zusammenhängen, dass Carl Schmitt über Immanuel Kant obsiegt hat.

DIE ZEIT bietet uns am 24. Mai 2025 eine Sonderausgabe unter dem Titel „Die besten Einfälle des 21. Jahrhunderts – Und wie wir sie erlebten“ an. Sie verspricht uns einen „vergnüglichen Ausflug in 25 Jahre magischer Momente, die unsere Welt veränderten“. Nun kann man gewiss davon ausgehen, dass es ein Wagnis ist, all die versammelten Beiträge unter dem Rubrum „vergnüglicher Ausflug“ zu subsumieren. Mir jedenfalls ist der vergnügliche Aspekt ziemlich im Hals bzw. im Auge stecken geblieben, als ich Silke Webers Interview mit Eva Illouz las (Der Mensch ist die Pipeline – Seite 63). Ins Auge sticht die Inszenierung des schwedischen Fotografen Marcus Ohlsson, mit der er die Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg als eine Art „menschliche Ölverschmutzung“ ins Licht rückt. Silke Weber bekennt, überrascht zu sein, dass Greta Thunberg sich darauf eingelassen habe. Auch die Interpretation im Sinne einer „menschlichen Ölverschmutzung“ findet sich unter der wiedergegebenen Fotografie.

Ich verknüpfe das Interview im Folgenden mit meinen einleitenden Hinweisen und deute die Greta Thunberg-Inszenierung ein wenig anders. Das Öl, das über Greta Thunbergs Kopf und die (vom Betrachter aus gesehen) linke Gesichtshälfte rinnt, die eben noch das rechte Auge, die Nase und den Mund verschont, das als Rinnsal aber schon Hals und Schultern erreicht, wirkt aggressiv invasiv, besitzergreifend. Man mag sich nicht vorstellen, Greta Thunberg zu Leibe rücken zu müssen, wie etwa ölverschmierten Möwen, Pinguinen oder Seehunden. Die (abartige) Version von Welt, die wir bekämpfen und vor der wir uns schützen müssen/wollen, macht nicht vor uns halt. Sie ergreift von uns Besitz, wie ein unaufhaltsames Virus – wie die Pest.

Das Interview Silke Webers mit Eva Illouz ist unter einem dazu passenden Gesichtspunkt ungemein aussagekräftig. Die erläuternde – uns vorbereitende – Titelerläuterung spricht davon, dass das 21. Jahrhundert unseren Umgang mit Gefühlen komplett umgekrempelt habe.

Es beginnt mit dem Versuch, das Phänomen Hoffnung einer zeitgemäßen Deutung zuzuführen. Eva Illouz versucht eine kritische Analyse und sieht im Modus fortgesetzter Enttäuschung einen destruktiven Gegenpol:

Silke Weber: Frau Illouz, das Wort Hoffnung taucht momentan überall auf, in der Politik, in den Klimadebatten, der Selbsthilfe-Literatur. Ist das etwas Gutes?

Eva Illouz: Sie kann ein Narkotikum sein, das uns davon überzeugt, dass sich die Dinge ohne unser Zutun verbessern werden …]. Hoffnung ist eine emotionale Art, sich die Zukunft anzueignen, und deshalb ist sie eine religiöse, aber auch zutiefst politische Emotion. Auch in Trumps MAGA ist die Hoffnung auf Fortschritt viel tiefer verwurzelt als auf eine Rückkehr in die Vergangenheit. Wer einer geschlagenen Wählerschaft Hoffnung gibt, gewinnt spirituelle Macht. Wer Zukunft denkbar macht, kann Menschen zum Handeln bewegen.

Silke Weber: Ist Hoffnung auch ein gutes Geschäftsmodell? Wer von Hoffnung spricht, kann damit Selbstoptimierung, Coachings und die Suche nach dem >richtigen Leben< verkaufen.

Eva Illouz: Positive Psychologie, Selbsthilfe-Kultur, moderne Spiritualität, alles worin wir heut so gerne Zeit oder Geld investieren, basiert auf Hoffnung. Der Kapitalismus lässt sich nicht ohne Hoffnung denken, weil wir stets über ein besseres Selbst, einen besseren Job, einen besseren Ehepartner nachdenken. Ich denke, Hoffnung und Zuversicht sind zu den Grundmerkmalen der modernen Lebenshaltung geworden. …]. Nicht nur Emotionen, unsere gesamte Subjektivität wird zur produktiven Kraft – und niemand scheint es zu merken. Jeder Swipe, jeder getrackte Herzschlag, jede verzweifelte Google-Suche: >Warum bin ich unglücklich?< Das unterschätzen wir sogar noch.

Silke Weber: Nicht nur unsere Arbeitskraft und unsere Aufmerksamkeit werden ausgebeutet, sondern unsere Einsamkeit, unsere Liebe, unserer Angst?

Eva Illouz: Ja, unser Ich nährt diese milliardenschweren Mega-Industrien – wir sind die lebendigen Batterien, die ihr Geschäftsmodell am Laufen halten.

Silke Weber: Sie behaupten, Enttäuschung sei zum zentralen Antrieb der modernen Gesellschaft geworden. Können sie das erklären?

Eva Illouz: Ja, es ist eine produktive Emotion im Sinne von: Sie treibt uns an, immer weiterzuarbeiten. Nehmen wir an, ich bin 50 – meine Ehe ist enttäuschend, der Job unbefriedigend, mein ganzes Dasein von einem dumpfen Unbehagen geprägt.

Silke Weber: Und was tun sie?

Eva Illouz: Ich gehe zur Psychologin, um über diese Enttäuschung zu sprechen. Ich buche eine Auszeit. Vielleicht nehme ich auch Freizeitdrogen oder beginne ein neues Hobby, probiere Malerei oder Bildhauerei aus, um mich als kreativen Menschen zu spüren. Genau das meine ich mit einer produktiven Emotion – sie lässt uns unermüdlich an uns selbst arbeiten, statt die Verhältnisse infrage zu stellen. …]. Die wahre Leistung des Kapitalismus ist es, die Enttäuschung über das eigene Scheitern in einen endlosen Produktivitätszyklus umzuwandeln. …] Das System schafft es, uns dazu zu bringen, unentwegt zu arbeiten und zu konsumieren – sei es, um unser Leid zu lindern oder um überhaupt erst Emotionen zu erzeugen.

Machen wir zunächst einmal einen Cut, um uns später auf politische Aspekte der Analyse von Eva Illouz zu konzentrieren.

Der Mensch wird aus dem Paradies der Gesellschaft vertrieben - Everybody knows

Wir reden miteinander, wir feiern miteinander, wir singen miteinander, wir freuen uns miteinander, wir trauern miteinander, wir lieben einander, wir machen sogar Kinder miteinander - es ist doch ganz und gar offenkundig, dass Menschen eine Menge miteinander machen, dass sie soziale Wesen sind, dass sie auf ein Miteinander und auf Resonanz angewiesen sind! Wie kann dann jemand behaupten, die Menschen kommunizierten nicht miteinander, der Mensch befinde sich außerhalb der Gesellschaft. Dietrich Schwanitz hat im Anschluss an Niklas Luhmann behauptet, der Mensch werde aus dem Paradies der Gesellschaft vertrieben, er treibe sich außerhalb herum, in der Wildnis seiner Psyche: "Die Psyche gehört nicht zur Gesellschaft."

In Memoriam: Ernst Josten: 3. Dezember 1937 – 28. April 2025

Mors certa – hora incerta – der Tod ist uns gewiss – die Stunde ungewiss

Veröffentlicht: 17. November 2024

Zwei Tage nach Veröffentlichung dieses Beitrages habe ich meinen Schwager, Ernst Josten, in der Kleinen Perle in Bad Breisig besucht. Danach noch ein einziges Mal am 3. Dezember 2024, an seinem 87sten Geburtstag. Der Beitrag war und ist meinem Schwager zugedacht. Er ist zu Beginn der 60er Jahre in mein Leben getreten. Er war über dreißig Jahre mit meiner Schwester verheiratet, und er ist der Vater meines Neffen. Wenn man noch keine zehn Jahre alt ist, ist man offen, man befindet sich in einer Prägephase mit der Neigung zu starker Identifikation mit Leitfiguren. Mein Schwager war für mich und mein Bruder Willi eine solche Leitfigur. Er ist es nicht geblieben.

Nachlässe - und was wir damit zu tun haben?

Alexander Kluge hat einmal ausgerufen: "Wir müssen uns auf die Socken machen, der Schnee schmilzt weg. Wach auf du Christ - und was noch nicht gestorben ist, macht sich auf die Socken!" (das dazu gehörige Interview lässt sich hier anklicken)

Warum müssen oder sollten wir uns auf die Socken machen? Was will er uns sagen, wenn er meint, der Schnee schmilze weg? Und warum sollten es gerade die Christen sein? Und die, die noch nicht gestorben sind?

Verzeihung - die letzte Frage ist einfach nur dumm. Wer gestorben ist, kann sich nicht mehr auf die Socken machen! Und die meisten haben ihren Nachlass nicht geregelt - vielleicht, und vielleicht im besten Fall, haben sie Wünsche zu ihrer Beisetzung geregelt; manche sogar minutiös - bis ins kleinste Detail. Dies wiederum mögen (die einen) Angehörigen als Erleichterung begreifen, manche (andere Angehörige) hingegen als Zumutung, denn was da alles geregelt wurde, widerstrebt möglicherweise den eigenen Überzeugungen und Wünschen! Und überhaupt! Nachlässe - manchen glauben, ob als Nachlasser oder als Nachlässe Empfangende, sie hätten gar nichts nachzulassen, oder nachgelassen. Nun gut: Alexander Kluge (hört Euch das oben verlinkte Interview noch einmal an) belehrt und eines Besseren. Pardon, Belehrung - ist das nicht eines der Unwörter schlechthin? Gut, reden wir nicht von Belehrung, sondern lediglich von dem Versuch, als alter, weiser Mensch den Nachkommenden etwas zu übermitteln, Erfahrungen, Kränkungen und den Umgang mit ihnen. Pardon, ich habe es gewagt, von alten, weisen Menschen zu reden. Stephan Lebert (bedingt) und Louis Lewitan - ich möchte meinen: Es handelt sich möglicherweise um junge alte Weise - in diesem Fall (ach, du große Scheiße) auch noch um Männer!

Ob Alexander Kluge, der ist nun wirklich mit seinen 93 Jahren alt, oder die beiden Erwähnten. Sie werden offenkundig nicht müde, dafür zu werben, dass es nicht hilft, die Augen zu schließen: Die Nachlässe kommen nicht, sie sind immer schon da - nicht nur "die vererbten Traumata des Krieges", sondern meinetwegen - wie bei Alexander Kluge - auch die Traumata von sich scheidenden Eltern, den damit verbundenen Zumutungen, Kränkungen und Enttäuschungen, die ein Leben lang damit verbunden bleiben:

Vergeblichkeit und Generativität

Ich stehe noch sehr unter dem Eindruck des Blinden Flecks von Stephan Lebert und Louis Lewitan

Es ist Sonntagmorgen - der Weiße Sonntag; der Sonntag, an dem Kinder zum ersten Mal vom Leib Christi kosten - so wie ich es auch getan habe vor 65 Jahren. Die Bilder aus Rom sind gegenwärtig, man konnte ihnen nicht entgehen - sich ihnen vollkommen entziehen: Franziskus als Projektionsfläche ungestillter Sehnsüchte, nie zu erfüllender Träume einer verkommenen, verrotteten Amtskirche gegenüber. Am Rande der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Papst (der Armen und Ausgestoßenen) werden Deals gemacht - unvermeidbarer Weise mit einem Repräsentanten einer aus den Fugen geratenen Welt, der die Geschäfte eines Mörders betreibt, und der Vergeblichkeitsgefühle hekatombenmäßig befeuert.

Ich habe soeben "Am Ende war da ein Gefühl von absoluter Vergeblichkeit" in der akutellen ZEIT (17/25) vom 24. Februar gelesen; Catarina Lobensteins Versuch, den Abgang Kevin Kühnerts aus der großen Politik nachvollziebarer zu machen. Ich gestehe, dass ich Zeit meines (alten) Lebens von Kevin Kühnert zutiefst beeindruckt war, dass es Caterina Lobenstein aus meiner Sicht gelingt, feinfühlig und sensibel Grundtugenden eines (idealtypischen) Vertreters seriöser Politik nachzuzeichnen: die Fähigkeit, zuhören zu können, auf den Punkt hin (auch in prekären Situationen) formulieren bzww. parieren zu können, eine nahezu charismatische Vision von (sozial-)demokratischer Politik entwerfen zu können (und dafür auch persönlich einzustehen). Um dann letztlich auch begreiflich zu machen, dass Kevin Kühnerts Scheitern folgerichtig und nahezu alternativlos erscheint. Der Seitenwechsel von einer relativ machtfernen (aber immerhin auf der Bühne eines öffentlichkeitswirksamen Politikbetriebs verankerten) Position des Juso-Vorsitzenden, hin zur Position des Generalsekretärs im Machtzentrum der Sozialdemokratie, die zugleich eine taktisch-strategische Begrenzung eigener Ambitionen erzwingt, hat Kevin Kühnerts heißen Magma-Kern veränderungswirksamer Einflussnahme dahinschmelzen lassen. Nun könnte man fragen: Was und wen hat den Kevin Kühnert geritten bei der Entscheidung, sich auf einen Schleudersitz zu setzen, bei dem Parteiraison der einzige Kompass sein kann? Sei's drum: Kevin Kühnert mutiert in den Jahren seiner Karriere als Partei-Soldat nicht nur deshalb zur tragischen Figur. Er erfährt geradezu exemplarisch den Verfall einer politischen Kultur, in dessen Folge Einschüchterung und Bedrohung auf der einen Seite und das Entgleiten der politischen Meinungsführerschaft auf der anderen Seite jene von ihm angeführten Vergeblichkeitsgefühle befeuern.

Kevin Kühnert ist unterdessen 35 Jahre alt - weniger als halb so alt wie ich. Wir alle - die zwischen dem Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhundert hinein in die fünfziger und frühen sechziger Jahre Geborenen - sehen uns heute mit der aufkeimenden Saat dieser Vergeblichkeitsgefühle konfrontiert. Ich wechsle das Metier:

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund