Max Frisch - Tagebuch 1946-1949
Übers Tagebuch-Schreiben habe ich mich zuletzt an Maxim Biller gerieben. Mit meiner Ermunterung des NZZ-Redakteurs René Scheu habe ich Biller in die Schranken gewiesen. Heute füge ich ein weiteres gewichtiges Argument hinzu. Hätte beispielsweise Max Frisch kein Tagebuch geschrieben, wäre uns so mancher Lesespaß entgangen - relativierende Aspekte siehe ganz unten). Nehmen wir einmal Basel, Fastnacht 1949:
- wie die bunten, riesenhaften, immer ein wenig wankenden Laternen auf den Marktplatz kommen, aus allen Gassen hört man das Getrommel der Larven, urwaldhaft, ihr Getrommel hat etwas Gestautes, etwas Gestottertes, es zittern die Fensterscheiben und kichern, die Luft ist wie zerrissen von der monotonen Schrille der Pfeifer, und dann sind sie da, Kohorten von übermenschlichen Larven, Vögel Kobolde, Kohlköpfe, immer eine Gruppe, alle mit einer schrägen Pfeife am Mund, so daß die ganze Gruppe immer auch eine gleiche Haltung hat, ungeheuerlich gerade durch das Mehrfache, das Uniforme, der Dämon nicht als Individuum, sondern als Rasse...
Abends auf einem Maskenball.
Das Ganze, seines Ruhmes würdig, erinnert an eine Sitte, die es in China geben soll: einmal im Jahr kommt die ganze Sippe zusammen, setzt sich im Kreis, alle verstopfen sich die Ohren mit Lehm, dann sagen sie einander die Wahrheit, das heißt, sie sagen einander alle Erdenschande, verspotten, verfluchen, verhöhnen einander, bis sie keuchen, jeder gesteht seine Ehebrüche, seine Geschäfte, seine Listen, seine Süchte, seine Ängste, gesteht und schreit, bis er heiser ist - und dann, wenn keiner mehr kann, polken sie den Lehm aus den Ohren, lächeln, verbeugen sich zierlich, begleiten einander nach Hause, laden sich gegenseitig zum Tee und leben wieder ein Jahr zusammen, wie es sich gehört, friedlich, höflich und gesittet... (Erste Auflage, Frankfurt 1985, Seite 301)"
Das ist also ein knappe Seite aus dem Tagebuch Max Frischs - aufgeschrieben 1949; Max Frisch ist 38 Jahre alt. 1975 veröffentlicht er - gewissermaßen bezogen auf einen Teil der zugrundeliegenden Ereignisse just in time - Montauk. Max Frisch ist 64 Jahre alt und beweist, dass es keines Tagebuches bedarf, um die Hosen runter zu lassen. Vielleicht ist es aber nur das Ego eines alternden Mannes - wenn es denn nicht grenzenlose Naivität ist, wenn einer der Großen der Weltliteratur – eben jener Max Frisch – mit über sechzig Jahren seine „poetische Lebensbilanz in Form einer Selbstbefragung: Liebe, Eifersucht, Schuld, Altern…“ mit folgender Einleitung aus Michel Montaignes Essais versieht:
„Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser, es warnt Dich schon beim Eintritt, dass ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates… Ich habe es dem persönlichen Gebrauch meiner Freunde und Angehörigen gewidmet, auf dass sie, wenn sie mich verloren haben, darin einige Züge meiner Lebensart und meiner Gemütsverfassung wiederfinden… Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt… So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches; es ist nicht billig, dass Du Deine Muße auf einen so eitlen und geringfügigen Gegenstand verwendest. / Mit Gott denn, zu Montaigne, am ersten März 1580.“
Montauk – im Klappentext lesen wir:
„Montauk – das ist der indianische Name der Spitze von Long Island. In dieser Abgeschiedenheit verbringt der Erzähler (mit großer autobiografischer Nähe zu Max Frisch) ein Wochenende mit Lynn, einer dreißig Jahre jüngeren Amerikanerin, die er auf einer Lesereise in New York kennengelernt hat. Die Episode dieser Altersliebe wird zum Anlass, vergangene Erfahrungen und verdrängte Gefühle assoziativ Revue passieren zu lassen.“
Ich stelle Max Frisch nur kurz die Frage, ob er sein Leben so geplant hat und ob er je die Idee hatte, etwas davon zu revidieren (2017, 26 Jahre nach dem Tod Max Frischs lässt Volker Schlöndorff Nina Hoss die Hauptrolle in Montauk interpretieren und erweitert den kontingenten Verlauf der Geschichte Max Frischs um eine weitere Facette). Max Frisch selbst gibt interessante Antworten: Das Triviale zuerst: Auf Seite 103 der Spiegel-Edition von Montauk (2006/2007) bemerkt der Max-Frisch-Erzähler lakonisch: „Sein Körper lässt ihn empfinden, dass er im Augenblick da ist. Manchmal fragt er sich beiläufig, was er mit seinen Jahrzehnten eigentlich gemacht hat.“ Was hat er gemacht? Unter den vielen Vermerken mit der Selbstvergewisserung „My Life as a man“ (Philipp Roth entlehnt, der ihm – Max Frisch – die Erstausgabe in New York by the way überreicht) steht auf Seite 88:
„Wenn ich zufällig in einem Konzert-Foyer zum Beispiel, die Mutter meiner Kinder sehe: ihr Gesicht, scheu mit einem Zug von Harm, der schon immer gewesen ist, ein gutes Gesicht, in den späten Jahren sogar offener, aber für immer ein Gesicht voll betroffener Unschuld – bin ich betroffen; ich sehe sie mit Hochachtung und verwundert, dass ich der Vater ihrer drei Kinder geworden bin.“
Max Frisch widmet seinem Schulfreund W. gut 15 Seiten (S. 25- 40) der Referenz mit ernüchterndem Resümee: Er erinnert sich, jenen Freund W. vor Jahren in Zürich zufällig auf der Straße (Limmatquai) „von weitem“ gesehen zu haben. Ob er ihn – Max Frisch – ebenfalls gesehen hat, bleibt offen. Jedenfalls unternimmt Max keine Anstrengungen, jenen Freund zu erreichen, ihm überhaupt zu begegnen. Denn – fragt er sich:
„Was soll W. mit meiner lebenslänglichen Dankesschuld?“ Wir erfahren im Verlauf seiner Erinnerungen, dass jener Freund W. – aus reichem Hause – ihm sein ganzes Studium bezahlt hatte: „Später hat W. mir ein ganzes Studium bezahlt: 16 000 Franken (was damals mehr wert war als heuer) für vier Jahre; also 4000 Franken im Jahr.“ Zehn Seiten später (S. 40) kommt Max zu der Schlussfolgerung: „Die Summe, die mir seinerzeit ein Studium ermöglicht hat, habe ich nie zurückerstattet; es hätte ihn verletzen müssen, denke ich, es hätte seine Generosität sozusagen annulliert. Als ich W. neulich in Zürich erkannt habe, bin ich betroffen gewesen: Bewusstsein von Dankbarkeit, kein Gefühl. Ich habe ihm auch nicht geschrieben, dass ich ihn auf der Straße erkannt habe. Heute interessiert es mich nicht einmal mehr, was W. über unsere lange Geschichte denkt. Das vor allem macht mich betroffen. Ich meine, dass die Freundschaft mit W. für mich ein fundamentales Unheil gewesen ist und dass W. nichts dafür kann. Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn.“
Mit Fulbert Steffensky könnte man anmerken: „Der Mensch ist, weil er sich verdankt.“ Manchmal reicht diese Einsicht – aber in der Regel nicht ohne die handelnde, bekennende Konsequenz aus dieser Einsicht! Sonst droht Unheil! Denn der Mensch ist, weil er sich verdankt. Einsichten begleiten die intime Selbsterforschung Max Frischs fortwährend (S.160):
„Ich bin jetzt älter geworden als mein Vater und weiß, dass die durchschnittliche Lebenserwartung demnächst erreicht ist. Ich will nicht sehr alt werden. Meistens bin ich mit jüngeren Leuten zusammen; in sehe den Unterschied in allem, auch wo sie vielleicht keinen Unterschied sehen können, und manches lässt sich nicht erklären; dann rede ich auch von Arbeitsplänen. Unter anderem weiß ich, dass es sich verbietet, einer jüngeren Frau an diese meine Zukunft binden zu wollen.“
Der letzte Nachmittag mit Lynn – in Montauk – klingt mit folgenden Sätzen aus (S. 162):
„Wir mussten jetzt nur noch den genauen Ort finden, wo man sich trennt, und auf den Verkehr achten; wir nahmen uns an der Hand, als wir die Avenue zu überqueren hatten, und liefen. FIRST AVE / 46TH STREET, das war der Punkt offenkundig, wir sagten: By, kusslos, dann ein zweites Mal mit erhobener Hand: HI. Nach einigen Schritten ging ich an die Ecke zurück, sah sie, ihre gehende Gestalt; sie drehte sich nicht um, sie blieb stehen, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Straße überqueren konnte.“
Montauk - Tagebuch - Erzählung - Fiktion - Selbstentblößung - Selbstentblödung??? Und das alles 25 Jahre nach dem Morgenstreich in Basel. Aber mir waren und sind bis heute die Chinesen schon immer unheimlich!
Biografie: ein Spiel - Volker Weidermann spricht von einem "genialen Stück: witzig, schnell, böse"; die Geschichte von Professor Kürmann, der am Ende eines verpfuschten Lebens, am Ende einer unglücklichen Ehe, die Möglichkeit erhält, sein Leben noch einmal zu leben:
"Manchmal klingen seine gelangweilten Sorgen wie die eines alternden Schriftstellers [...] Ja, es stimmt. Ein Mann will ein neues Leben haben, aber es weigert sich."
Zu all dem passen die Überlegungen zu einer Theorie der Erinnerung - da müssen wir nicht unser Leben ändern, sondern nur, wie wir darüber denken, wie wir es sehen und erinnern?!
Apropos Tagebuch:
"Das Tagebuch gilt als die für Frisch typische Prosaform. Hiermit ist weder ein privates Tagebuch gemeint, dessen Veröffentlichung der voyeuristischen Befriedigung der Leserschaft dienen würde, noch ein „journal intime“ im Sinne Henri-Frédéric Amiels, sondern vielmehr eine literarisch gestaltete Bewusstseinsschilderung in der Tradition James Joyce’ und Alfred Döblins, die neben der Schilderung realer Fakten Fiktionalität als gleichberechtigtes Mittel der Wahrheitsfindung akzeptiert."
So ist es im Wikipedia-Eintrag zu lesen. Dazu passt im Umkehrschluss (ebenfalls im Wikipedia-Eintrag) - und im Zusammenhang mit Montauk ist es ja kaum zu übersehen:
"Viele zentrale Werke Frischs sind als Skizze bereits im Tagebuch 1946–1949 angelegt, darunter die Dramen Graf Öderland, Andorra, Don Juan und Biedermann und die Brandstifter, aber auch Elemente des Romans Stiller. Gleichzeitig sind die Romane Stiller und Homo faber sowie die Erzählung Montauk als Tagebuch ihres jeweiligen Protagonisten angelegt; Sybille Heidenreich weist darauf hin, dass auch die offene Erzählform des Romans Mein Name sei Gantenbein eng an die Tagebuchform angelehnt ist."