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Die Zeit fliegt – aus: Theodor W. Adorno - Minima Moralia (Suhrkamp – Frankfurt, 1969, Seite 105-106
Die fast unlösbare Aufgabe bestehe darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen! Das war offenkundig Theodor W. Adornos Credo. Lasst uns sehen, wie wir uns in diesem Spannungsraum wiederfinden und in ihm sowohl unsere Möglichkeiten finden (und auch nutzen) als auch den Weg aus ihm finden – auf so anständige Weise wie möglich.
>Nur ein Viertelstündchen. – Schlaflose Nacht: dafür gibt es eine Formel, qualvolle Stunden, ohne Aussicht auf eine Ende und Dämmerung hingedehnt in der vergeblichen Anstrengung, die leere Dauer zu vergessen. Entsetzen aber bereiten schlaflose Nächte, in denen die Zeit sich zusammenzieht und fruchtlos durch die Hände rinnt. Einer löscht das Licht aus in der Hoffnung auf lange Stunden der Ruhe, die ihm helfen möchten. Aber während er nicht die Gedanken beschwichtigen kann, vergeudet sich ihm der heilsame Vorrat der Nacht, und bis er fähig wäre, unter den brennend geschlossenen Augen nichts mehr zu sehen, weiß er, daß es zu spät ist, daß ihn bald der Morgen aufschrecken wird. Ähnlich mag dem zum Tode Verurteilten die letzte Frist unaufhaltsam, ungenützt verstreichen. Was aber in solcher Kontraktion der Stunden sich offenbart, ist das Gegenbild der erfüllten Zeit. Wenn in dieser die Macht der Erfahrung den Bann der Dauer bricht und Vergangenes und Zukünftiges in die Gegenwart versammelt, so stiftet Dauer in der hastig schlaflosen Nacht unerträgliches Grauen. Das Menschenleben wird zum Augenblick, nicht indem es Dauer aufhebt, sondern indem es zum Nichts verfällt, zu seiner Vergeblichkeit erwacht im Angesicht der schlechten Unendlichkeit von Zeit selber. Im überlauten Ticken der Uhr vernimmt man den Hohn der Lichtjahre auf die Spanne des eigenen Daseins. Die Stunden, die als Sekunden schon vorbei sind, ehe der innere Sinn sie aufgefaßt hat, und ihn fortreißen in ihrem Sturz, melden ihm, wie er samt allem Gedächtnis dem Vergessen geweiht ist in der kosmischen Nacht. Dessen werden sich die Menschen heute zwanghaft gewahr. Im Stande der vollendeten Ohnmacht scheint dem Individuum, was ihm zu leben gelassen ward, als kurze Galgenfrist. Es erwartet nicht, sein Leben aus sich zu Ende zu leben. Die Aussicht auf gewaltsamen Tod und Marter, einem jeden präsent, setzt sich fort in der Angst, daß die Tage gezählt sind, die Länge des eigenen Lebens unter der Statistik steht; daß Altwerden gleichsam zum unlauteren Vorteil ward, der dem Durchschnitt abgelistet werden muß. Vielleicht ist die von der Gesellschaft widerruflich zur Verfügung gestellte Lebensquote bereits aufgebraucht. Solche Angst registriert der Körper in der Flucht der Stunden. Die Zeit fliegt.<
Nachbemerkung: Unverhofft - heute morgen (als Strohwitwer) zuerst zwei Enkelkinder - die beiden Ältesten (sechseinhalb und fünf): Gemeinsam frühstücken, ein Kapitel aus den Muskeltieren. Dann kamen wir auf die Idee einem Gespräch zu lauschen: Eine Gitarre und ein Saxophon im Zwiegespräch. Wir haben gemeinsam getanzt. Jule hat ihre im Ballett gelernten Schritte unterlegt - ein Herantasten an gemeinsame Neigungen im Hören, Fühlen, Bewegen. Dann - unverhofft - das dritte Enkelkind vor der Türe; am 5. Januar jährt sich der zweite Geburtstag. Die folgenden einundeinhalben Stunden kümmern sich die Älteren um die Kleinste; pardon: die allerkleinste wird ja in drei Tagen erst ein Vierteljahr. Wir befüllen die Futterstellen für die Vögel im Garten und gönnen uns ein zweites Frühstück - und Jule füttert Anouk.
Wir alten Großeltern können uns besonders beschenkt sehen: Noch jung genug, den ganz Jungen ein Gegenüber zu sein. Und alt genug, um mit Theordor W. Adornos Zeitraffer umgehen zu können. Wir leben in der Zeit und erleben sie als jeweilige Gegenwart immer wieder auch als überaus erfüllte Zeit. Dabei gewärtigen wir sehr wohl das überlaute Ticken der Uhr in der kosmischen Nacht. Aber nicht (nur) als Hohn der Lichtjahre auf die Spanne des eigenen Daseins. Inzwischen - bin ich überzeugt - leben wir das richtige Leben im richtigen. Indem ich den Wimpernschlag in mir aufnehme, der im kosmischen Unendlichkeitsraum gleichwohl für uns Menschlein eine beachtliche Zeitspanne markiert. Die beginnt für mich mit meinen Großeltern, die mir früh - ausschließlich in meiner Fühlwelt - die Habitus gewordene Erfahrung vermittelt haben, wie sehr wir uns verdanken. Für meinen Bruder und mich war ein Gedeihlichkeitskokon aus Geborgenheitsfäden aufgespannt. Und wie sehr wir sterblich sind, habe ich über den Tod meinern Großeltern erfahren - und allzufrüh über den allzufrühen Tod meines Bruders. Alles andere geht offenkundig seinen Weg. Mama und Papa leben nicht mehr. Aber wir leben. Für Unsterblichkeitsphantasien gibt es nur im Jenseits einen Spielraum - jenen Spielraum, den sich Agnostiker gestatten, die nicht der Hybris erliegen, allwissend zu sein. Ich weiß nur so viel, dass ich jeden Augenblick im richtigen Leben auskoste. Meine Kinder und Enkelkinder werden sich in einigen Jahrezehnten erinnern.
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Novina Göhlsdorf: Der Rhythmus meines Vaters
Für Laura und Anne, denen es vermutlich zeitweise auch wie Novina Göhlsdorf gehen wird - wie allen Töchtern auf dieser Welt.
Bedauernswerter sind nur jene Töchter, die wirklich vaterlos aufwachsen müssen. Wenn bei allen Vorbehalten und Einschränkungen eines aus Novina Göhldorfs Text strahlt, dann mit Sicherheit diese Gewissheit!
Und auch ein bisschen für Ann-Christin und Kathrin - den Vater kann niemand ersetzen!
Die goldfarben unterlegten Begriffe bzw. Passagen kann man anklicken!
Novina Göhldorfs Vater ist 74 und Stammgast im Techno-Club. Als seine Tochter das erste Mal mitgeht, versteht sie nicht nur ihn besser, sondern auch sich selbst. So wird Novina Göhlsdorf Essay eingeleitet, mit dem mehr repräsentiert wird als der gemeinsame Besuch von Vater und Tochter in einem Berliner Club. Ich habe den Beitrag zwei Mal gelesen; das zweite Mal mit vier verschiedenfarbigen Textmarkern in der Hand - dazu noch einen rotfarbigen PILOT G-2 07 Stift.Nun gibt es auf den sechs Seiten im ZEIT-Magazin (Nr. 50 vom 27.11.2025) kaum noch unmarkierte, unkommentierte Passagen. Warum - um Gottes Willen - diese Aufmerksamkeit, diese Akribie? In einem Vierteljahr bin ich selbst 74. Ich bin Vater zweier Töchter - und: was im Verlauf der Auseinandersetzung mit diesem Text noch eine entscheidende Rolle spielen wird, Großvater von inzwischen vier Enkelkindern. Aber der Reihe nach:
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Karl Ove Knausgard - Vom Lesen und Schreiben
Na klar, es lohnt sich einmal wieder ZEIT-Abonnent zu sein: Literatur – 10 Seiten Bücher – Ein Spezial zu Weihnachten (früh genug, dass auch die Buchhandlungen noch etwas davon haben: ZEIT 49/25, Seite 56ff.)
Karl Ove Knausgard eröffnet: Rilke und ich – Der Dichter wurde vor 150 Jahren geboren, im nächsten Jahr ist sein 100. Todestag. Er hat mich mein Leben lang begleitet – und zum Schriftsteller gemacht
Die erste Spalte besteht aus von Knausgard ausgewählten Passagen und Sätzen aus dem Werk Rainer Maria Rilkes. Er kommentiert das mit dem Hinweis:
„Diese Zitate sind kleine Streiflichter in etwas unendlich viel Größerem, Rilkes Werk, und mein Problem ist, dass ich mich stets in seinem Inneren befunden habe wie in einem Wald und nie, kein einziges Mal, versucht habe, es von außen zu sehen, es zu analysieren, es festzuhalten.“
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Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Ein Beitrag zur Theorie der Diktatur
1974 im Oktober begann ich mein Studium an der seinerzeitigen Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abteilung Koblenz (heute: Uni Koblenz). Ich stieß sehr früh auf den Politikwissenschaftler Heino Kaack, der - vollkommen ungewöhnlich und überraschend für den Standort - ein großes DfG-gefördertes Forschungsprojekt nach Koblenz holte: Parteiensystem und Legitimation des Politischen Systems - kurz PALEPS.
Mir persönlich gestattete die Mitarbeit in diesem, bis 1984 in die Forschungs-, Lehr- und Qualifizierungsstruktur der Hochschule integrierten Projekt eine - ich möchte behaupten - lebenslaufbestimmende Weichenstellung. Mir wurde ermöglicht nach dem Ersten Staatsexamen für das Lehramt ein Diplomstudium anzuschließen und schließlich als einer der ersten auf der Grundlage der vor allem von Heino Kaack betriebenen Implementierung einer Promotionsordnung auch zu promovieren (siehe hier und etwas lesbarer hier die in APuZ erschienene Zusammenfassung - zur Veröffentlichung der Dissertation in Langfassung).
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Karl Otto Hondrich - ein Weiser aus dem Abendland
Wie beginnt man die Auseinandersetzung mit einem Text, von dem man die dumpfe Ahnung hat, dass er den eigenen Horizont auf eine Weise weitet, dass sich da noch einmal etwas Originelles, etwas Überraschendes ereignet? Karl Otto Hondrichs Aufsatz: Der genoptimierte Mensch – und sein soziales Erbe umfasst 15 überschaubare Seiten (in: Karl Otto Hondrich, Der Neue Mensch, Suhrkamp, Frankfurt 2001, Seite 163-178). Hondrich, geboren 1937 in Andernach, schreibt ja nicht mehr. Er kann in dieser Welt nicht mehr schreiben. Er ist im Alter von nicht einmal 70 Jahren 2007 gestorben. Beim Lesen des erwähnten Aufsatzes aus dem Jahre 2000 habe ich den Eindruck, dass die vergangenen 25 Jahre mit Blick auf die Genoptimierung uns noch einmal einen enormen Schub von Innovationen beobachten lassen:
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