Michael Kleebergs Vaterjahre - mit schönen Grüßen von Jodok
Ja, wo fang ich an? Skurril die Geschichten, skurril Aspekte der Selbstwahrnehmung und der Selbstbeobachtung! Ja, wo fang ich an? Des Nachts liegt der ältere Mann zwischendurch – in der Regel nach dem Pinkeln – wach und sinniert. Gestern Nacht unter dem Einfluss der Lektüre von Michael Kleebergs Vaterjahre (München 2017) - hier Seite 389 bis 416. Kleeberg, sprachgewaltiger und sprachvirtuoser Erzähler der Welten Karlmann Renns (Charly), schildert auf den angegebenen Seiten Leben, Niedergang und Ableben des Jobst Rathjen. Obwohl die Frage erlaubt sein muss, ob diese 27 Seiten ein gleichwohl virtuoses Erzählwerk nicht ungebührlich aufblähen – dieser Eindruck stellt sich an so manch selbstverliebt daherkommenden Passagen ein –, gewinnt auch diese Sequenz in ihrer Geschlossenheit für sich genommen eine gewisse Eigenmächtigkeit, Plausibilität und Faszination.
Geht es doch um nichts Geringeres als die Schilderung eines komplexen, wechselwirksamen Bedingungsgefüges, an dem sich erkennen lässt, warum ein Leben möglicherweise so unfassbar misslingt und scheitert – und mit dem allzu frühen Tod des Protagonisten endet:
„Man fand die Leiche hinter einer Hecke abseits der Straße, nur zwei Meter entfernt von der Bank, auf der die Flaschen standen – zwei Flachen Nordhäuser Korn. Wahrscheinlich hat er sich, voll alkoholisiert und von Müdigkeit übermannt, nicht auf der Bank halten können und sich hinter der Hecke ins Gras gelegt …] In der Nacht vom Samstag, 28. Oktober, auf Sonntag, 29. Oktober, gab es den ersten signifikanten Nachtfrost des Jahres, etwas minus vier Grad in Bodennähe. Das ist nicht viel, aber es reicht. Der Todeszeitpunkt durch Atemstillstand aufgrund von Unterkühlung des in tiefem Alkoholrausch Schlafenden wurde auf zwischen 4 und 5 Uhr morgens geschätzt. Dank der Umstellung von Sommer- auf Winterzeit hatte er eine Stunde länger, um zu sterben. Gegen zehn fand ihn ein Jogger, der die Polizei alarmierte […] Jobsts Ende, das bestätigen einem alle Ärzte, die man fragt, gilt als eine der schmerzlosesten Todesarten überhaupt (Seite 416).“
Jobst gehört mit Kai zu Charlys (Karlmann Renns) Jugendfreunden. Michael Kleebergs Vaterjahre sind gewiss überaus lesenswert. Eine unausweichliche Konsequenz aus dem Verlauf von Lebensläufen sind ihre (eklatanten) Unterschiede. Kleeberg verfügt über die Gabe, solchen Unterschieden eine humorvolle bis ironische Färbung zu verleihen, ohne die fatal(istisch)e und tragische Beikost auszublenden. Jobst, der Looser, auf der einen Seite und Kai bzw. Charly, bei denen berufliche Karriere und Verspießerung sich zu einer larmoyanten Melange verdichten, auf der anderen Seite. Der Erzähler – Charly – ist mit Anfang vierzig in den besten Jahren.
Das kann ich - den Einundsiebzigsten vor Augen - nicht behaupten. Entziffert man nächtliche Einschlafphantasien und entschlüsselt die dahinter stehenden lebenslaufbezogenen Erinnerungs- und Traumdynamiken, dann reicht unter Umständen allein der Name Jobst aus, um im Einschlafen zwiespältigste Erinnerungen wachzurufen. Bei Kleeberg heißt der Freund Rathjen mit Vorname Jobst. Mir ging nach der Lektüre mein Freund Bernd Jobst nicht mehr aus dem Kopf – vielleicht weil man ihn – ähnlich wie Jobst Rathjen – mit einer Überdosis Heroin 1995 leblos auf einem Schrottplatz seiner/meiner Heimatstadt gefunden hat. Was Michael Kleeberg auf den indizierten Seiten 389 – 416 an knapper, gleichwohl ungemein eindrücklicher Lebenslaufdynamik und –tragik entfaltet, könnte man mit Blick auf meinen Freund Bernd Jobst gewiss potenzieren zu einer Leidensgeschichte, in der sich gleichermaßen die Unfähigkeit erwachsen zu werden, eine mütterliche Neigung zur Überbehütung und Verwöhnung auf der einen Seite und väterliches Versagen auf der anderen Seite verbinden zu einer tödlichen Mischung in einem dynamisierten, aus den Fugen geratenen gesellschaftlichen Umfeld.
Dann gerätst du also für eine Weile in einen Dämmerzustand, der, ganz anders als ein analoger Lesevorgang, dem ich mich ja bei Michael Kleeberg unterziehen muss, in einem extrem geschrumpften und verdichteten Zeitfenster Erinnerungslawinen auslöst. Die lassen sich selbstverständlich hier nicht wiedergeben. Lediglich die Parallelen drängen sich bei allen Unterschieden auf: Fünf Nachbarsjungen - Freunde fürs Leben - die gemeinsam losmarschieren, um sich dann in ihren Lebensläufen zu verlieren: 1951, 1952, 1954, 1955 und 1956 geboren, wird lediglich einer alt und älter und verliert alle anderen 1994, 1995, 2010 und 2018. Einer der vier Verlorenen war mein Bruder – Opfer eines vermeidbaren Flugzeugabsturzes. Die beiden anderen Brüder, Peter-Georg und Karl-Heinz, entstammten einer Familie, für die sich im Rückblick eine erschreckende – offenkundig genetisch verbürgte – Disposition zu einem finalen Krankheitsgeschehen offenbart. Nur mein Freund Jopa, Bernd Jobst kämpfte sein 41 Jahre währendes Leben gegen Gott und die Welt und vor allem gegen sich selbst. Jobst wird etymologisch mit Jodok “der Herr” (von keltisch iodoc - der Krieger, der Kämpfer) in Verbindung gebracht.
Wofür kämpft eigentlich unsere Generation? Die in die fünfziger Jahre mit einem unfassbaren Alleinstellungsmerkmal Ausgestatteten; hineingeborenen in eine Wohlstandsgesellschaft, auf deren Boden seit mehr als 75 Jahren kein Krieg mehr stattgefunden hat. Wofür setzen wir uns ein, wofür lohnt es zu kämpfen? Aus der radikalen Haltung gegen eine erneute Unterwanderung der jungen Republik durch neofaschistische und rechtsradikale Bestrebungen, gegen die imperialistische Politik der Supermacht USA entwickelte sich für viele nach und nach eine grundsolide republikanische Grundhaltung, die in Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung die Grundlagen für eine funktionierende Demokratie begreifen sollte.
Das klingt öde und trist genug – zumindest für Charly, der sich mitten im Prozess der Verspießerung sieht. Michael Kleebergs Vaterjahre kann mich/uns eigentlich nur noch mittelbar erreichen. Er hat die 40jährigen im Blick, die mit vollem Karacho in die (stilisierte) Krise in der Lebensmitte hineinrauschen; Großvaterjahre sind weit darüber hinaus und gestatten nolens volens einen gleichermaßen brutal-nüchternen wie rosarot-verschleierten Blick auf den - wenn man so will - an sein Ende gelangenden Prozess der Verspießerung.
Nachdem Charly – vor allem durch die Augen seiner sechsjährigen Tochter Luisa – die Unausweichlichkeit des Todes (eines Familienmitglieds, nämlich des Retrievers Bella) realisiert, beginnt er die große Abrechnung mit der Ungerechtigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens - den Tod Bellas vor Augen:
„Wie verteilen sich wohl Angst und Hoffnung in Lulus kleinem Kinderkörper? Charly fürchtete, dass die Hoffnung weitaus mehr Raum einnahm, dass Hoffnung und Glaube das einzige Pfund waren, mit dem seine Tochter jetzt wucherte. Wuchern würde bis zuletzt, bis der letzte Faden Hoffnung durchtrennt wäre.
Es soll nicht sein! Diesen Anklageruf donnerte sie unüberhörbar dem Schicksal entgegen. Im Stande der Unschuld denkt man noch: Es kann nicht sein! Aber darüber war Luisa mit ihren sechs Jahren hinaus. Sie dachte schon: Es soll nicht sein!
Und heute Abend würde die Kraft, die dieses Stoßgebet, diesen Befehl, diese ethische Grundforderung aussandte, an den Klippen der Realität zerschellen.
Eine ungeheure Wut packte Charly, während er ins Auto stieg. Lass deine dreckigen Schweinereien an einem Erwachsenen aus, der sie erträgt und dich anspucken kann, aber nicht an einem Kind!, schrie er lautlos. Was für ein beschissener, mieser, kleiner Betrug, das Leben! Und das Erschütterndste war, so genau, so brottrocken exakt von der vollkommenen Vergeblichkeit dieser Hoffnung zu wissen, die Luisa durch den heutigen Tag tragen würde (Seite 419).“
Ich gelange nun in einem parforce-Ritt ohnegleichen mit Michael Kleeberg hinein in Phantasien, die gleichermaßen absurd und realitätsfern genug sind, und zumindest einem Siebzigjährigen (oder meinetwegen noch älteren, möglicherweise noch verspießerteren Mitmännern) keinen Sinn zu vermitteln vermögen. Auf dem Weg in sein Büro – im Chile-Haus in Hamburg – begegnen ihm im Parterre in einer Galerie zwei Fotografien; sie zeigen Jochen Rindt und seine Frau, Nina Rindt (wenige Stunden vor dem Unfalltod Jochen Rindts in Monza).
Knapper Hinweis: Ich teile respektvoll die Einschätzung, dass „Michael Kleeberg die Welt Karlmann Renns mit vielfältigen Stimmen, Klängen und Rhythmen gestaltet. Komik und Tragik, Lakonie und Zärtlichkeit – die sprachschöpferische Lust dieses Romans ist grenzenlos.“ So die Würdigung auf der Rückseite der Taschenbuchausgabe.
Die Apotheose – die maßlose Idealisierung und Entrückung eines frühen Todes –, die Michael Kleeberg auf virtuose Weise nun inszeniert, muss uns gleichermaßen vorkommen, wie eine hilflose Provokation, eine larmoyante Selbstanklage. Die Idiotie eines Live fast – die young wird für einen Augenblick zugelassen (Seite 427ff.), um der Sinnfrage zu entgehen, die sich dann gleichwohl erbarmungslos stellt:
„In Charlys Kopf versammelten sich gefährliche und gefährdete Paare von damals um Nina und Jochen Rindt […] Ihrer aller ahnungslose Gesichter. Der Knochenmann hatte sie von hinten im Tanz umfasst, und sie bemerkten es noch nicht. Nina Rindt auf ihrem Stahlrohrstuhl, wie sie auf das Vorüberrasen des golden-roten Lotus 72 mit ihrem Mann darin wartete, der nie kommen würde. Jochen Rindt, der gierig den Zigarettenrauch inhalierte, aber nicht irgendwann im Bett an Krebs sterben würde, sondern in diesem Augenblick bei lebendigem Leib zerrissen wurde. Mitten im Leben vom Tod umfangen – das erfüllt ihn mit dieser bestürzenden Melancholie, die er sich immer noch nicht erklären konnte. Aber kommt diese Melancholie, fragte er sich weiter, denn aus der eigenen Angst vor frühem Tod oder nicht vielmehr aus der neidvoll-bitteren Erkenntnis, dass sie genau im rechten Moment gestorben waren, jung, unschuldig, schön, im höchsten Augenblick? Hatten all diese Menschen damals in diesen paar mythischen Jahren nicht gerade deshalb das Leben bis zur Neige ausgekostet, weil sie den Tod nicht scheuten und vermieden und sich nicht gegen ihn verbarrikadierten? Hatten sie die Lärmschutzwände gegen den Tod, unsere Konventionen, nicht ganz bewusst eingerissen, um seinen Sound zu spüren? Lebten und liebten sie nicht in diesen Augenblicken außerhalb der drei ehernen Gesetze des Erhalts: Erhalte dein Leben, erhalte dein Geschlecht, erhalte deinen Besitz? In den Dimensionen, die sie betraten, nur noch durch eine feine Membran vom Tod getrennt, da galten diese Gesetze nicht mehr, und es herrschte die Utopie des verschenkten Lebens, der androgynen Freiheit und des vollendeten Kommunismus.
Und dann riss, um den notwendigen Druckausgleich herzustellen, die Membran und der Tod kam gesenkten Kopfes, Hörner voraus, und hielt reiche Ernte und weidete sich am Einfallsreichtum seiner Mittel. Er stieß ihnen Nadeln in die Haut und flutete sie mit Wahnsinn, er penetrierte ihr Fleisch mit stählernen Leitplanken. Er stopfte ihr Erbrochenes in ihre Kehlen und verbrannte sie im Feuer brennenden Benzins, er drückte sie im Swimmingpool unter Wasser, schnitt ihnen die Beine ab, riss ihnen die Luftröhre aus. Sie sahen es kommen und taten nichts dagegen, ließen nicht ab vom Leben, bis es von ihnen abließ […] Es war ihm durchaus eine Verbindung bewusst zwischen der vorweggenommenen Trauer um den Hund und seiner Wut darüber, dass seine Tochter so früh mit dem Tod konfrontiert wurde, und diesen Bildern vom todüberschatteten, intensiven Leben im Rennsport. Was er aber nicht erkennen konnte, war, warum in diese Fotos in eine solche morgendliche Identitätskrise stürzten. Und das lag daran, dass man den Boden, auf dem man steht, sich schlecht selbst unter den Füßen wegziehen kann, um ihn sich vors Gesicht zu halten und genau in Augenschein zu nehmen (Seite 427f.).“
Michael Kleeberg zeigt uns Charlys Alternative auf. Die Freiheit des Autors ist offenkundig unermesslich – das Beste am vielstimmigen Chor, den Kleeberg hier zum Schwingen bringt, sind die Obertöne, die einem mit dem Eintritt in das soziografische Alter noch einmal die Gewissheit vermitteln, dass vielleicht nicht alles vergeblich, umsonst und sinnlos war:
„Konfrontiert mit dem Tod, gibt es nur ein Klares Nein oder ein klares Ja, es gibt nur Abwenden, Ablehnung und Verdrängung oder aber eine hysterische Art der Bejahung, die darin besteht, sich dem Unvermeidlichen an die Brust zu werfen, so etwas wie ein Selbstmord aus Liebe zum Leben (Seite 430).“
Auf Charly gemünzt liest sich dies im Anschluss dann so, dass wir Alten wieder zu Atem und zu einer Perspektive gleichermaßen kommen:
„Wie gesagt, entscheiden muss man sich in solchen Momenten, verhalten muss man sich, und hätte Charly beispielsweise, statt die Jochen-Rindt-Ausstellung zu entdecken, auf dem Parkplatz den alten Jessen getroffen (seinen Chef und uneingeschränkten Kapitän auf der Kommandobrücke des Unternehmens, Anm. FJWR), diesen Durchhaltechampion und gegerbten Lebenskapitän, dann wäre das flackernde Bewusstsein bestimmt auf die Seite der Todesverneinung gesprungen, des Stoizismus, der Pragmatik und der Selbstbehauptung (Seite 430).“
Auch wenn ich keine Alternative mehr habe, als dem alten Jessen zu folgen, mag ich es mir zum vorläufigen Schluss der kurzen Kleeberg-Reprise dennoch nicht verkneifen, ihm noch einmal das Wort zu geben. Dem Jahrgang 1959 zugehörig, lässt er seinen Protagonisten noch einmal weit ausholen, um – mehr symbolisch als realitätstauglich – das Schisma zwischen den Todessehnsüchtigen und den Methusalemen noch einmal im Furor desjenigen zu zelebrieren, der nicht zu seinen Worten stehen muss (Arnold Retzer hat uns die zugrunde liegende Botschaft vor Jahren schon ins Stammbuch geschrieben):
„Hohes Gericht, ich bekenne mich schuldig der Selbsterhaltung um jeden Preis. Ich habe mit dem Rauchen aufgehört und trinke nur in Maßen und vögele ausschließlich mit Kondom, ich treibe regelmäßig Sport, der mich fit hält für die Arbeitswelt, ich jogge und gehe zur Vorsorgeuntersuchung, ich bleibe gesund und schlank und fit, damit ich immer älter werde, und, du lieber Gott, wir werden tatsächlich immer älter, wie die Stockfische konservieren wir uns zu sehnigen, gesunden, braungebrannten, aktiven Alten, und wozu? Ja, wozu? Wem ist geholfen mit all diesen vernünftigen Greisen, die sich dann irgendwann ihr angespartes, ungelebtes Leben auszahlen lassen wollen? Was hat die Welt von dieser Halde, dieser die Airports der Tourismuszentren überschwemmenden Zombiearmee gut abgehangener, reparierter, restaurierter, mit teuren Ersatzteilen vollgestopften Leiber, die nun alle nochmal tun wollen, wozu sie vierzig Jahre keinen Mumm hatten? Sind sie ein Zugewinn, und wäre es nur für sich selbst, diese von Bypässen und künstlichen Hüftgelenken und Viagra, Silikon und Botox zusammengehaltenen Untoten? […] Es hat sowas Erbärmliches, Hässliches, Hyänenhaftes, diese Gier nach Überleben und Überdauern, dieses lebenslange Ausweichen, das sich für klug hält statt für feige […] Und zum Schluss vergessen wir den eigenen Namen, werden gefüttert, scheißen wieder in die Hosen und werden im Rollstuhl der erbgierigen Familie vorgeführt […] Wie haben wir uns so betrügen können, zu glauben, alles komme erst noch, doppelt schön und doppelt entspannt für den, der vorzusorgen und zu warten versteht? Die Schönheit der Haut wartet nicht. Nichts kommt mehr, nie mehr dieses Rasen, nur noch die Mumienexistenz einer alten Gesellschaft, eines erstarrten Systems, eines greisen Erdteils (Seite 431f.).“
Mein Freund Jobst – mein Jopa – hat dies nicht nur geahnt. Er konnte dies sehen. Seine Lieblingsgeschichten waren die vom Fänger im Roggen und vor allem die von Jodok (dem Krieger): Jodok lässt grüßen (Peter Bichsel, Kindergeschichten, Darmstadt und Neuwied 1969, Seite 49-55). Er war fasziniert von Peter Bichsels Lügenmärchen, wo der Enkel erzählt:
„Ich war jung und der Großvater sehr alt, er nahm mich auf die Knie und jodokte Jodok die Jodok vom Jodok Jodok – das heißt: ‚Er erzählte mir die Geschichte von Onkel Jodok‘, und ich freute mich sehr über die Geschichte, und alle, die älter waren als ich, aber jünger als mein Großvater, verstanden nichts und wollten nicht, daß er mich auf die Knie nahm, und als er starb weinte ich sehr. Ich habe allen Verwandten gesagt, daß man auf seinen Grabstein nicht Friedrich Glauser, sondern Jodok Jodok schreiben müsse, mein Großvater habe es so gewünscht. Man hörte nicht auf mich, so sehr ich auch weinte.“
Die Moral von der Geschicht: Glaubt den Geschichten nicht. Fragt eher, was sie Euch erzählen wollen, auch wenn kein einzig Wort durch reine Wahrheit hier besticht. Die Geschichte von Charly (Karlmann Renn) ist nicht wahr – so wahr ist sie, wie die Geschichte von Onkel Jodok. Also lasst uns kämpfen um unsere Geschichten, um unsere Wahrheiten, auf dass wir der Idiotie des Live fast – die young etwas entgegensetzen – so wie im Übrigen auch Charly Renn, als er sich losreißt von jeglicher Todessehnsucht als er Schritt für Schritt im Chilehaus Treppe für Treppe in sein Büro aufsteigt:
„Mit jeder Stufe, auf die Charly seine Füße setzte, jeder Berührung des massiven Handlaufs, jedem Blick auf die liebevoll verzierten Kacheln, jedem sanften Leuchten eines messingnen Türknaufs und jedem goldenen Aufschimmern einer meisterhaft getischlerten eichenen Türrahmung erfüllte das Chilehaus ihn mit seinen Widerstandskräften. Gegen den sinnlichen Schmollmund der Rennfahrersgattin setzte es seine spröde und rissige stiff upper lip. Gegen Phrasen wie Better to go off in a blast of light to fade away setzte es die würdige Patina seiner Geschichtlichkeit: Old soldiers never die. Gegen die sterbenssüchtige Erotik setzte es die Gediegenheit seiner im Feuer der Zeit gebrannten Ziegel. Gegen den recibiendo des Todes setzte es seinen messerscharfen Bug, der die Eisschollen der Enttäuschungen und Rückschläge zermalmte und Kurs hielt […] Gegen den Kult der Jugend setzte es die Würde der Runzeln. Gegen die sommerliche Illusion freier Liebe setzte es die Vertrauenswürdigkeit von Handschlagverträgen unter Ehrenmännern. Gegen den Kommunismus der Selbstverschenkung setzte es die abgeklärte Schönheit einer ausgeglichenen Bilanz. Gegen die Anbetung des Endes setzte es das Ethos der Dauer. Gegen die Freiheit der Gesinnung setzte es die Pflicht zur Verantwortung. Und gegen die Ästhetik des Hedonismus setzte es die Ethik der Fürsorge. Der Kapitän geht als Letzter von Bord, raunte die Maatsstimme, er hüpft nicht ins Wasser aus Angst vor dem Sturm. Ja, es ist eine Bürde, aber es ist feige, sich davor zu drücken. Bekümmert bist du? Um ein Recht darauf zu haben, bekümmert zu sein, musst du dich zuerst kümmern, um besorgt sein zu dürfen, musst du erst einmal Sorge getragen haben […] So kam er denn schließlich oben im sechsten Stock vor der Tür zu den Kontoren des Handelshauses Sieveking & Jessen an: einmal kielgeholt und außer Atem, ein begossener Pudel, der sich durchschüttelte, ermannt und aus dem morbiden Zauber- und Trauerbann gerissen, der ihn den ganzen Morgen umsponnen gehalten hatte (Seite 430ff.).“
Kielgeholt, durchgeschüttelt und ermannt. Da hat sich Michael Kleeberg – wie es seinem Alter gebührt - von den Vaterjahren in die Großvaterjahre hineingeschrieben (siehe auch: Großeltern II oder auch F A M I L I E). Chapeau, Herr Kleeberg (und besten Dank, liebe Gisela, für diese Geburtstagsgabe von vor Jahren!)
Und ganz nebenbei: Peter Bichsel lässt den Enkel zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangen, wenn er ihm folgende Schlussrede in den Mund legt:
„Aber leider, leider ist diese Geschichte nicht wahr, und leider war mein Großvater kein Lügner, er ist leider auch nicht alt geworden. Ich war noch sehr klein, als er starb, und ich erinnere mich nur noch daran, wie er einmal sagte: ‚Als Onkel Jodok noch lebte‘, und meine Großmutter, die ich nicht gern gehabt habe, schrie in schroff an: ‚Hör auf mit deinem Jodok‘, und der Großvater wurde ganz still und traurig und entschuldigte sich dann.
Da bekam ich eine große Wut – es war die erste, an die ich mich noch erinnere – und ich rief: ‚Wenn ich einen Onkel Jodok hätte, ich würde von nichts anderem mehr sprechen!‘ Und wenn das mein Großvater getan hätte, wäre vielleicht älter geworden, und ich hätte heute noch einen Großvater, und wir würden uns gut verstehen Seite (54f.).“
Nicht immer ist die Wut ein schlechter Ratgeber - zumindest dann nicht, wenn man nicht in ihr verharrt und stehen bleibt(:-))