Unsere Toten? Vor allem auch deshalb, weil mir Maurice Halbwachs nicht aus dem Kopf geht - bei alledem stehe ich noch unter dem Eindruck von Andreas Reckwitz II
Nun liegt mir noch etwas auf der Seele, auf dem Herzen und auch auf der Zunge. Am gestrigen Freitag, den 11.7.2025 hatte unser Pensionistas-Mitglied Many Auer, nein es war gestern unser Dr. Karl-Ludwig Auer, der eine Begehung des jüdischen Friedhofs in Koblenz arrangiert hatte. Mehr als 50 Jahre muss ich in Koblenz leben, um im hohen Alter von 73 Jahren einen Eindruck zu gewinnen von jüdischem Leben in Koblenz. Mir geht es hier nur um einen besonders auffälligen Zusammenhang - und natürlich um den Dank Many gegenüber, der all dies für uns möglich gemacht hat.
Wenn ich das recht verstanden habe, hat uns ein katholisch getaufter, überaus sachkundiger, der jüdischen Gemeinde seit 18 Jahren verbundener Dr. Simonis eingeführt in das jüdische Leben - immerhin über 2 1/2 Stunden. Was mir im Zusammenhang mit der vor wenigen Tagen verlängerten Liegefrist unserer Toten auf dem Friedhof in Bad Neuenahr besonderen Eindruck gemacht hat, ist folgender Umstand: An der Stelle, wo meine Großeltern 1968 und 1970 bestattet worden sind, hat sich ein Familiengrab etabliert. Dort liegen inzwischen: Mein Vater - er ist nur drei Grabreihen weiter nach unten gewandert, meine Mutter, meine Tante und mein Bruder. Wir haben das Grab nun - nachdem die Liegefrist der letzten Verstorbenen, meiner Tante Annemie, abgelaufen war, für weitere 20 Jahre gebucht; in erster Linie, weil meine Schwester und möglicherweise auch meine Cousine Interesse bekundet haben, hier ihre letzte Ruhestätte zu finden. Das kostet in Bad Neuenahr immerhin den stattlichen Betrag von etwas über 2000 Euro.
Auf dem jüdischen Friedhof sieht das vollkommen anders aus: Ein Grab ist ein Grab und bleibt ein Grab - die Ruhestätte des jeweils Bestatteten bis zu seiner seligen Auferstehung bzw. Wiedergeburt. Man kann hier Inschriften finden wie: "Hier ruht unsere liebe Schwester Bertha Mayer - Geb. 22.11.1855 Gest. 12.1.1926 oder: Theodor Wolff - Geb in Kobern 8.7.1883 Gest. in London 25.6.1963 oder: Hier ruht mein lieber Gatte, unser guter Vater Salomon Adler - Geb. 1. Jan. 1858 Gest. 26. Okt. 1926 oder: Hier ruht meine innigsgeliebte Tochter unsere gute Schwester Fräulein Selma Spitz Geb. 12. Febr. 1871 Gest. 11. Dez. 1907. Ich lass es einmal mit diesen Namen bewenden.
Gewiss hat es in den letzten Jahrzehnten verstärkte Bemühungen gegeben - auch mit Hilfe des Internets - Ahnentafeln zu erstellen. Es gibt auch professionelle Unterstützung - Pro Heraldica verspricht Interessierten eine Ahnentafel für sie zu generieren. Mein Neffe hat sich auch einmal daran versucht und kommt recht schnell zu der Auffassung, das sei ein unsinniges Unterfangen. Er bemerkt etwa: "Wenn ich selbst nur bis zu besagtem Heinrich Josten, meinem Urgroßvater vordringe, befinden sich aber bereits auf dessen Ebene, also seinem Halbkreis sieben (1) weitere Urgroßelternteile." Die familientherapeutische Variante, die auch mit Familienaufstellungen arbeitet, zieht genau dort eine Grenze, an der allenfalls relevante intergenerative Einflüsse eine Rolle spielen könnten. Ich zitiere just an dieser Stelle immer den von mir überaus geschätzten Alexander Kluge, der dazu im Interview mit Denis Scheck folgendes verlauten lässt:
"Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen." (Auch darum ist "Hildes Geschichte" entstanden!)"
Randbemerkung: Ich wähle einmal willkürlich einen Link aus, der Aufschlüsse darüber erlaubt, wozu die Wissenschaft heute in der Lage ist, um - sofern man daran ein Interesse hat - abzuklären, inwieweit genetisch nachweisbare Erkrankungsrisiken bestehen. Alexander Kluges Hinweis, dass wir unter der Zahl unserer Urgroßeltern nicht die wären, die wir sind bzw. als die wir in Erscheinung treten, umfasst sicherlich weit mehr als nur genetische Dispositionen zu möglichen Krankheitsrisikten. Verblüffend für mich sind in der näheren Verwandtschaft immer wieder die frappierenden physiognomischen Ähnlichkeiten in der Ahnenlinie. Sie machen mich staunen und stimmen mich bedenklich.
Ich lasse es hierbei bewenden und verweise auf den Beitrag zu Maurice Halbwachs, der auf Seite 229 seiner Überlegungen zum kollektiven Familiengedächtnis einen interessanten Hinweis parat hält:
"Es scheint, daß in einigen primitiven oder alten Gesellschaften jede Familie über eine begrenzte Zahl von Namen als auschließliches Eigentum verfügt, aus der sie die Namen ihrer Mitglieder auszuerwählen hat. So erklärt es sich vielleicht, daß die Griechen die Neigung besaßen, den Enkeln den Namen ihres Großvaters zu geben."
Ich finde es schön, dass mein Enkel zwar nicht meinen Namen trägt, aber den seines Urgroßvaters. Da wo es mir obliegt, nicht nur Namen zu bewahren, sondern aus meiner tiefen Kenntnis und aus meinem wahrhaftigen Empfinden heraus Bilder - lebendige Bilder - zu bewahren derer, die uns vorausgegangen sind, werde ich - solange es mir möglich ist - akribisch meinen Beitrag leisten - diskret und für die Nachwelt gewissermaßen als Vermächtnis.
Danke Many, dass ich meinen 73 Jahre gewachsenen Horizont am vergangenen Freitag erweitern konnte.