Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen (siehe auch: Benedict Wells)
Für meine Patenkinder
Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Peter Sloterdijk öffnet Wege und Dimensionen der (Selbst-)Reflexion, indem er weit über die schlichte Registratur einer (nur) uns Menschen zukommenden Gabe der (Selbst-)Reflexion hinaus deren medialen Resonanzraum gleichermaßen in seiner - teils schmerzhaften - Bedingtheit wie als Möglichkeitsraum betrachtet und auslotet. Er deutet damit auch an, wie sehr sich Begabungen verschenken, verschleudern ans Hadern, ans selbstgerechte Sich-Grämen, statt vorzudringen zu dem was einem jeden von uns geschenkt ist – gleich aus welchen reinen oder verseuchten Wassern wir auch schöpfen mögen. Was damit gemeint sein könnte, hat Gottfried Benn en passent formuliert. Er behauptet Lyrik beispielsweise müsse exorbitant sein oder gar nicht. Das gehöre zu ihrem Wesen:
„Und zu ihrem Wesen gehört auch noch etwas anderes, eine tragische Erfahrung der Dichter an sich selbst: keiner auch der großen Lyriker unserer Zeit hat mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen, die übrigen mögen interessant sein unter dem Gesichtspunkt des Biographischen oder Entwicklungsmäßigen des Autors, aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination sind nur wenige – also um diese sechs Gedichte die dreißig bis fünfzig Jahre Askese, Leiden und Kampf.“ (Probleme der Lyrik, Wiesbaden 1951, Seite 18)
Okay, ich mach da mal ein dickes Fragezeichen. So sehe ich Gottfried Benn nicht – den Meister des Doppellebens. Und so sehe ich auch keinen anderen Lyriker – außer, von den Großen, vielleicht Paul Celan (etwa in der Mitte des Beitrags findet sich ein Verweis auf Paul Celans Sicht der Dinge). Entziehen wir diesem Pathos mit einer kräftigen Realitätsinfusion seine schwülstigen Anteile und kehren zu Peter Sloterdijk zurück. Als noch relativ junger Mann – im Sommersemester 1988 – hatte er die Stiftungsdozentur für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt inne. Unter dem Titel Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen sind diese Vorlesungen im Suhrkamp Verlag 1988 erschienen. Es folgt nun ein langes Zitat, um zu verdeutlichen, was es denn mit den einleitenden Sätzen wohl auf sich hat (a.a.O., Seite 13-17, Hervorhebungen FJWR):
„Meine Damen und Herren, ich spiele gern mit der Vorstellung, daß jeder Mensch eine Silbe verkörpert, ein einmaliges unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zum Wort, zum Text. Jede dieser Silben wäre ausgewachsen und individualisiert zu einer Gestalt, wie sie in keiner zweiten wiederkehrt, so wie man in alten Eichenwäldern des Südens niemals zwei Stämme von gleichem Aussehen findet. Zu dieser Vorstellung der lebenden Silben füge ich die Vorstellung hinzu, daß diese Silben sich selbst nicht lesen können, weil sie kein Organ haben, das der direkten Selbstwahrnehmung dient. Was diesen lebenden und sich selbst verborgenen Silben auf die Spur des eigenen Klanges hilft, wäre die Schrift. Sie ist es, die ihnen ein Medium bietet, sich in einem >äußeren< Material abzubilden, und so entstünde durch viele Schreibversuche und Kombinationen mit Nebensilben hindurch eine Annäherung an die Klanggestalt der sich verborgenen Lebenssilbe […] Ist man eine Silbe, dann dürfte es naheliegen, sich hinzuschreiben, und für eine Silbe, die ihren Klang, ihre Niederschrift, ihre Materialisierung, ihre richtigen Nachbarschaften sucht, ist die Formulierung >sie setzt sich aus< besonders am Platz.
Ich möchte dieses Silbenphantasma nicht überanstrengen. Mir liegt daran, mit seiner Hilfe eine Idee zu wecken, die sich auch auf nichtphantastische Weise zur Klarheit bringen läßt. Individuen sind natürlich keine lebenden Silben, aber doch lebende Stoffe, sie sind atmende Themen, die sich selbst behandeln, manchmal ausführlich, manchmal lakonisch. Aber auch das sagt noch zu wenig. Denn jedes Leben ist auf seine Weise auf dem Sprung zur Sprache – es ist schon erfüllt von Klängen, von Wörtern, von Grundbildern und von Szenen, mit denen es den Text seines alltäglichen Romans ausschreibt. Das Anfangenkönnen, das die literarischen Debütanten bei sich besonders stark erfahren, hat seinen Grund in dem Schonangefangensein eines vorliterarischen Lebenstextes. Von der ersten Zeile des Buches an schreibt dieser sich tastend nieder, er verdeutlicht sich, er amplifiziert und steigert sich, wenn es hochkommt, bis zur allgemeinen Lesbarkeit. Nur weil wir schon mitten in einer Geschichte sind, können wir anfangen, unsere Geschichte zu erzählen. Wir sind, im status quo genommen, alles andere als unbeschriebene Blätter. Vom ersten Atemzug an, ja von den frühesten Stadien der intrauterinen Nacht an, ist jedes Leben schriftempfindlich wie eine Wachstafel – und irritierbar wie der lichtempfindlichste Film. Im nervösen Material werden die unvergeßlichen Charaktere der Individualität eingeritzt. Was wir das Individuum nennen, ist zunächst nur das lebende Pergament, auf dem die Nervenschrift von Sekunde zu Sekunde die Chronik unserer Existenz aufgezeichnet wird. Man kann so weit gehen zu sagen, daß es die schwarz auf weiß gedruckten Bücher gibt, weil Individuen existieren, die ihr neurologisches Buchsein nach außen kehren. Es sind beschriebene Blätter, die eines Tages sich selber umblättern und Schreibende werden.
Ich kann, meine Damen und Herren, für die angesammelten Beschriftungen, die jedem Leben von Anfang zugefügt werden, keinen treffenderen Ausdruck finden als den der Tätowierung. Ich verwende dieses Wort zunächst metaphorisch, ich denke nicht an die Hautbemalungen der Pilger im Mittelalter oder an die der Seeleute, der Exotiker, der Schausteller und der Fetischisten, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert dem Reiz hingaben, unabwaschbare Bilder unter der Haut zu tragen. Was mir vorschwebt, sind die Seelentätowierungen, die uns unsere Grundwörter vorsagen und unsere Grundbilder einbrennen; es sind die Nerventätowierungen, die sich als Sinnverknüpfungen und Erlebnisbahnungen in uns eingestochen haben, es sind die Engramme, die uns Signale für Alarm und Aktion, für Rückzug und Sehnsucht setzen. Von hier aus gesehen war es nicht ausreichend, wenn ich soeben von den beschriebenen Blättern gesprochen habe, aus denen später Blätterschreiber werden. Was schreiben macht, ist nicht irgendeine frühere Programmierung, nicht etwas beliebig Gelerntes. Die Grundwörter der Poesie bilden sich über den existentiellen Tätowierungen, die keine Erziehung ganz bedeckt und keine Konversation ganz verheimlicht. Die Poesie redet von den Brandzeichen der Seele her, von denen unter die Haut gestochenen Charakteren aus. An diese frühen Zeichen ist auch das entwickelte literarische Sprechen gebunden, durch sie sind die Schreiber ins Dasein immatrikuliert. Zwar scheut das gebrannte Kind das Feuer, aber das tätowierte Kind hängt an der Schrift, nein, die Schrift hängt an ihm als ein character indelibilis, untilgbar wie das unauslöschliche Siegel, von dem ein gewisser Taufritus spricht. Für die Schriftsteller gilt darum, in Abwandlung eines psychoanalytischen Mottos, der Satz: wo Tätowierung war, soll Kunst werden, oder: wo Brandmarkung war, soll Sprache entstehen […] Indem ich sprechen lerne, gewinne ich auch Freiheit von den Zeichen, die ich bin. Es gibt wohl keine Literatur ohne urschriftliche Tätowierung, aber die Tätowierungen als solche sind keine Literatur – sie bleiben die monotonen Spuren einer unvergangenen Vergangenheit, die sich beharrlich wiederholen, zeitlos wie das Unbewußte und unbelehrbar wie Instinkte. Doch der später gewonnene oder erkämpfte Abstand von den eingestochenen Grundwörtern sorgt für den Zufluß neuer Zeichen, durch die die Welt herankommt, um sich in frei Gesprochenes zu verwandeln. Je mehr neue Weltzeichen hinzukommen, desto mehr verblaßt auch die alte Nadelschrift, und was wir sagen können, entfernt sich bis zu Unkenntlichkeit von dem, was sich an unserem eigenen Leibe selbst sagt.“
Ich füge an dieser Stelle ein Gedicht ein, das Peter Sloterdijks Idee idealtypisch belegt. Auf Seite 19 (a.a.O.) bemerkt er: "Inzwischen wissen wir, daß Poesie sich aussetzt, weil sie von etwas Zeugnis gibt, dem ihre Sprecher ausgesetzt waren, ehe es bei ihnen zur Selbstaussetzung kam." Die hier mitgeteilte Selbstaussetzung ist am 23. Juli 2003 entstanden. Der Schreiber sitzt am Sterbebett seiner Mutter und weiß sich nicht anders zu helfen, als protokollarisch durch sich hindurchschreiben zu lassen. Die meisten Gedichte aus meiner Feder, die als Nerventätowierungen das Licht des Tages finden bzw. gefunden haben, sind - anders als der Großteil meiner Alltags- und Gebrauchslyrik - nicht erklärbar, weder in ihrer Genese noch in ihrem eruptiven Eigenleben. Versöhnlicher, gleichwohl in Nervenwasser belichtet, zwei weitere Kostproben aus meiner mittleren Schaffensperiode im Anschluss.
Der Sommer, der (k)ein Sommer ist
Du Sommer blendest alle,
glänzt mit übersatter Pracht.
Du Sommer lähmst uns alle,
machst uns traurig,
wo man sonst doch lacht.
Du Sommer zeigst dich ohne Gnade,
jeder Tag bleibt eingebrannt.
Früh schon quälte deine Sonne
reinen, weißen Schnee hinweg,
kein Erbarmen, Fleck für Fleck.
Und du schautest unterkühlt uns zu,
wie wir lernten wieder gehen
und auf eignen Beinen stehen,
beharrlich und mit großer Haltung;
gönnst uns keinen Muttertag.
Schickst uns über Land,
bis ein Haus sich fand,
dort schon fast zu sterben.
Du schickst uns deine Schwüle,
dein eisig Heiß - dein kaltes Blau
- Tag für Tag!
Erst recht in jenem Kessel,
nur am Morgen kühler Tau.
Und wie sehr regt sich die Hoffnung,
wenn die Sonne freundlich scheint.
Und ihr merkt erst sehr viel später,
wie der Mond nachts weint.
Denn er ahnt,
wovor wir dummen Kinder uns verstecken
hinter Rosen und auch Hecken,
dass auch niemand etwas ahnt,
wie Gevatter Tod sich seinen Weg nun bahnt.
Schickt uns erst noch glücklich heim,
alles ist gerichtet.
Und wir mühen uns doch redlich,
das Fest der Freude (79) feiern wir gedämpft,
jeder sieht doch wie sie kämpft.
Nach dem Anstieg kommt die Ebene.
Doch du, du Sommer, bläst nun still und leise zum Finale -
wie wir meinen vor der Zeit.
Blitze leuchten, Donner krachen,
doch die Hitze bleibt,
gnadenlos begleitet sie den Weg,
der steiler nun und steiler geht,
bis er steinig und auch weglos wird.
Und immer neue Schluchten tun sich auf,
bis wir spüren, was das wird
und alles Hoffen geht dahin.
Wir schicken uns hinein, in das Diktat,
dessen Ende schwarze Schleifen hat.
Und schwarze Schleifen,
passen die zu einem Sommer,
der voller Einfalt nichts als blaut?
Ja, sie passen -
aber nur zu dem,
der seine Zukunft
auf die Ahnen baut!
Für diejenigen, die jetzt noch nicht bedient sind, füge ich die erwähnten Kostproben mit einer weiteren Hommage an Peter Sloterdijk an:
Totensonntag - grauschattierte Impressionen mit Peter Sloterdijk und Wolf Biermann
Fraglos Grau: Die Kraft und Konzentration der Lyrik – alle Buntheit mündet in einer Verdichtung zu einem endlos gestuften Grau
Fraglos
Immer wenn die Welt sich offenbart,
Dann werde ich ganz still,
Weil meine Spur, die zielbestimmte Fahrt
Sich wendet und sich ändern will.
Immer wenn sich Größe zeigt,
Verwandle ich mich leise.
Wenn sich ein Irren hin zum Ende neigt,
Werd ich – trotz blinder Flecken – manchmal weise.
Wenn leise Klänge sich verdichten
Und großer Klang entsteht,
Wenn Fragen sich in Fragen lichten,
Ein Hauch von Weisheit uns umweht,
Wenn Farben sich vermischen,
Und Buntheit sich in G r a u ergeht,
Wenn aller Hochmut dann verblichen,
Am Horizont ein Hoffen steht,
Dann geh ich auf die Reise
Und frage nicht mehr viel.
Ich wandle einfach still und leise,
mit sanfter Kraft – auch ohne Ziel!
Was ich schon immer wusste, was jetzt auch Peter Sloterdijk weiß: Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre, Berlin 2022
„Das Gleichgültige, das Trostlose, das Ungefähre, das Ungewisse, das Unentschiedene, das Unbestimmte, das in die Länge Gezogene, das Immergleiche, das Eindimensionale, das Tendenzlose, das Irrelevante, das Amorphe, das Nichtssagende, das Bedeckte, das Nebelhafte, das Monotone, das Zweifelhafte, das Mehrdeutige, das leicht Widerwärtige, das in ferner Vorzeit Versunkene, das von Spinnweben Bedeckte, das Aschenfarbige, das Archivarische, das Novembrige, das Februarische – es ist nicht wenig, was unter dem gleichen fahlen Segel über die Gewässer der Alltäglichkeit fährt (Peter Sloterdijk, a.a.O., Seite 10).“
Das ist noch nicht der nachhaltige Nährboden für eine Depression! Es reicht auch nicht – wie Peter Sloterdijk schreibt – „dass Alltagsschwere sich ausbreitet und die Empfindung überhand nimmt, das gewöhnliche Spiel der farblichen Valeurs sei außer Kraft gesetzt.“ Sogar dort sind Zweifel angezeigt, wo es jene „Momente gibt, in denen das Grau, als visuelles Datum und Stimmung in seiner Nähe zur Monotonie die Oberhand gewinnt“. Gleichwohl stimme ich ihm zu, wenn er fortführt, dass – wer im existentiellen Tief versinke – „spürt, wie aus chromatischen Kontrasten die Spannung entweicht: Die Kolorite der Dinge ringsum rinnen in einer neutralen All-Farbe, einem empfundenen Dunkelgrau zusammen (a.a.O., Seite 11).“
Der unterdessen 75jährige Peter Sloterdijk kommt im Prolog zu seiner Grau-Studie unter dem Titel Unter fahlem Segel über die Gewässer der Gewöhnlichkeit zu folgendem Resümee:
„Die polychrome Idylle trügt; die zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät. Aus der Summe der Einzelfarben entsteht, wie Experimente zeigen, keine leuchtende Allfarbe, vielmehr ergibt sich ein stumpfes bräunliches Grau (a.a.O., Seite 19).“
Nein, die Regenbogengesellschaft können wir nicht erzwingen. Wir können aber das vielschichtige Grau verteidigen, das den Typus unserer westlichen Demokratie gewiss zur besten aller Welten geraten ließ/lässt, die jemals auf dieser Erde Gestalt angenommen hat:
„Grau ist der maßgebliche Farbwert der Gegenwart. In tausend Stufen deklinierbar, erschreckt diese Farbe die Betrachter nicht mehr wie vormals die weiße Dämonie, doch besitzt sie auch nicht die mobilisierende Kraft, die dem Roten und Schwarzen in den Tagen ihrer hohen Attraktorstärke zukam […] Keine Politik der Pigmente wird Graues aus seiner Lethargie reißen, wenn sie auch neugrüne und altrote Kokarden aufsteckt. Jenseits von Gefallen und Mißfallen gibt Grau den Zeitgenossen unserer Tage die farblos Allfarbe der entfremdeten Freiheit zu sehen (a.a.O., Seite 20).“
Oder wie Wolf Biermann meint:
„Melancholie ist der Überlebenskampf, den ein kluges Herz wagen muss:
Der Widerspruch zwischen begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung.“
Grenzgänger
Wenn mein Herz zerfließt
Und alles in mir schreit,
Wenn aller Regen fließt
Und Leben wurzelt breit.
Wenn mein Herz vor lauter Freude weit
Und meine Arme voller Liebe breit,
Wenn alle Unterschiede dann zerfließen
Und Phantasien über alle Ziele schießen.
Wenn ja und aber mich erheitern
Und alle Blicke Horizont erweitern,
Wenn Kleinmut meinen Großmut weckt
Und Liebe unsre Wunden leckt,
Wenn es dann läuft,
Und Sonne meine Seele wärmt,
Und wenn mein Selbst in Liebe sich ersäuft,
Vor lauter Wohlsein nur noch schwärmt,
Wenn letzte Tage winken,
Und Frühjahr sich mit Herbst vermischt,
Wenn Hoffnung und Erfüllung ineinander sinken
Und letzter Unterschied sich dann verwischt,
Wenn Buntes sich in G r a u ergeht,
Dann geh ich weg und komme heim
Und ahne jene Grenzen,
Die jenseits bleiben und geheim
Für alle –
vor Gräbern und vor Kränzen.