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Andreas Reckwitz II - hier geht es zu Andreas Reckwitz I - Verlust - ein Grundproblem der Moderne

Markus Lanz - 10.7.2025 - Klimawandel

Sechs spätmoderne Verlustschübe (Seite 334-362)

Sieht man sich die gestrige Sendung von Markus Lanz an, gewinnt man den Eindruck, als hätten sich die hier im Vordergrund stehenden soziologischen Analysen von Andreas Reckwitz (Verlust - Ein Grundproblem der Moderne, erste Aufl., Berlin 2024) ins Mitternachtsprogramm des ZDF gepuscht. Andreas Reckwitz übersteigt vermutlich das Sendeformat, das durch Markus Lanz repräsentiert wird, um einige Windungen - obwohl: zu so später Sendezeit wäre das doch einen Versuch wert. Ich möchte an der Stelle betonen, dass insbesondere Boris Palmer in der gestrigen Sendung den Part übernommen hat, ohne den wir in der Tat über das Räsonieren das Handeln vergessen bzw. verpassen würden. Gleichwohl gebe ich die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die Andreas Reckwitz vorlegt, weitgehend kommentarlos wieder, um einmal seriöse Wissenschaftsbefunde in den Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Diskurse und Handlungsoptionen zu stellen:

Verlustschub I: Die Verlierer des liberalen Postindustrialismus

Andreas Reckwitz bezieht sich auf den historisch einschlägig benannten Kontext, der den Übergang von der regulierten Industriegesellschaft zum liberalisierten Postindustrialismus markiert. Er spricht von sogenannten Modernisierungsverlierern. Die damit einhergehenden Verlustformen meinen, Statusverluste, Kontrollverluste, reale und antizipierte Identitätsverluste, relative Deprivation bei gleichzeitig zu beobachtender sozialer Heterogenität von Verlustträgern; in Sonderheit in der Industriearbeiterschaft, in der service class und auch der bislang gutsituierten Mittelklasse:

„Das Schwinden der Industrie, die im 20. Jahrhundert nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial, kulturell und politisch viele Großstadtregionen zwischen Detroit, Manchester, Lille, Lüttich, Duisburg, Eisenhüttenstadt und Lodz prägte, bedeutet den Verlust einer ganzen Kultur von Arbeitern und Arbeiterinnen mit ihrer subjektiven und kollektiven Identität, mit ihren Praktiken, Gemeinschaftsbildungen, Sozialräumen, politischen Organisationsformen – und nicht zuletzt ihrem gesicherten Einkommen und Mittelschichtstatus, den sie nach 1945 erreicht hatten.“ (S. 335f.)

Reckwitz spricht mit Nachtwey von einer Abstiegsgesellschaft mit massenhaften Effekten von sozialer Deklassierung. Die Kohorten der Nachkriegskinder und baby boomer stehen für die Verschiebung, die mit gewandelten Kriterien für wertvolle und erfolgreiche Arbeit im Sinne einer hochqualifizierten Kopfarbeit eingeleitet wird.

„In vielen westlichen Ländern gilt seit den 1980er Jahren nur noch für eine kleine Gruppe der höheren Mittelklasse und der Oberklasse, dass sie an Einkommen und Vermögen absolut hinzugewinnt, während der große Rest der Bevölkerung bestenfalls stagniert.“ (S. 338)

Was wir heute und seit drei Jahrzehnten in zunehmendem Maß  beobachten, beschreibt Reckwitz als ein spätmodernen Marktgeschehen, infolgedessen der Erfolg der Einen den begrenzten Möglichkeiten, den Niederlagen, den akkumulierten Verlusten und schließlich dem Scheitern der Anderen gegenüberstehe, die sich dann ihrerseits auf diesen Märkten als Arbeitssuchende, Wohnungssuchende, Auszubildende, Patienten, Rentner, Anlegerinnen oder Partnersuchende bewegen.

„Diese sozialen Verlusterfahrungen haben politisches Empörungspotential, wenn sie nicht als Ergebnis individuellen Versagens, sondern als unfaire Behandlung trotz erbrachter Leistungen und regelgemäßen Verhaltens erscheinen. Die Kritik lautet dann, dass die Leistungsgesellschaft ihre Versprechen gebrochen habe.“ (S. 340)

Verlustschub II: Klimawandel

Der erste Satz sitzt und an ihm werden sich bereits nüchterne Beobachter allseits registrierter Phänomene auf der einen Seite und Verschwörungstheoretiker auf der anderen Seite scheiden:

„Dass der Klimawandel gegenwärtig einen gesellschaftlichen Verlustschub bedeutet und sich dieser in naher Zukunft weiter intensivieren wird – schlimmstenfalls in drastischen Ausmaß -, ist längst keine originelle Beobachtung mehr.“ (S. 340)

Andreas Reckwitz hat seine Studie 2024 publiziert – drei Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal – vor der zuletzt beobachteten Flutkatastrophe in Texas und so vieler anderer Überflutungs- und Brand-Katastrophen weltweit. Er spricht von Modellen der Klimawissenschaft, die in der Lage sei, erratische Witterungsphänomene wie Starkregen und Hitzewellen in einen übergeordneten Rahmen eines langfristigen Klimawandels einzuordnen.

Viele meiner Verwandten und Bekannten leben bis heute im Ahrtal. Insofern skizziert die folgende Formulierung Reckwitzens für mich ein reales Szenario, das man vermutlich nur dann von sich zu weisen bzw. zu leugnen vermag, wenn man vermeintlich weit ab lebt – möglicherweise privilegiert – und vermeintlich geschützt vor den zunehmenden Auswirkungen eines sich drastisch verändernden Klimas:

„Mit der sich verstärkenden alltäglichen Realität der Folgen des Klimawandels einerseits, der öffentlichen Rezeption der Zukunftsszenarien der Klimawissenschaft andererseits intensivieren sich ab 2010 in den westlichen Gesellschaften entsprechende Verlusterfahrungen und Verlustantizipationen.“ (S. 341)

Diese von Reckwitz angenommene und beobachtete Antizipationsneigung gibt Sinn, ist die Frage realistischerweise eben nicht mehr, ob eine weitere Steigerung der Erderwärmung eintritt, sondern nur noch, wie umfangreich und drastisch sie sich ausnehmen wird. Dazu passt der von Reckwitz eingeführte Begriff einer klimainduzierten Verlustpotenzierung. Darunter werden verschiedene Phänomene subsumiert; Phänomene im Übrigen, die während ich hier schreibe einmal mehr weltweit die Regie führen:

„Zunächst sind sommerliche Hitzewellen zu nennen, die stellenweise eine lebensbedrohlich dauerhaft erhöhte Lufttemperatur sowie langanhaltende Dürrephasen mit sich bringen. Es kommt verstärkt zu Extremwetter wie Starkregen, Unwetter, Tornados, Hurrikanen sowie Flusshochwasser. Es stellen sich großflächige Waldbrände ein. Dadurch, dass der Meeresspiegel steigt, ereignen sich zunehmend Überschwemmungen, und am Ende tritt an den Küsten ein dauerhafter Verlust von Landmassen ein. Infolge der Erderwärmung und der Dürrephasen werden mancherorts bisherige Nutzflächen für die Landwirtschaft untauglich, andernorts sinkt der Ertrag oder wird unberechenbar.“ (S. 341f.)

Hinzu kommen bereits eingetretene, tagtäglich beobachtbare gesundheitliche Beeinträchtigungen. Die drastischen klimatischen Veränderungen führen inzwischen zu direkten oder indirekten Todesfällen; häufig in Kombination mit einer einhergehenden Gefährdung der Dingwelten – namentlich der Zerstörung von Wohnhäusern und Infrastrukturen.

„Ein zentrales Verlustmoment, das in der Zukunft voraussichtlich eine immer stärkere Rolle spielen wird, ist schließlich der Verlust des angestammten Lebensorts: ein Heimatverlust und Zwang zur Migration – sei es durch die Überflutung der Küsten, sei es durch lebensfeindliche Hitze, durch Waldbrandgefahr oder andere Klimafaktoren.“ (S. 342)

Reckwitz gibt einen düsteren Ausblick auf drohende Klimakriege. Entsprechende Entwicklungen haben jetzt schon politische Destabilisierungen zur Folge. Die genannten gesundheitlichen und ökonomischen Polykrisen führten schon jetzt zu klimainduzierten regionalen oder globalen Migrationsbewegungen. Die Frage rückt drängend in den Vordergrund, wie sich noch wirksam und nachhaltig gegen den Verlust langfristiger positiver Zukunftserwartungen intervenieren lässt?


Verlustschub III: Politische Regressionen

Mit Andreas Reckwitz lassen sich zwei Beobachtungen aufeinander beziehen, die einerseits davon sprechen, dass es zu Zügen einer demokratischen Regression kommt, was bedeuten soll, dass die Qualität demokratischer politischer Systeme abnimmt. Zum anderen entspricht dem offenkundig eine Tendenz zur Umwandlung liberal-demokratischer Systeme in autoritäre. Paradox dabei erscheint, dass Menschen, die sozialen Abstieg und Kontrollverlust erleben, bereit sind, diese Erfahrungsqualitäten noch zu potenzieren, indem sie mit autoritären und autokratisch geführten Systemalternativen sympathisieren:

„Mit der Volkrepublik China hat sich eine global einflussreiche Systemalternative positioniert, die sich als autoritärer Antipode zum liberalen Demokratiemodell darstellt. […] Am auffälligsten ist, dass mancherorts die formellen und informellen Regeln der checks and balances zwischen den staatlichen Gewalten, des Schutzes der pluralistischen Öffentlichkeit sowie des fairen Umgangs auch mit dem politischen Gegner abgebaut werden.“ (S. 345)

Andreas Reckwitz kommt zu einer Schlussfolgerung, die ich selbst mit eigenen Beobachtungen ausdrücklich unterstreichen kann. Der Begriff des Politischen wird im Sinne Carl Schmitts in der Tat auf die Freund-Feind-Polarität reduziert; verkürzt gesagt: Carl Schmitt obsiegt in zunehmendem Maß über Immanuel Kant:

„Der liberal-demokratische Domestizierungsprozess, in dessen Folge der Antagonismus zwischen >Freund< und >Feind< in zivile Konfliktsituationen transformiert worden ist, droht so rückgängig gemacht zu werden.“ (S. 345) Die Vorgehensweise Waldimir Putins in der Ukraine ist dafür ein krasses Exempel.

Schaut man auf innenpolitische Prozesse, lässt uns der Vertrauensverlust in die Funktionsfähigkeit der liberalen Demokratie in beträchtlichen Teilen der europäischen und nordamerikanischen Bevölkerung – so Reckwitz - aufschrecken:

„Die Verlusterfahrungen demokratischer Regression, die sich in den 1980er Jahren langsam aufgebaut und seit 2010 an Fahrt aufgenommen haben, sind somit vielschichtig und umfassen verschieden soziale Gruppen.“ (S. 347)

Es ist überdeutlich, dass die von Andreas Reckwitz beschriebenen Verlusterfahrungen in den Verschiebungen von der Industriegesellschaft zu einer postmodernen Dienstleistungsgesellschaft hin zu einer Abstiegsgesellschaft mit massenhaften Effekten von sozialer Deklassierung geführt haben. Die Konsequenzen hieraus treten immer deutlicher und krasser hervor:

„Wenn infolge des Antagonismus zwischen zentristischen und populistischen Kräften die Regierungs- und Steuerungsfähigkeit der liberalen Demokratien abnimmt, bewirkt dies am Ende allerdings potentiell einen weiteren Verlust des Glaubens an die Effektivität dieses Systems.“ (S. 347)


Verlustschub IV: Artikulation historischer Wunden

Von historischen Wunden spricht Andreas Reckwitz, da sich beobachten lasse, dass Gewalterfahrungen zunehmend öffentlich artikuliert werden:

„Kollektive Traumata werden im Rahmen einer kritischen Erinnerungskultur weltweit zum Thema. Der Verlustschub, der sich auf diese Weise ergibt, hat eine besondere Form. Denn anders als bei den Modernisierungsverlierern, beim Klimawandel und bei den politischen Regressionen handelt es sich hier nicht um >neue<, sondern um >alte< Verluste, das heißt um Verlusterfahrungen der Vergangenheit, die in der Regel ihren Ursprung in früheren Phasen der westlichen Moderne haben.“ (S. 348)

Typisch ist gewiss die bis heute anhaltende Thematisierung (seit den 1970er Jahren), die auf den Holocaust zurückgehen: „Er wird so über ein historisches Faktum hinaus zu einem Knotenpunkt europäischer und nordamerikanischer Erinnerungskultur und Trauerarbeit.“ (S. 349) Das kulturelle Gedächtnis differenziert sich auf diese Weise aus, indem die Artikulation kollektiver Wunden sich in sozialen und politischen Bewegungen manifestiert. Andreas Reckwitz betont, dass sehr viel Zeit verstreichen könne, bis die Wunder der Vergangenheit in den sozialen Arenen der Verlustverarbeitung verhandelt würden. Offenkundig braucht es vielfach Abstand, um überhaupt sehen und begreifen zu können, was gesellschaftlich betrauerbar ist (und sein muss). Dies reicht dann unter Umständen bis in die Zeit kolonialer Verbrechen zurück – oder wie gestern (am 11. Juli) zu beobachten – zur Erinnerung an den Völkermord von Sebrenica.

Verlustschub V: Emotionales Selbst und Verlustsensibilisierung

Hier geht es zuvorderst um die Wahrnehmung von Verlusten. Dies ist sowohl als Beobachtung und womöglich auch als Phänomen in seiner Ausprägung neu:

„Aus der spätmodernen Kultur des Subjekts resultiert jedoch eine spezifische Verlustaffinität: Dies ist eine Kultur der Selbstentfaltung, der gesteigerten Erwartungen und er Offenheit gegenüber den Emotionen …] Auf das spätmoderne Subjekt warten zwar  im günstigen Fall gesteigerte Gewinne an Sinnhaftigkeit und Befriedigung, es ist jedoch auch sensibler für seine Verluste, es erlebt Scheitern und negative Erfahrungen in Fällen, in denen man dies in der Vergangenheit weniger gravierend oder womöglich gar nicht wahrgenommen hätte.“ (S. 351) Mir fällt dazu ein: don’t ask – don’t tell

Was uns unterdessen aus der Literatur, vermutlich aber auch aus unserer Alltagskommunikation heraus zumindest vertrauter erscheint, hängt mit Einsichten zusammen – wie Reckwitz meint -, „bestimmte Möglichkeiten des Lebens unwiederbringlich verloren zu haben:

„Eine Kultur, die der Selbstentfaltung des Ichs verpflichtet ist, sensibilisiert sich in besonderer Weise für den Verlust der nichtgelebten Möglichkeiten der jeweiligen Biografie.“ (S. 353)

Seit wann – dies mag sich ein jeder von uns fragen – messen Menschen der Tatsache einen so hohen Wert zu, dass wir von der Einzigartigkeit von Menschen, Dingen oder Orten sprechen?

„Dies bedeutet, dass der Verlust von als singulär wahrgenommenen Menschen, Dingen und Orten als besonders schmerzhaft empfunden werden muss. Eine singularistische Kultur ist damit prädestiniert für den Verlustschmerz.“ (S.354)

Bei manchen Reckwitzschen Annahmen ist man geneigt zuzustimmen, vermutlich in erster Linie, weil man es für sich beansprucht bzw. weil man es gerne so hätte. Er meint, im Zentrum der Selbstverwirklichung befinde sich zwar die Kultivierung positiver Emotionen. Die Kehrseite sei jedoch, dass man auch für negative Emotionen empfänglicher werde. Aber immerhin, so seine These:

„Empathischer als zuvor werden zudem die Verletzungen der anderen nachempfunden.“ Zugleich liefere die therapeutische Kultur der Spätmoderne entscheidende Begriffe, um überhaupt die Subjekte, ihre Beschädigungen, Verletzungen und Verlusterfahrungen auf spezifische Weise beobachten und begreifen zu können. Zum Schlüsselbegriff avanciert hier das Phänomen des Traumas bis hinein in transgenerationale Dimensionen:

„Die eigenen Gefühle zu zeigen und die von anderen zu erkennen, avanciert in der spätmodernen Gesellschaft – im Privatleben, im Beruf und in der Erziehung – zu einer zentralen Kompetenz und zum Ausweis individueller Authentizität.“ (S. 354f.)


Verlustschub VI: Alternde Gesellschaft

Hier befinde ich mich selbst inmitten einer seit Jahren anhaltenden Selbstbeobachtung; einer Selbstbeobachtung, die natürlich nur dann in irgendeiner Weise hilfreich und konstruktiv daherkommen mag, wenn sie in gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken eingebettet ist bzw. ihrer gewahr wird. Und es ist ja offenkundig bis hin zu schmerzenden Beobachtungen:

„Im historischen Vergleich ist die Spätmoderne durch eine besondere demografische Struktur charakterisiert. Es gibt absolut gesehen mehr Menschen in hohem oder sehr hohem Alter als je zuvor, und zugleich ist ihr relativer Bevölkerungsanteil stark angewachsen und wächst weiter.“ (S. 356)

Kleine Randbemerkung: Für uns junge Alte – alle jenseits der 70 (bis auf eine Ausnahme) ist der sich montäglich treffende Kreis der pensionistas ein sprichwörtlicher Beleg für die Tatsache an sich, und natürlich auch für den Anspruch Alter nicht einfach nur hinzunehmen, sondern auch zu gestalten. Dabei kommt dem ein oder anderen durchaus zu Bewusstsein, dass die Patronen, die wir im Gürtel tragen, äußerst begrenzt sind – und vor allem: Dass wir bei ihrer Verwendung nicht nur für uns selbst Verantwortung tragen.

Andreas Reckwitz (Jg. 1970) hat für uns immer auch ein Spiegelchen parat:

„Die entfaltete industrielle Moderne der Trente Glorieuses erweist sich im Rückblick als Höhe- und Wendepunkt einer Jugendlichkeitsgesellschaft.“ (S. 357)

Der Umschlag von der industriellen Moderne zur Spätmoderne stelle sich auch als ein demografischer Bruch heraus, dessen Wirkungen mit zeitlicher Verzögerung deutlich würden:

„Die Geburtenraten sinken in vielen Ländern des Westens seit den späten 1960er Jahren, wohingegen die Lebenserwartung unter anderem aufgrund des medizinischen Fortschritts für große Segmente der Gesellschaft weiter ansteigt. Immer mehr Menschen erreichen inzwischen das neunte oder gar zehnte Lebensjahrzehnt. Die westlichen Gesellschaften werden so zu alternden Gesellschaften.“ (S. 357)

Andreas Reckwitz schreibt nun so, dass ich – und meine Umgebung (incl. der Pensionistas) – genau hinhöre, wobei ich eingestehen muss, dass die Erkenntnisse, die Reckwitz uns offeriert, mir seit langem vertraut sind:

„In unserem Zusammenhang geht es jedoch nicht um Kulturkritik, sondern um die Verluste, die von den Subjekten (das sind wir, Anm. Verf.) im Zuge dieser Entwicklung selbst erfahren werden. Denn eine alternde Gesellschaft ist im besonderen Maße mit körperlicher, psychischer und sozialer Vulnerabilität konfrontiert. Dies gilt für die alten Menschen selbst, für ihr soziales Umfeld und die Institutionen, die mit ihnen zu tun haben. Die alternde Gesellschaft ist also zwangsläufig verlustaffiner als eine junge, die primär mit der Eroberung der Zukunft beschäftigt ist.“ (S.357)

Wir hören die Botschaft wohl gern: "Die Menschen sind gesünder und sie leben länger." Wir sind aber gleichzeitig die Generation, die zum ersten Mal die damit verbundene Verlustparadoxie bewältigen müssen. Reckwitz konstatiert recht erbarmungslos, dass alle Verlustreduktion, alle Verlustrelativierung, alle Verlustinvisibilisierung, also alles Verdrängen und Verschatten die Verlustpotenzierung nicht zum Verschwinden bringen könne, die sich zwangsläufig aus der Alterung ergebe:

"Spätestens das >vierte Lebensalter< ist jedoch eine Phase gesteigerter körperlicher, psychischer und sozialer Vulnerabilität. Dass das Individuum in einem prinzipielle immer schon alternden Körper verankert ist, der zwangsläufig eine Biomorphose durchmacht, welche nach Erreichen des Erwachsenenalters nicht die Richtung eines Fortschritts (an Fähigkeiten usw.), sondern wachsender Fragilität nimmt, lässt spätestens in diesem hohen Altern nicht mehr verdecken." (S. 358)

Reckwitz listet nüchtern die Fakten auf: Zunahme von Erkrankungen - häufig in Häufung (Multimorbidität) - Chronifizierung von Krankheiten, häufig verbunden mit chronischen Schmerzen - Verminderung der kognitiven Fähigkeiten - altersbedingte Abnahme von Mobilität:

"Altwerden in der vierten Lebensphase heißt gebrechlich(er) werden, und mit der Gebrechlichkeit einher gehen weiter typische Verlusterfahrungen: die Einschränkungen der Möglichkeiten des Handelns und des Erlebens; der Tod gleichaltriger (oder sogar jüngerer Freunde und Verwandter, nicht zuletzt des Lebenspartners und damit die Schrumpfung des sozialen Umfeldes; ein Autonomieverlust durch die größer gewordene Abhängigkeit von anderen etwa bei Pflegebedürftigkeit; und schließlich über einen längeren Zeitraum hinweg die Konfrontation mit dem nahen Tod." (S. 359)

Gibt es auch Tröstliches? Andreas Reckwitz räumt ein, es wäre sicherlich zu einfach, den Prozess des Alterns allein unter dem Aspekt seiner Vulnerabilität zu betrachten, also seiner Verletzlichkeit. Das Altern halte Gewinne und Verluste bereit. Aber auch da sollte man sich nichts in die Tasche lügen: "Die Entwicklungspotentiale der Persönlichkeit im Alter betreffen allerdings vor allem den souveränen Umgang mit den erfahrenen Verlusten." Man könne sich an seine Existenz im Hier und Jetzt klammern oder sich im Sinne einer Ego-Transzendenz allmählich von der Welt lösen. In einer alternden Gesellschaft gehe es insofern um eine Verlustkompetenz im Umgang mit Fragilität und Endlichkeit, die von Praktiken des Rückzugs über die Sorge um den fragilen Anderen bis zum Abschiednehmen reiche.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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