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Danke für Hildes Geschichte (14)
Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
In diesem Kapitel habe ich dem lieben Gott ins Handwerk gefuscht und lasse Theo, der 1952 mein Vater werden würde, auf die Bühne treten. Zugegebenermaßen völliger Quatsch. Es gefiel mir aber den galaktischen Wahnsinn, der hier in diesem Kapitel sein Vorspiel findet, noch aufzupeppen. Es war ja faktisch so, dass Hilde (mit ihrer Schwester Annemie) und Theo (mit seiner Schwester Agnes) als Nachbarskinder aufgewachsen sind. Auf dem ersten Foto sind die beiden Elternhäuser im Hintergrund (links das noch halbe Haus der Lahnsteins - die Kreuzstraße 111 und rechts das fast 12 Meter hohe Haus der Familie Witsch - die Kreuzstrße 113) zu erkennen (das Halbprofil - zweiter von rechts - exakt vor seinem Elternhaus zeigt Theo).
Als gesichert kann gelten, dass Franz seinerseits und Hilde ihrerseits mit gesonderten Zügen nach Remagen gefahren sind. Franz hatte dort vor Ort alles organisiert, ein Zimmer gemietet. Hilde ist ihm gefolgt, und bei werden sich um die Mittagszeit getroffen haben. Alles in allem wird hiermit ein Zeitrahmen aufgespannt, der - auf der Fahrt nach Remagen - beim Betreten des Bahnhofs - erst recht beim Verlassen des Bahnhofs - beim Überbrücken der Zeit des Wartens Hilde immer noch die Option offenließ, sich zu entziehen; also wieder zurückzufahren, Franz zumindest auszuweichen, angesichts des Wahnsinns zu kollabieren, in Schreikrämpfe zu verfallen, was auch immer.
Aber Hilde geht schnurstracks ihren Weg; in ihr obsiegen diffuse Zukunftsphantasien, Neugierde, Begierde. Sie befindet sich offenkundig in einem Ausnahmezustand, der alle roten Haltelinien und Stoppschilder zu ignorieren vermag. Wie dünn mag andererseits das Eis gewesen sein, auf dem Hilde geschlafwandelt ist. Mehrfach habe ich schon angedeutet, dass die Art Vorleistung, die Hilde hier zu verkörpern beginnt, letztlich zur Geburt ihrer Tochter, meiner Schwester führt. Und dies auf eine so simple und triviale Weise, dass sich eigentlich alle Mystifizierung verbietet - ist man gesund und engt die Biologie das Zeitfensterchen auf zielsichere Weise so ein, dass sich Empfängnisbereitschaft und Leidenschaft begegnen, dann braucht es eben nicht mehr als diesen einen - diesen einen einzigen - Beischlaf. Ich spreche hier schon bewusst von meiner Schwester, weil - so unwahrscheinlich ihre Zeugung auch erscheinen mag - die Tatsache, dass die beiden Nachbarskinder, Theo und Hilde, am 21. August 1948 heiraten und in der Folge eine Familie gründen würden, sich vollkommen aller Vorstellungskraft entzieht. So lande ich wieder bei dem verehrten Odo Marquard und bin geneigt seiner Grundannahme zu folgen, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind.
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Danke für Hildes Geschichte (13)
Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Gewaltig hallt der letzte Satz im nachstehenden Kapitel heute in mir wider: "Franz und Hilde sahen sich nicht mehr bis zum 9. September." Und mehr noch wird mir selbst heiß und kalt, wenn ich lese, was ich da 2012 aufgeschrieben habe:
"Aber aus dem, was zaghaft und unverhofft, ebenso unwahrscheinlich wie schicksalhaft am 15. August seinen Anfang genommen hatte, und was heute, am 3. September seinen vorläufigen Höhepunkt erfahren würde, aus alledem erwuchs Franz Streit eine Zwickmühle, deren Auswüchse ihn von dem Franz Streit meilenweit unterschieden, der im Wüten der ganzen Welt einfach spurlos verschwunden wäre. Und niemals hätte es jemanden gegeben, der so sehr seine Spuren verfolgt hätte, weil er in der Verkörperung seines Blutes diese Spur aufnehmen würde; die Spur, deren Herkunft und Wurzel für diese Nachgeborene für so viele Jahrzehnte unter dem Staub der Geschichte unwiederbringlich verloren schien. Von alledem wusste Hilde nichts. Der Blutzoll, den sie bezahlen sollte, war so ganz anderer Natur. Er sollte nicht in der Steppe Russlands versickern, sondern er sollte im Herzen eines zarten Mädchens und einer starken Frau weiterfließen, einer Frau, in der – wie in ihren Brüdern – jener Franz Streit weiterleben würde, der 1941 im September nur einen Weg fand aus der ihm gestellten Zwickmühle."
[Heute morgen - am 12. August 2025 - ist meiner Schwester in dieses Herz eine neue Herzklappe implantiert worden. Wir alle drücken ihr die Daumen und hoffen, dass der Blutfluss nun wieder einen ungehinderten Weg finden kann und dass Ullas Herz noch lange schlagen möge.]
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Danke für Hildes Geschichte (11)
- Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Eine Frau, die fortan ihren eigenen Weg gehen würde? Mit dieser Verheißung endet das 11. Kapitel. Dies bedeutete von Anfang an, den Absturz in ein sündhaftes Leben vor Augen zu haben. Die Sünde als Befreiung? Von keiner Euphemie konnte das weiter entfernt sein, was Hilde in den drei Wochen vom 15. August bis zum 9. September 1941 aktiv mitgestaltete. Das bedeutete schlicht sich einer Zerreißprobe auszusetzen, die schon allein einem aufgeklärten Menschlein den Atem nimmt und den Boden unter den Füßen wegreißt. Aber Hilde war kein aufgeklärtes Menschlein, das auch nur annähernd in der Lage gewesen wäre, einer gnadenlosen katholischen Moral etwas entgegenzusetzen. Auch wenn einige von uns noch unter dem Eindruck des machtvollen Eindrucks der Katholischen Kirche mit all ihren Verboten und Geboten stehen, vermögen wir uns gewiss nicht vorzustellen, wie tief und wesensbestimmend im Hause Lahnstein durch den mütterlichen Einfluss alles Katholische den Alltag und die feinstoffliche Atmosphäre bestimmte. Erst angesichts dieser Ausgangslage mag man begreifen, dass sich in den nachstehenden Schilderungen allenfalls der bescheidene und gewiss untaugliche Versuch offenbart, die Nöte und Zerrissenheit Hildes erahnen zu lassen.
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Danke für Hildes Geschichte (12)
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Hier werden wir nun Zeugen der Verstrickungen, die sich gewiss auch 1941 seinsmächtig in die Köpfe und Seelen der Hauptprotagonisten eingruben. Ehemann, Familienvater zu sein - all dies verkörperte sich ja in Franz Streit. Allein die Tatsache, dass - wie Hilde am Ende ihres Lebens bekannte, Franz seine Tochter ein einziges mal in seinen Armen barg - verbürgt, dass hier nicht jemand agierte, der sich nicht nur nahm, was ihm wie eine (un-)reife Frucht zufiel. Franz mögen Gewissensbisse geplagt haben!?
[Ja, ja ich weiß: Jede Repräsentation von Außenwelt ist unabdingbar immer eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation!]
Zumindest kann man sich nicht anders vorstellen, wie - zum Teufel - Franz Streit es 1942 fertig gebracht haben soll, nach Flammersfeld zu gelangen - dies vor allem auch entschieden zu wollen - mit einem offenen Ausgang des Geschehens. Wir kennen den Ausgang des Geschehens. Wir können es bereits an dieser Stelle vorwegnehmen, um den Bogen zu spannen zwischen dem Aufbruch, der Metamorphose, die sich im Spätsommer 1941 vollzogen und dem abrupten Ende im Juni 1942, von wo an sich die Spuren Franz Streits verlieren werden. Nach der Offenbarung Franzens hat Hilde alle Briefe, die wenigen Bilder vernichtet. Im Geburtsregister steht der Vermerk: Vater unbekannt! Erst 60 Jahre später wird Hilde erfahren, was mit Franz geschehen ist.
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Danke für Hildes Geschichte (10)
Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Wie erzählt man eine Geschichte, die wahr ist, und die sich zugleich mehr als siebzig Jahre jeder Chance des Erzählens widersetzte? Eine Geschichte, die - verborgen - allein in der Erinnerung Hildes ihr diffuses, abgeschattetes Dasein fristete, ob als wertvolles und gehütetes Erinnerungsjuwel oder als verdrängte und verfluchte Bedrängnis, das vermag von uns niemand zu erahnen. Die schwierige Beziehung Hildes zu ihrer Tochter, ganz gewiss die Scham und nie endgültig versiegende Schuldgefühle, ein kategorisches Schweigegebot in all den Jahrzehnten bis zu Theos Tod, lassen eher auf die zweite Variante einer Vergangenheitsbewältigung schließen. Andererseits wissen wir alle, wie eigenmächtig Erinnerungen und Gedanken in uns wohnen und sich regen - in Träumen, in unverhofften, ja gefürchteten déja vues. Und viele von uns wissen, wie ein Zustand, den Peter Fuchs mit der Binarität von wir zwei auf der einen Seite und dem Rest der Welt auf der anderen Seite definiert, uns für eine gewisse Zeit bis zur Unkenntlichkeit beherrschen und entstellen kann. Drei Wochen! Das ist weniger als Sie tanzte nur einen Sommer erlaubt (der allerdings mit dem Tod der Hauptprotagonistin Kerstin endet).