A.R. Bodenheimer - Verstehen heißt antworten (man sollte den Text von hinten nach vorne lesen)
"Fragen kann krank machen, sagen kann bewahren - selbst wenn der Tod schon vor der Tür steht. Sogar dann, wenn es der nukleare Tod ist, das Ende im atomaren Genozid. - Im Gespräch über diesen treffen wir, es ist nach Tschernobyl, eine Familie an, irgendwo rund um die Erde, und das Kind fragt: 'Was passiert, wenn die Atombombe losgeht?' Dieses Kind hat Eltern, denen Wahrheit die Deutlichkeit der Realität ist, nicht die bewegende Wirkung des Wortes. Und aus dem heraus, was ihnen als Liebe zur Wahrheit gilt, antworten sie ohne weitere Besinnung dem fragenden Kind: 'Dann sind wir alle tot.'
Nur, die Eltern überhoren, dass das Kind sich nichts hat vorstellen können: weder unter den Realitäten noch unter den Bedrohungen dahinter, noch unter dem Text und dem Sinn dieser Antwort. Atomare Bedrohung ist diesem Kind, was der Tod jedem Kind ist, und wenn es fragt, was es mit der Bombe auf sich hat, so fragt es, wie und was es sonst zu fragen gewohnt ist, um zu erkunden, wo seine Eltern sind und wer sie ihm sind. Das Kind will wissen, ob es sich seiner Eltern vergewissern darf. Und darauf kann die Antwort nicht heißen:'Dann sind wir tot', sondern:
'Dann sind wir bei dir.'
Und sich, den Eltern, sagen sie damit: Auch wenn wir zugrunde gehen, es macht einen Unterschied, wie es sein wird, eh wir zugrunde gehen. Das Kind erkundet, was es von den Eltern zu erhoffen hat. Versicherndes und bewegendes Sagen versagt auch nicht vor vernichtender Bedrohung."
Diese Textpassage habe ich Aron Ronald Bodenheimer: Verstehen heißt antworten (Stuttgart 1992, S. 169f.) entnommen.
Karl Otto Hondrich hat - sozusagen als Vermächtnis - die grundlegenden Bedingungen ausgelotet, die mit Blick auf Erziehung und eine damit einhergehende Ausbildung von Urvertrauen und Bindungfähigkeit unverzichtbar erscheinen: All dies bedeutet - wie auch schon bei Theodor W. Adorno zu lesen - in keine Weise eine Garantie, dass sich Menschen im Sinne eines zivilisatorischen Minimums entwickeln.
Die aktuelle Aggression Russlands gegenüber der Ukraine unter Missachtung aller völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Minimalia - die Aussetzung des Rechts und die radikale Propagierung des Rechts als Recht des Stärkeren spaltet auch hierzulande. Einer meiner langjährigsten Freunde in Koblenz vertritt die kompromisslose pazifistische Haltung im Sinne des Anspruchs: "Frieden schaffen ohne Waffen". Meine Haltung hingegen beinhaltet als Kernzsatz, dass wir - schon aus historischer Verantwortung - nicht zuschauen können, wie ein Aggressor in brutalster Manier die Souveränität eines Nachbarstaates bestreitet und sich aus einer Haltung eines überwunden geglaubten postsowjetischen Imperialismus außerhalb des Völkerrechts und gegen die überwiegende Zahl der in der UN zusammengeschlossenen Nationen positioniert.
Aron Ronald Bodenheimer bringt einen neuen Zungenschlag in die Kommunikationstheorie. Mit Niklas Luhmann bleibe ich zunächst bei der These, dass Verstehensleistungen immer nur zu begreifen sind als die Generierung einer Differenz zwischen einer Information und dem Mitteilungscharakter, der zu entziffern ist. Damit verbieten sich einseitige Reklamationen von Deutungshoheiten. Lediglich Konventionen - zum Beispiel das Völkerrecht - vermögen in einem Konflikt Unterscheidungen scharf zu stellen, weil sich die Völker der Welt beispielsweise im kodifizierten Völkerrecht und in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen auf ein - ich nenne es - zivilisatorisches Minimum verständigt haben. Die Infragestellung und Verletzung der Souveränität einer Nation gehört dazu.
Bei den aktuellen Auseinandersetzungen über den richtigen Umgang mit der russischen Aggression (Sanktionen, Unterstützung der Ukraine in welchem Maß und in welcher Hinsicht) sollten wir uns - wie oben angedeutet - vom Anspruch jeglicher Deutungshoheit verabschieden. Noch einmal zu Aron Ronald Bodenheimer:
"Wenn jemand sagt: 'Ich verstehe dich', so reagiert eine jede und jedwelcher mit Abwehr und Unbehagen - und reagiert sinn- und wortgenau, indem, wer so angesprochen wird, ahnt, wie genau diese Aussage das Vorhaben und dessen Vollzug benennt: als Selbstüberhebung, Anmaßung sogar, eines jeden der sich mit einer solchen Wendung einführt oder auch verabschiedet [...] Für solche Gewissheiten ist ja, das ergibt sich aus alledem, Verstehen nie ein reziproker, vielmehr ein einseitiger Prozeß, und ein solcher, der die Rollen bestimmt hat - von seiten dessen, der sich die Gewissheit zutraut, -mutet, dass er, weil verständig, ein Verstehender sei (a.a.O., S. 16)."
Und an anderer Stelle:
"Verstehen heißt antworten, es schafft, durch Zurückgabe der Anrede, deren Verwirklichung. Es beweist sie nicht nur, es ist sie. Durch Antwort wird Anrede erst wirklich. Bleibt die Antwort aus, so geht die Anrede in sich selbst verloren, sie fasert und löst sich auf. Aus diesem Antworten heraus - während er antwortet un vermittels dessen, dass er antwortet, er braucht es sich nicht zu vergegenwärtigen, was geschieht und wie er es tut... er formt und entwickelt aus seinem Antworten heraus geschehensgleich den Akt des Verstehens. Nochmals: Es zeit das Antworten nicht an, dass er verstanden hat, nicht ihm, nicht seinem Partner, niemandem; sein Antworten ist dieses Verstehen und bestätigt es auch (S.13)."
Das könnte spannend werden, wenn wir angesichts der gegenwärtigen Kakophonie und der Verstehensbarrieren versuchen, einen Schritt über diese festgefahrenen Fronten hinauszugelangen. Wenn es so ist, dass - ähnlich wie bei Luhmann - sich der Akt des Verstehens immer geschehensgleich vollzieht, dann ist Verständigung aussichtslos. Die von Bodenheimer weiter oben geschilderten elterlichen Optionen angesichts atomarer Bedrohung finden bei ihm nur deshalb unterschiedliche Resonanz, weil die Eltern-Kind-Beziehung von vorne herein eine zutiefst asymmetrische ist. Hier haben Eltern nur eine Option, wenn sie die Bedürftigkeit ihrer Kinder nicht verfehlen wollen.
Anders bei den Auseinandersetzungen um einen angemessenen Umgang mit der russischen Aggression gegenüber der Ukraine. Sofern ich meine eigene Position hier - entgegen allen Versuchungen eine Deutungshoheit anzustreben - selbstkritisch hinterfragen will, dann bleibt mir nur der Versuch die Haltung eines Beobachters zweiter Ordnung einzunehmen:
Peter Sloterdijk weist darauf hin, dass jene, „die für sich einen höheren Ernst reklamieren, weil sie als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung auftreten“ – in der Regel distanzlos agieren. Eine distanzierte Grundhaltung – eingedenk unvermeidbarer blinder Flecken – fördere hingegen „eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen“. Hier komme zum Tragen, was Niklas Luhmann eine Haltung der Selbst-Desinteressierung nennt. Warum dies so ungemein wichtig ist, wird überdeutlich in der von Peter Sloterdijk vorgenommenen Unterscheidung von Weltbildern erster Ordnung auf der einen Seite und einer Haltung, die den Realitätsglauben als auswechselbare Größe begreift, auf der anderen Seite (hier sprechen wir von einer Beobachterhaltung zweiter Ordnung:
„Denn es geht hier, möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)
Es macht gewiss einen Unterschied aus, der einen Unterschied macht, wenn jemand "als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung" hingeht, den Soveränitätsanspruch eines anderen Landes grundweg bestreitet sich selbst als legitimen Sachwalter einer höheren Ordnung - im konkreten Fall eines postsowjetischen Imperialismus begreift. Der Angegriffene kann dies akzeptieren und damit seine Souveränität preisgeben und sich unter das Joch des Aggressors begeben. Er garantiert damit möglicherweise einen "Frieden ohne Waffen". Der Preis bleibt unkalkulierbar, es sei denn man hat es mit einem Aggressor vom Format Wladimir Putins zu tun, der weder Verträge anerkennt noch den Ergebenheitsgesten des erklärten Feindes Milde entgegenbringt. Er denkt in den von Carl Schmitt zur Staatsraison erklärten Freund-Feind-Kategorien - der Feind ist zu vernichten. Und souverän ist der, der über den Ausnahmezustand bestimmt! Wer dieser Freund-Feind-Logik mit einer radikalen Haltung des Pazifismus begegnet, wird in Rechnung stellen müssen, dass das was er vermeiden will (Gewalt - Tod - Vertreibung - Verknastung - Annektion - Genozid) nun einseitig ins Werk gesetzt wird, weil die Logik, die dem erklärten Recht des Stärkeren folgt, kein Pardon kennt (siehe Sönke Neitzel/Harald Welzer!)
Wer nun auf dem Boden des Völkerrechts argumentiert und damit die Unverletzlichkeit der Grenzen eines Staates betont, die sozusagen die Inkarnation seiner Souveränität bedeutet, kommt möglicherweise zu der Schlussfolgerung, einem Aggressor, der diese völkerrechtlich kodifizierten Regeln missachtet, müsse man mit allen gebotenen Mitteln entgegentreten. Die Mittel der Wahl im zugrundeliegenden Konflikt werden 1. in Sanktionen gegenüber dem Aggressor gesehen und 2. in der Unterstützung des Aggressionsopfers. Diese Unterstützung bezieht die Lieferung von Waffen - auch sogenannter schwerer Waffen mit ein. Sie sollen der Abwehr des Aggressors dienen - Antonio Gutteres (Generalsekretär der UN) hat dies mit der Frage an den russischen Außenminister Lawrow unterstrichen, ob er einen ukrainischen Soldaten auf russischem Boden sehe. Selten - sieht man einmal von der deutschen Aggression Polen gegenüber und dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion ab - waren die Rollen in einem Konflikt eindeutiger verteilt. Gleichwohl müssen diejenigen, die für eine rückhaltlose Unterstützung der Ukraine eintreten, die Folgen ihres Handelns bedenken:
- Eine Konfliktpartei, die der Schmittschen Freund-Feind-Logik folgt, anerkennt keine Regeln und Konventionen, die gemeinhin der Konfliktlösung und dem Handeln in Konflikten Grenzen setzen. Eskalationsperspektiven bleiben unkalkulierbar.
- Die Lieferung von (schweren) Waffen bedeutet selbst schon eine Eskalation. Hier begibt man sich in das Dilemma ständig abwägen zu müssen, ob das eigene Handeln Kosten-Nutzen-Erwägungen (auch in moralischer Hinsicht) standhält.
- Einem radikalen Pazifismus (Frieden schaffen ohne Waffen) gebührt Respekt, der sich darin zeigen muss, dass alle erdenklichen Chancen und Möglichkeiten zu einer Verhandlungslösung genutzt werden - eigene Machtphantasien, wie sie in der größtmöglichen Schwächung und Demütigung des Gegners Ausdruck finden, sind zu ächten.
- Andererseits darf die Gemeinschaft der Völker keinen radialen Rechtsbruch tolerieren, wie er von Russland gegenüber der Ukraine verübt wird. Es gilt das zivilisatorische Minimum zu verteidigen, das eben letztlich auf der strikten Beachtung des kodifizierten Völkerrechts beruht. Auch Russland hat als Mitglied der Vereinten Nationen alle entsprechenden Verträge unterschrieben. Das Selbstverteidigungsrecht eines angegriffenen Landes genießt in jedem Fall höheren Rang als illegitime und per se illegale Übergriffe eines Aggressors gegenüber einem souveränen Staat.
Nur wenn streitende Parteien - und hier meine ich die innenpolitische Auseinandersetzung um die angemessen Haltung der Ukraine und Russland gegenbüer - bereit sind, die Voraussetzungen ihrer Positionen offenzulegen und zu diskutieren, kann man den Prozess der Meinungs- und Willensbildung halbwegs seriös voranbringen.
Kommen wir noch einmal zurück auf Bodenheimer. Was bedeutet es, wenn die Vertreter eines radikalen Pazifismus versuchen, mit der Idee "Frieden schaffen ohne Waffen" auf die Ukrainer einzuwirken? Bodenheimer stellt in den Raum:
"Wenn jemand sagt: 'Ich verstehe dich', so reagiert eine jede und jedwelcher mit Abwehr und Unbehagen - und reagiert sinn- und wortgenau, indem, wer so angesprochen wird, ahnt, wie genau diese Aussage das Vorhaben und dessen Vollzug benennt: als Selbstüberhebung, Anmaßung sogar, eines jeden der sich mit einer solchen Wendung einführt oder auch verabschiedet [...] Für solche Gewissheiten ist ja, das ergibt sich aus alledem, Verstehen nie ein reziproker, vielmehr ein einseitiger Prozess, und ein solcher, der die Rollen bestimmt hat - von seiten dessen, der sich die Gewissheit zutraut, -mutet, dass er, weil verständig, ein Verstehender sei (a.a.O., S. 16)."
Es ist ja möglicherweise nicht nur das Zynismus-Argument, wie es von Olaf Scholz auf der Mai-Kundgebung des DGB den Pazifisten entgegengehalten hat, es ist vielmehr die Erwartung, dass eine angegriffene Nation sich auf dem Altar des Pazifismus opfert, weil eine von außerhalb einwirkende Gruppe den UkrainerInnen faktisch das Recht auf Selbstverteidigung und Widerstand absprechen - zumindest aber ausreden will, weil ein Weltzustand als Fernziel lockt, für den es angesichts der brutalen einseitigen Aggression gegenwärtig leider keine Grundlage gibt. Wer den UkrainerInnen gegenwärtig mit dem Argument entgegentritt, Frieden müsse und könne man nur ohne Waffen schaffen, muss sich gleichzeitig der Logik Putins aussetzen, die ausschließlich und mit aller Konsequenz der Logik Carl Schmitts folgt, die im Weltenkonflikt nur die Kategorie Freund - Feind gelten lässt. Und wer dies nicht einmal bereit ist als Dilemma zu begreifen, macht sich ja nicht nur des Zynismus schuldig, er liefert reale Menschen der Mordmaschine Putins ans Messer. Nicht einmal die drei Affen, die nicht sehen, nicht hören und nicht sprechen kann man als Referenz stehen lassen; nein, es macht eben keinen Unterschied, ob ich im Sessel dem Morden der Nazis zuschaue oder ob ich dem erbarmungslosen Raketenterror des russischen Militärs zuschaue, das wahllos den Tod von Zivilisten nicht nur in Kauf nimmt, sondern offenkundig systematisch betreibt. Nun werden die von mir gemeinten Radikalpazifisten eben auch aufhören der Berichterstattung zu folgen. Um die Widersprüche und Konsequenzen einer radikalpazifistischen Grundhaltung aushalten zu können, muss ich die Augen und die Ohren fest verschließen, damit die Bilder und die Schreie der Opfer nicht bis in meine Wahrnehmung eindringen; eine fatale Klemme, aus der sie nur Putin erlösen kann. Bereits am 12.3.2022 titelte der SPIEGEL: "Kann er noch zurück?" Er muss zurück, um den von ihm begangenen Zivilisationsbruch nicht endgültig und auf ewig mit seinem Namen und mit seinem Handeln verbunden zu sehen.