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Nachwort zu "Papa Anna Bleiben" im Dezember 2010 bzw. im November 2011

                                                                                                              

Das Nachwort in der aktuellen Ausgabe war eigentlich als Vorwort für die Ausgabe des Buches gedacht, die schon Weihnachten 2010 erscheinen sollte. Aber erst – mit einigem zeitlichen Abstand – bieten sich die Lösungen zur endgültigen Fassung und zur Gestaltung an. Dem Wolfgang (Niedecken) geht es Gottseidank auch wieder besser. Zu seiner gesundheitlichen Krise im zeitlichen Kontext des Erscheinens dieses Buches passt die Mahnung von Günter Franzen (siehe weiter unten) an uns alle:

„Es ist später, als ihr denkt!“

Seit Jahren gestatte und vergönne ich meinen Studenten und mir ein Seminar zur „Kommunikation in Grenzsituationen“: „Was passiert, wenn das Unfassbare passiert?“ Sich eine Wachheit für letzte Fragen zu erlauben, gehört heute im B/M-geprägten Hochschulbetrieb zu den Privilegien, die von der Freiheit von Forschung und Lehre (noch) gedeckt werden. Noch kann man sich die Freiheit nehmen, mit Hilfe einer abstrakten Wissenschaft wie der Soziologie systemtheoretischer Prägung, die Grenzen und die Begrenztheit unseres alltäglichen Handelns in der Welt – auch im Sinne unseres alltäglichen Scheiterns – besser zu verstehen und zu begreifen. Seit mehr als 40 Jahren begleitet mich die erste Strophe eines Gedichts von Gottfried Benn

 

Kommt

Kommt, reden wir zusammen
Wer redet ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

 

Miteinander reden im Sinne eines Gesprächs erscheint mir seither als eine der Ur-Formen des Sich-Bildens, auch des Bildens von Gemeinschaft, auf die wir als soziale Wesen doch so existentiell angewiesen sind. Wie begrenzt und gefährdet die Möglichkeiten des Gesprächs allerdings erscheinen, das ist mir erst über Niklas Luhmanns Versuch deutlich geworden, die Frage zu beantworten, was denn Kommunikation sei (Opladen 1995). Und das Gespräch bedient sich zweifelsfrei jener Basisoperation, auf die soziale Systeme unabdingbar angewiesen sind (Niklas Luhmann würde sagen, sie bestehen aus nichts anderem als): Kommunikation!

Er weist in seiner soziologischen Theoriebildung darauf hin, dass es von großer Bedeutung sei, an der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation festzuhalten. Seine Begründung ist simpel und recht einfach nachzuvollziehen. Er geht davon aus, dass die Wahrnehmung zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz bleibe:

„Sie (die Wahrnehmung von etwas) ist innerhalb des kommunikativen Geschehens nicht ohne weiteres anschlussfähig. Man kann das, was ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestätigen und nicht widerlegen, nicht befragen und nicht beantworten. Es bleibt im Bewusstsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewusstsein intransparent.“

Niklas Luhmann beschreibt also im Sinne von Innen (=Bewusstsein) und Außen (=Kommunikation) mit „Bewusstsein“ die „innere“ Seite. Zur „äußeren“ Seite gelangt Niklas Luhmann, indem er deutlich macht, dass eine „interne“ Wahrnehmung natürlich „externer“ Anlass werden kann für eine folgende Kommunikation:

„Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, z.B. nur in Sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schweren Bedingungen.“

 

Das Sichtaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren kommt im Alltag dem gleich, was Peter Sloterdijk im Hinblick auf die Poesie mit Paul Celan feststellt, nämlich, dass sich die Poesie nicht aufzwinge, sondern sich aussetze. Aber weit über die poetische Selbstaussetzung hinaus meint Peter Sloterdijk, dass das Sichaussetzen und Sichhinaushalten in einem ganz allgemeinen Sinne „konstitutive Bewegungen des Menschen sind (Sloterdijk 1988)“. Da im Sinne Niklas Luhmanns „nur die Kommunikation die Kommunikation erreichen und beeinflussen kann“, erweisen sich die gruppeninternen Prozesse als außerordentlich diffizil und störanfällig.

Peter Sloterdijk weist in Band 3 seiner Sphären (2004, S. 404-411) darauf hin, dass insbesondere die erotischen Prozesse in der Gruppe die Grundform des Wettbewerbs vorgeben – „ausgelöst durch die Beobachtung des Strebens anderer nach der Beschaffung von Seins-, Besitz- und Geltungsvorteilen“. Um den Gruppenzusammenhalt nicht permanent zu gefährden, gehört seiner Auffassung nach zur Gruppenweisheit ein Eifersuchtsmanagement, das dreidimensional ansetzt:

„Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll.“

 

Nach der Lektüre von Tinas Bericht aus dem Liebesalltag dürfte relativ schnell klar werden, warum ich meiner Einführung nun noch ein theorieschwangeres Nachwort zur Seite stelle. Neben dem Dank für eine äußerst instruktive Auseinandersetzung mit den liebesgeschuldeten Wendepunkten im Leben, hilft mir Tinas Erzählung den eigenen Mythen und Begrenztheiten noch einmal auf die Spur zu kommen und sie im Sinne Niklas Luhmanns besser einordnen zu können: „Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“

Lange habe ich darüber gerätselt, welche Motive mich umtreiben, dieses Buch mit zu gestalten und ihm zu einer Existenz im sozialen Raum zu verhelfen. Zweifellos ist da einerseits eine Faszination und eine Verblüffung von Anfang an darüber, wie es einer jungen Frau gelingen kann – tief verstrickt in eine romantische Liebesgeschichte, sozusagen just in time – nicht nur amüsant und sprachmächtig, sondern gleichermaßen distanziert bis selbstironisch und mit viel Humor gewürzt ein außerordentliches Lesevergnügen zu kreieren.

Mit fremdem Blick, mit dem distanzierten Blick jemandes, der die romantische Liebe ebenso wie das verstrickende Dreieck kennen gelernt und der Liebesglück und Liebesnot erlebt hat, wendet sich die Perspektive und findet Anschluss an die Mohnfrau (Koblenz 2010), die mit einem Zuruf von Karl Otto Hondrich und seiner gleichzeitigen (selbst)kritischen Relativierung beginnt:

„Wenigstens den nachfolgenden Generationen und eigenen Kindern möchte ich manchmal zurufen: Ihr habt doch eure Entscheidungsfreiheit als Individuen. Also nützt sie auch. Macht endlich Schluß mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder, macht es besser als eure Eltern, rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus (2004, 166)!“

 

Und:   

„Kaum ist der Aufruf, in Gedanken, heraus, bleibt er mir schon im Halse stecken. Nicht nur, daß jeder Rat von Alten an Junge für diese zu früh kommt. Nicht nur, daß ich selbst, wäre ich jünger, ihm vielleicht nicht folgen könnte. Nicht, daß ich mich der Hau-Ruck-Pädagogik schämen würde; sie hat dem verständnisvollen Nicken und Bedauern wenigstens die wütende Klarheit voraus. Aber der Appell selbst beruht auf einer Unklarheit: Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise ‚Ihr schafft es!’ darf deshalb die andere ‚Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!’ nicht fehlen (2004, 166f.).“

 

Tendenziell, aber nicht zur Gänze löst sich die trianguläre Spannung in „Papa Anna Bleiben!“, indem Papa wohl bei Anna (und der Familie) bleibt!? Und vielleicht integriert Tina ja – mit wachsender Distanz zu den Geschehnissen die ganze Geschichte in ihre dann reichere und differenzierte Erfahrungswelt. Schon die mit heißer Nadel aufgezeichneten Erlebnisse offenbaren eine eher verblüffende Reife und Abgeklärtheit, mit der hier auf überaus eindrucksvolle Weise die Wirkungen und Dynamiken beschrieben werden, die beispielsweise mit Dreiecksbeziehungen einhergehen.

Wenn ich aber Tinas Geschichte in einen Zusammenhang rücke mit dem hier angebotenen Hinweis: „Es ist später, als ihr denkt!“ – dann rücke ich selbstverständlich meine eigenen Erfahrungen und Präferenzen als Beobachter in den Mittelpunkt. Und die decken sich unterdessen zweifellos mit dem, was Karl Otto Hondrich in seinem letzten Buch „Weniger sind mehr – Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist“ (Frankfurt 2007) auf der Seite 119 vermerkt:

„Da wir die Ehe heute auf erotischer Liebe bauen, die Liebe aber eine tragische Bindung ist, ist Tragik in Ehe und Familie eingeschlossen. Je mehr wir nach lebenslanger – also immer längerer – Liebe und Leidenschaft verlangen, je mehr wir unsere Ansprüche an Harmonie steigern, desto sicherer sind Scheitern und Scheidung vorprogrammiert.“

Mit diesem Hinweis nimmt nur einer von vielen argumentativen Mosaiksteinen Gestalt an, die Karl Otto Hondrich zur Relativierung des oben erwähnten Zurufs an die nachfolgenden Generationen und die eigenen Kinder veranlassen. Was uns möglicherweise dennoch im besten Sinne des Wortes zur Besinnung bringt, sind zwei weitere Aspekte, die er anspricht: Einerseits regt Hondrich trennungswillige Paare an, darüber nachzudenken, ob sie die bestehende Bindung „auf dem Altar einer kollektiven Vorstellung von Harmonie und Liebe“ zu opfern bereit sind und ein „kollektives Liebesideal“ über die „individuelle Liebesbindung“ obsiegen lassen. Dies gilt es seiner Auffassung nach erst recht zu bedenken, wenn aus einer Liebesbeziehung Kinder hervorgegangen sind. Es stimmt zwar:

„So vergänglich die Liebe des Paares, so unvergänglich die zwischen Eltern und Kind. Dies ist keine Bindung der freien Wahl, sondern, wenn die Zeugung erst erfolgt ist, eine Schicksalsbindung für beide Generationen (Hondrich 2007, S. 120).“

 

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung trifft, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück (Hondrich 2004, S. 164).“ Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

 

„Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben (Hondrich 2004, S. 164).“

 

Genau in diesem Sinne wird „Papa Anna Bleiben“zu einem grandiosen Lehrstück – ja man darf und man soll angesichts der formprägenden und sprachgewaltigen Verarbeitung von Liebe, Angst oder Trauer – finaler Strömungen, wie Gottfried Benn meint, etwas erwägen können, was unseren Erkenntnis-, Erlebens- und Tätigkeitshorizont erweitert. So sehr auch Streit und Konflikt den Normalfall in Paar- und Familienbeziehungen prägen, so sehr erinnern sich die meisten Menschen an die in der Einführung wachgerufenen Zeiten in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien (siehe Einführung).

Das von David Schnarch (siehe Einführung) in den Vordergrund gerückte Vergnügen spiegelt aber häufig nur die eine Seite der Medaille. Vor allem verstrickende Dreiecksbeziehungen werfen sehr schnell ein gleichermaßen grelles wie schmerzendes Licht auf Beziehungsdynamiken, in denen die freie Wahl und die Schicksalsbindungen, von denen Karl Otto Hondrich spricht, einander ins Gehege kommen. Zeiten des Höhenflugs und der Schmetterlinge im Bauch wechseln häufig mit Abstürzen und zwingen zur Besinnung und zur Klärung.

Den größeren Kontext, in den ich nun ich nun Tinas grandiosen Liebesbericht stellen kann und darf, verdanke ich einem Hinweis, den mir ein guter Freund, Rudi Krawitz, vor einem Jahr zukommen ließ: „Es ist später, als ihr denkt – Ein Gespräch an Allerseelen über den Tod. Mit Dörthe Kaiser, Buchautorin und Witwe des Soziologen Karl-Otto Hondrich, sowie Günter Franzen, Autor, Psychotherapeut und ebenfalls Witwer, sprachen Christiane Hoffmann und Volker Zastrow“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 7.11.2010, Nr. 44, S.2).

Besinnung ist nur in einem größeren Kontext von Wahrnehmung und Reflexion möglich; ein Zustand akuter Verliebtheit, der bio-psycho-soziale Overkill verunmöglicht solches zur Gänze; in diesem Zustand findet das ganze Leben auf einer galaktischen Einbahnstraße in Lichtgeschwindigkeit und ohne Rückspiegel statt. Tina Schneider schreibt mit heißer eigenblutgetränkter Nadel und dennoch – manche mögen dies allein schon für verwerflich und für einen Authentizitätsbruch halten – gelingt es ihr mit Humor, (Selbst)Ironie und analytischer Schärfe immer wieder kühle Umschläge auf fiebernde Stirnen zu legen, emotionale Herzblutattacken werden anschließend mit dem Skalpell der Vernunft gnadenlos und perspektivenreich seziert. Dass beide zur Besinnung kommen und dass Tina ihrem abgestürzten Helden – im Grunde genommen wider Willen und ganz gegen ihre Interessen – diese Besinnung im Angesicht der Mahnung „Es ist später, als ihr denkt“ ermöglicht, dass macht sie gleichermaßen wider Willen zur eigentlichen Heldin der Geschichte.

„Es ist später, als ihr denkt“. In der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ (NG/FH, 1/2/2010, S. 101-104) könnt ihr Günter Franzens „Kurze Geschichte ihres Todes“ lesen. Günter Franzen lässt im Verlauf des „Gesprächs an Allerseelen über den Tod“ die Schwierigkeiten verlauten, die er nach dem Tod seiner Frau vor allem in seiner paartherapeutischen Arbeit empfindet:

„Ich habe ja Jahrzehnte als analytischer Paartherapeut gearbeitet, nun kann ich die Paare nicht mehr hören. Ich würde sie am liebsten ohrfeigen, wenn sie ihre schmutzige Wäsche waschen, oder wenigstens sagen: Es ist später, als ihr denkt.“

 

Selten, eigentlich nie, hat mich ein vierseitiger Bericht so sehr fasziniert, so sehr erschüttert, so lange – stundenlang – frösteln lassen, wie die „Kurze Geschichte ihres Todes“: Wie der „Talmipanzer des narzisstischen Blenders in das Kleid eines Narren“ verwandelt wird; wie der 50jährige doch noch der Gnade „des herbeigesehnten, sehenden Gesichts; offener Augen, die dich umfangen halten mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen“ teilhaftig wird; wie „unter dem Müll vermeintlicher Auswegsfülle, aus den verleugneten und verschütteten Quellen zweier katholischer Kindheiten jenseits verschlissener Liebesschwüre ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit aufsprang, ein ernster Glaube, der dem romantischen Furor und der wechselseitigen physischen Anziehung keinen Abbruch tat“, dies markiert mit den nachfolgenden Auslassungen die Grenzen menschlicher Erfüllung:

 

„Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit. Credo quia absurdum, das heißt, es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach 20-monatiger Adventszeit bestaunten eine nicht mehr ganz junge Frau und ein Mann in fortgeschrittenem Alter das atmende Wunder, das sie selbst hervorbringen durften: Ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein. Ein dankbares Paar, eine Handbreit über den Niederungen des Alltags, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie uneinklagbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott war mit den Liebenden, zehn Jahre oder dreitausendsechshundertfünfzig Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.“

 

Was nun kommt – lest selbst! Das „Es ist später, als ihr denkt“ hat natürlich bei Günter Franzen den realen, brutalen Verlust zur erbarmungswürdigen Grundlage: „Der Engel, der im Auftrag des Herren die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundliche lächelnde Leiter der onkologischen Abteilung.“ Am Ende, ganz am Ende, wo die Verlorenheit allumfassend und unausweichlich ist, wo der Verlust übergroß ist, findet Günter Franzen noch einmal den Weg zu einer Sprache, mit der nicht nur allein der Schmerz Gestalt annimmt, sondern wo um die „Versuchung des Kitsches und der Versöhnung“ ein Blick nach vorne gelingt:

„Ich weiß nicht, ob ich diesen Gefahren entgehe, wenn ich behaupte, dass es nicht der Bindungslose, sondern der Liebende ist, der mit einem Schmerz belohnt wird, der ihn gleichzeitig zu zerbrechen droht. Demnach ist die Trauer der Preis, der dafür zu entrichten ist, Liebe empfinden zu dürfen. Es ist kein Trost, aber ich bin bereit, den Preis für diese einmalige Liebe zu zahlen: Gestern, heute, morgen.“

 

Mag sein, dass ich Tinas Bericht damit zu einseitig vereinnahme, dass ich mit dem mors certa, hora incerta im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument bemühe. Deshalb mach ich es zum Schluss noch einmal etwas versöhnlicher, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass wir alle sterbliche Wesen sind. Aber auch wenn ich Rosemarie Welter-Enderlin das Schlusswort überlasse – auch dieser lange, gediegene Hinweis soll unter dem Gesamtmotto stehen: Es ist später, als ihr denkt! Und er mahnt uns, er ermöglicht uns, die Wendepunkte in unsrem Leben noch einmal (oder unter Umständen) erstmals zu sehen und zu würdigen:

„Die Angst vor dem Neuen bewirkt oft starres Festhalten an bisherigen Vorstellungen, an den sich selber und dem Partner zugeschriebenen Bildern. Selten verändern sich Partner gleichzeitig. Meist wird vorerst nur der eine durch innere und äußere Ereignisse herausgefordert, mit dem Bisherigen unzufrieden zu sein, ohne dass er oder sie genau weiß, was diese Ereignisse bedeuten; Schlafstörungen, die Sucht zuviel zu essen, zu trinken, zu rauchen oder zu arbeiten, die Flucht in Phantasien, Depression oder plötzliche romantische Verliebtheit können solche Zeichen sein. Wenn sie nicht entziffert werden, weil der oder die Betroffene Angst hat vor ihrer Bedeutung, oder wenn der Partner/die Partnerin voll Schreck und Panik festhält am Bisherigen, entstehen oft entsetzliche Polarisierungen: Je mehr sie z.B. versucht, Flügel auszubreiten, eigene Bereiche zu entwickeln, desto mehr verfolgt und bedrängt er sie, desto mehr grenzt sie sich ab…Je mehr er z.B. flieht in Arbeit oder Sucht, desto mehr rackert sie sich damit ab, die ganze Verantwortung für die Familie zu übernehmen, desto abhängiger wird er von der Sucht und sie von der Überverantwortlichkeit. Nicht die Krisen, die in solchen Übergangssituationen auftreten, sind gefährlich. Gefährlich wird es dort, wo einer an den alten Vorstellungen festhält und der andere nicht fähig ist, mit ihm neue auszuhandeln oder einen eigenen Weg zu suchen. Ich meine, dass der Mythos der romantischen Liebe, wonach ein Paar zusammenkommt und fortan glücklich ineinander verschmolzen lebt, eine entsetzliche Form von Zwang darstellt. Er bewirkt, dass normale Übergangskrisen nicht bewältigt werden und dass eine Beziehung einfriert. Wir reden oft vom frohen Ereignis, wenn wir vom kritischen Ereignis reden müssten und signalisieren damit, dass Krisen nicht zu solchen Übergängen gehören dürfen. Heirat, die Geburt eines Kindes, Schuleintritt, Wiederaufnahme der Arbeit durch eine Frau, berufliche Stagnation des Mannes in der Lebensmitte, Tod der Eltern und Ablösung der Kinder, sie alle sind kritische Ereignisse, welche den Entwurf neuer Szenarien nötig machen (Welter-Enderlin 1998, S. 177ff.).“

 

Ich wünsche uns allen, die wir vor solchen Übergängen und Wendepunkten stehen – vor dem Eintritt in den Beruf oder in den Ruhestand, in der Konfrontation mit schmerzlichen Verlusten und in der Beglückung durch freudige Ereignisse, uns allen, die wir vor dem Spiegel unserer Wünsche, Visionen und Obsessionen stehen – die Kraft und den Mut das Leben zu nehmen und es nicht, wie Max Frisch so häufig mit Blick auf sein eigenes Leben meinte, zu verfehlen.

Josef/Justus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   
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