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Bernhard Schlinks paar- und alterstherapeutische Hausapotheke - eine Leseermunterung

Kurze Vorbemerkung am 1. Advent: Nun beginnt sie also, die Zeit der Erwartung - Erwartung gerichtet hin auf die Ankunft des Erlösers. Auch der Advent wird vergehen, so wie sich für mich persönlich Gegenwart dynamisiert - kaum zu greifen, kaum auch nur zu reflektieren - als Offenbarung eines Lebensgefühls, das einem vorkommt wie das Reisen in einem Hochgeschwindigkeitszug.

In diesem Hochgeschwindigkeitszug bewege ich mich allerdings in einem seltsamen Zustand von Ruhe und Gelassenheit. Gestern sind wir mit Bekannten zur Heyerberg-Hütte gewandert und haben uns mit einem gehaltvollen Glühwein, mit Blick auf Koblenz, das Mosel- und das Rheintal auf den Advent eingestimmt. Ingrid hat uns einen Adventskalender geschenkt: Lesezauber - Advent mit Rilke 24 Briefe und Gedichte. Zur Einstimmung daraus: Herbsttag - die Erinnerung an R. dabei eindrücklich und ein Stück der Melancholie wachrufend, die mir selbst so vertraut ist:

 

Herr: es ist Zeit.
Der Sommer war sehr groß.
Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat , baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die  Blätter treiben.

 

Das Haus ist fertig. Und ich hause dort mittlerweile gerne. Für mich habe ich Eichendorffs Aphorismus aufgelöst, wonach wir uns alle nach Hause sehnen und doch nicht wissen wohin. Ich bin angekommen auf dem Heyerberg und in mir. Die Corona-Pandemie hat jene Besinnung in mir schon von Beginn an wachgerufen, die einhergeht mit einem Antrieb, für den auch Rainer Maria Rilke die Patenschaft beanspruchen kann. Für solche Exerzitien hat er schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Anstoß gegeben: Du musst dein Leben ändern. Die Anthropologie dazu hat Peter Sloterdijk 100 Jahre später unter gleichnamigem Titel (bei Suhrkamp, Frankfurt 2009) vorgelegt. Im folgenden dient mir die Auseinandersetzung mit Bernhard Schlinks Abschiedsfarben zu entsprechenden Übungen. Seine Geschichten bieten mir einen Spannungsraum an zwischen dem offensiven Appell: Du musst dein Leben ändern und der defensiven Selbstaufforderung: Bring dein Leben in Ordnung - eine nuancen- spannungsreiche Unternehmung!

Euch allen, die heute Adventspost bekommen, eine gesunde, besinnliche und lesereiche Adventszeit.

"Schreiben ist eine Art von Therapie; manchmal frage ich mich, wie all jene, die nicht schreiben, komponieren oder malen, es zuwege bringen, dem Wahnwitz, dem Trübsinn und der panischen Angst, die dem menschlichen Dasein innewohnen, zu entfliehen." Dieses Zitat Grahem Greene's begleitet mich bereits seit der Veröffentlichung meines ersten Gedichtbändchens Das Leben ein Klang.

Erst mit Ende vierzig habe ich das Schreiben als Option für mich wiederentdeckt und habe - neben Lyrik, die mir immer ein Ventil bot - auch alle anderen Formen des Schreibens für mich kultiviert: Komm in den totgesagten Park und schau - Kopfschmerzen und Herzflimmern - Die Mohnfrau - Hildes Geschichte - Kurz vor Schluss sowie mein Blog in all seinen Facetten geben davon ein beredtes Zeugnis. Mich hat aber immer auch schon die gründliche und akribische Auseinandersetzung mit Literatur gereizt. Dem ist folgende Würdigung der Abschiedsfarben von Bernhard Schlink geschuldet:

Zuletzt waren es Bernhard Schlinks Sommerlügen, die einen Vorgeschmack auf letzte drängende Fragen boten, kurz bevor sich alle Türen und Fenster schließen, die zu den bedeutsamen Anderen führen:

"Rede mit mir. Mutter hat einmal erwähnt, dass Du als Student eine Bekehrung erlebt hast. Das muss das wichtigste Ereignis in deinem Leben gewesen sein - wie kannst du es deinen Kindern verschweigen? Willst du nicht, dass wir dich kennen? Dass wir wissen, was für dich wichtig ist und warum? Merkst du nicht, wie weit weg wir von dir sind? Denkst du es war nur der Beruf, der deine Tochter nach San Francisco und deinen Ältesten nach Genf getrieben hat? Wie lange willst du noch warten, bis du mit uns redest? Verstehst du nicht, dass Kinder mehr von ihrem Vater wollen als gemessenes Verhalten und distanziertes Schweigen und eine gelegentliche Auseinandersetzung über irgendwas Politisches, das morgen ohnehin vergessen ist? Du bist zweiundachtzig, und eines Tages bist du tot, und alles, was mir von dir bleibt, ist der Schreibtisch, den ich schon als Kind gemocht habe und von dem die Geschwister schon als Kinder gesagt haben, ich könne ihn einmal haben. Ja, und manchmal werde ich mich dabei ertappen, dass ich sitze, wie du jetzt sitzt, weil ich mit dem Gegenüber so wenig zu tun haben will, wie du jetzt mit mir zu tun haben willst."

Bernhard Schlink schlüpft immer wieder in die Haut von Söhnen, die sich sehnen - nach Anerkennung oder schlicht danach, gesehen zu werden. Es reicht ihm ein schlichtes er, um zu erzählen, was uns alle mehr oder minder bedrängt. Schlink braucht keine Namen, um Alltägliches, gleichwohl Verschwiegenes und Tabuisiertes zu thematisieren. Das obige Zitat aus Johann Sebastian Bach auf Rügen bildet den Höhepunkt eines Vater-Sohn-Konflikts, einer Begegnung, in der sich nichts erfüllt und die Fülle des gemeinsamen Erlebens gleichzeitig die Räume und die Grenzen auch enger blutsverwandtschaftlicher Bindungen aufzeigt. Ganz zu Beginn der kurzen Geschichte stellt er - der Sohn - fest,

"dass ihm beim Happy End eines Films die Tränen kommen wollten" und dass ihm das immer öfter passierte: "In seiner Brust wurde es eng, seine Augen wurden feucht, und bevor er reden konnte, musste er sich räuspern. Aber die Tränen kamen nicht. Dabei hätte er gerne geweint, nicht nur im Kino beim Happy End, sondern auch, wenn ihn die Trauer über des Ende seiner Ehe oder den Tod eines Freundes oder einfach über den Verlust seiner Lebenshoffnungen und -träume überwältigte. Als Kind hatte er sich in den Schlaf geweint - er konnte es nicht mehr."

Immerhin - auf der Rückfahrt von Rügen geschieht, was sich der Sohn verwehrt und was ihm Anlass zu gleichermaßen versöhnlichen wie irritierenden Impulsen gibt:

"Er (der Sohn) wollte eine Bemerkung über seine (des Vaters) Freude an den Texten (der Bach-Kantaten und -Motteten) machen und sah zu seinem Vater. Er saß, wie er immer saß, aufrecht, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme auf die Lehnen gelegt und die Hände von den Lehnen hängend. Ihm liefen die Tränen übers Gesicht. Zuerst konnte er die Augen nicht von seinem weinenden Vater lassen.  Dann fand er sich aufdringlich, wandte sich ab und sah in den Regen. Sah auch sein Vater in den Regen [...] Oder verschwand seinem Vater alles hinter dem Schleier seiner Tränen? [...] Hatten ihn seine Kinder mit ihren Wandlungen,ihren Irrungen und ihrem Aufbegehren so traurig gemacht, dass er sie nicht sehen mochte? 'Schade, dass sie größer werden', hatte sein Vater zu seiner Tochter gesagt, als er ihre zweijährigen Zwillinge bei Mutters siebzigstem Geburtstag kennenlernte. Sie standen unter der Autobahnbrücke, bis das Gewitter vorbei und bis die Musik zu Ende war. Der Vater wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. Dann faltete er das Taschentuch ordentlich zusammen. Er lächelte seinen Sohn an. 'Ich glaube, wir können fahren'."

Mehr ist nicht, mehr wird nicht und ganz im allgemeinen wird es selten mehr bei Bernhard Schlink. Alle bewahren immer die Contenance. Für alles gibt es Lösungen - und seien sie noch so bescheiden; manchmal mag man sie gar nicht als solche bemerken, viel weniger akzeptieren. Ich bin fasziniert und beeindruckt von den Schlinkschen Absonderungen - immer schon und immer mehr. Die Themen sind sinnmächtig, die Sprache rein und klar; kurze prägnante Sätze. Auch für die weltbewegendste, verheerendste Leidenschaft, die abartigsten Situationen und Zufälle gilt die Haltung einer wohltemperierten Beobachtung. Schlink ist ein Zauberer des Beliebigkeitszufälligen, das er häufig genug zu den harten und unausweichlichen Bedingungen, gewissermaßen zu Leitplanken im Erleben und Handeln seiner Protagonisten entfaltet.

Zuletzt erschienen - Abschiedsfarben (wie immer bei Diogenes, Zürich 2020) - soll Bernhard Schlink mir heute dienen als Takt- und Ideengeber. Er lädt dazu ein - als inzwischen 76jähriger - in einer abschiedlichen Perspektive noch einmal all die alltäglichen und all die besonderen Ereignisse im Leben anzuschauen. Es sind gleichermaßen schicksalsmächtige Wendepunkte sowie marginale, kontingente, zufallsabhängige und Zufälle generierende Situationen, Handlungsstränge, die uns konfrontieren mit den trivialen bis unglaublichen Geschichten der Protagonisten in den neun Geschichten, die er uns erzählt. Ich werde die Titel der Geschichten sowie in Klammern Seitenzahlen angeben, wenn ich im folgenden Motive, Überlegungen, Entscheidungen aufgreife, um auch noch einmal eigenen Abgründen nachzuspüren. Wenig jünger als Bernhard Schlink sind mir fast alle Themen vertraut. So kann es geschehen, dass ich einfach in die Haut der Protagonisten schlüpfe bzw. ihre Motive und Entscheidungen durch meine Erfahrungswelt betrachte und bewerte und zuweilen auch weiterspinne. Ist das eine Möglichkeit von Literatur - die eigenen Verfehlungen, Versäumnisse, Unterlassungen oder auch eigene tatkräftige Entscheidungen und das Glück im Leben zu spiegeln in Geschichten, im Erleben anderer, uns fremder Menschen? Immer wieder stehen Schlinks Protagonisten vor einem Scherbenhaufen und fragen sich, was sie hätten anders machen können - Biografie (k)ein Spiel? Immer wieder versperren Sprachlosigkeit, Tabus oder schlicht die Verweigerung der Kommunikation den Weg zu Lösungen oder Veränderungen, die einen Unterschied machen: Der Aufbruch im Sinne des Sloterdijkschen - Du musst Dein Leben ändern! - gerät in Spannung zur schweigsamen Beharrlichkeit eines: Bring Dein Leben in Ordnung!

"Rede mit mir!!!" schreit der Sohn seinem Vater ins Gesicht. "Ich glaube, wir können fahren" abtwortet der Vater. Wir fahren weiter, wie wir immer weiter gefahren sind, weiter gemacht haben. Bernhard Schlinks Geschichten taugen dazu, innezuhalten. Manche Sätze bleiben einem im Halse stecken, weil sie so endgültig, so aussichtslos sind. Es lohnt bei Schlink, erste und letzte Sätze aufmerksam zu lesen. Manchmal - oft - fallen die entscheidenden Sätze schon sehr früh, in den ersten Kapitelchen seiner Geschichten:

Beginnen wir mit Geliebte Tochter (119-150): Eine unglaubliche Geschichte, die die Lust am Fabulieren paart mit der Versuchung, ein zentrales Motiv der Weltliteratur - den Inzest - einmal in einem Happy End enden zu lassen. In dieser Geschichte läuft eigentlich alles gegen die gewohnten Narrative und Perspektiven. Auf der zweiten Seite im ersten Kapitel der Geschichte schreibt Bernhard Schlink einen schlichten Satz auf, der gleichermaßen als tragendes Motiv wie auch als Erfüllung aller Erwartungen dient - und vor allem auch funktioniert: "Wie schnell es gehen kann." Bastian und Theresa finden sich - bei einem Yoga-Wochenende. Um es vorweg zu nehmen: Die eine Hälfte findet die andere, absolut komplementäre Hälfte. Und das bleibt bis zum Schluss genauso und wird auch nicht durch die Geschichte in der Geschichte getrübt oder gebrochen - frei nach BAP: von mir us Kitsch. Theresa und Bastian sind verheiratet, als sie sich im erwähnten Yoga-Kurs begegnen. Theresa hat eine Tochter - Mara. Wie passt das eine zum anderen?

"Sie war ganz anders als seine üppige, entschiedene, bestimmende Frau, und er stellte sich das Zusammensein mit ihr leicht vor." "Sie mochte seine zugleich kraftvollen und ungelenken Bewegungen, seine leuchtenden Augen und das er bei der Vorstellung wenig Worte machte und sich als einer zu erkennen gab, der auf der Suche war. Ihr Mann hatte alles im Griff."

Schlink stilisiert das perfekte Paar: "Ihre Gewissheit, zueinander zu gehören, war nach Jahren so groß wie am Anfang." Im verflixten siebten Jahr heiraten Theresa und Bastian. Alle entwicklungshemmenden Blockaden lösen sich auf. Theresa beendet ihr Medizinstudium und arbeitet endlich in ihrem Wunschberuf. Bastian, der sich damit abgefunden hatte, keine Kinder zu haben, hat auf einmal ein Leben mit Kind. Er hätte sogar gerne mehr Kinder gehabt. Aber endlich war "das Leben so dicht, dass der Wunsch nach einem weiteren Kind zu abstrakten Sehnsucht verblasste. Dann sollte es eben bei Mara bleiben"; Mara, die im übrigen nach anfänglichem Fremdeln der Freude Raum gibt, zwei Väter zu haben, Vati und Bastian. Sie studiert Sonderpädagogik probiert sich aus, bis sie Sylvie findet. Ihr heiß ersehnter Kinderwunsch erfüllt sich trotz aller Bemühungen über Jahre nicht. Vor allem die psychischen Belastungen, den Kinderwunsch per Insemination zu erzwingen, treiben die beiden an eine Belastungsgrenze, an der sie zu zerbrechen drohen. Zu allem Unglück scheitert die eine Schwangerschaft, die gelang, nach wenigen Wochen. Bernhard Schlink schildert die Prozeduren um die künstliche Befruchtung unverblümt und in ihren extremen Belastungen über Monate hinweg - schließlich als unendliche Leidensgeschichte: Und "Theresa sah das Enkelkinderglück, von dem sie geträumt hatte, entschwinden." Bastian, der im übrigen nie versucht, an die Stelle des Vaters zu treten, "blieb immer von ruhiger, nie tadelnder, nie fordernder Präsenz"; ein kluger, besonnener Mann, der auch jetzt, als alle erschöpft sind, abzulenken und aufzumuntern versucht. Allein, es gelingt ihm nicht: Dann die rettende Idee. Es schneit. Bastian telefoniert ins Montafon, wo Mara Skifahren gelernt hat - und bucht zwei Zimmer. Theresa und Sylvie, die noch arbeiten müssen, werden nachkommen. Und dann stehen da Sätze, die so vertraut sind: Mara fährt mit Bastian, ihrem Stiefvater, los. Nach anfänglichem Trotz über Fremdbestimmung meint sie: "Danke. Raus in den Schnee und auf die Ski - etwas Besseres kann mir nicht passieren. Ich war wie gelähmt." Und Bastian erinnert an der ersten gemeinsamen Skiurlaub: "Erst am vierten Tag wolltest du raus, und nach ein paar Tagen bist du gefahren, als seist du mit Ski auf die Welt gekommen." Und Mara antwortet: "Ich weiß noch, wie glücklich ich war. Es war alles nicht einfach gewesen, und endlich war's einfach: weiß und schnell." Sie lacht: "Und jetzt will ich's wieder weiß und schnell."

Was in der Folge geschieht, erschließt sich nur passionierten Skifahrern - schon im fortgeschrittenen Alter, eingenommen vom besonderen Fluidum eines Aufenthalts in den Bergen, die dazu einladen der Welt zu entfliehen und zu vergessen. Bernhard Schlink schildert den Auftakt zu den nun folgenden besonderen Ereignissen schlicht und beiläufig, erzeugt aber dann im Sinne einer Klimax gleichermaßen eine Aura von Selbstverständlichkeit wie von Unfassbarem:

Schon die letzten Kilometer vor der Ankunft sitze ich mit im Auto; und Bastian und Mara sind austauschbar gegen mir vertrautere Menschen. Gebannt höre ich zu, wie Bastian und Schlink die Montafoner Gipfel - vielleicht im Gargellener Tal - erreichen: "Dann kamen die Kurven, in denen sich die Straße zum Tal hochwand, dann das Tal, schneeweiß, sonnenbeschienen. Schon von weitem sah er die Pisten und die Lifte und die Skifahrer und Skifahrerinnen, zum Glück nicht viele. 'Wir sind da, Mara.' Er fasste sie am Arm, sie schlug die Augen auf und lächelte ihn an. Sie fuhren Ski, bis die Lifte abgestellt wurden. Sie lieferten sich kleine Rennen, überraschten einander mit plötzlichem Abschweifen von der Piste, fuhren vor- und hinter- und nebeneinander, als sei's ein Tanz, saßen schwatzend und lachend zusammen im Lift. Als sie sich nach Sauna und Dusche und Anrufen bei Theresa und Sylvie zum Abendessen trafen, waren sie von schwereloser, beschwingter Müdigkeit. Nach dem Bellini trank Mara ein erstes und ein zweites und ein drittes Glas Fendant, kleine Gläser, keine großen, und war aufs Allerliebste beschwipst. Sie redete viel und schnell, erzählte von der Schule, von ihrer und Sylvies Wohnung, vom Pendeln an den Wochenenden, von den Serien, die sie mochte [...] Nach dem Fendant wollte Mara zum Lamm einen Roten und so bestellten sie noch eine Flasche Pino Noir. Später fragte sich Bastian sich, ob gar nicht sie betrunken war, sondern er. Er war durstig und hatte zwar eine Flasche Wasser bestellt, aber den kalten Weißen erfrischend gefunden. Hatte er zuviel davon getrunken? Und auch vom Pinot Noir, einem leichten süffigen Wein aus dem Wallis? Hatte er sich zu oft eingeschenkt? Es war nicht seine Art sich nachzuschenken, wenn er die Gläser der anderen nicht ebenfalls auffüllen konnte. Hatte sie ihm nachgeschenkt? Hatte sie ihn betrunken gemacht?"

In dieser Nacht wird Oskar gezeugt, und Bastian gibt den Startschuss zu seiner künftigen Rolle als Vater und als Großvater in Personalunion. Und der Verweis auf Max Frisch ist müßig. Es geschieht ja kein wirklicher Inzest. Bastian und Mara sind nicht miteinander verwandt. Und vor allem: Mara hält die Zügel in der Hand, und Bastian glaubt im Alkoholnebel, Theresa liege neben ihm - sie sei noch spät in der Nacht mit Sylvie angereist. Erst am Morgen realisiert er zur Gänze, dass Mara sich den Beischlaf erschlichen hat. Ganz am Ende der Geschichte, nach Selbstqual und Recherche kommt Bastian zu folgendem Schluss:

"Manchmal dachte er an Faber, Lot und Joseph. Frisch hatte unrecht, die Tochter muss nicht sterben und der Vater auch nicht. Die Bibel hatte recht behalten; die Töchter können glückliche Mütter werden, und die Nacht mit der falschen Frau kann das Glück mit der richtigen nicht zerstören. Mara war glücklich, und Theresa und er waren glücklich. So oft wird aus etwas Richtigem etwas Falsches. Warum soll nicht ebenso aus etwas Falschem etwas Richtiges werden können?"

Es ist eigentlich die einzige Geschichte, an der ich mich am Schluss gefragt habe: "Mensch, Bernhard Schlink, wovon träumst Du denn nachts?" Es gab schon einmal einen kleinen Oskar, der alles wissen wollte und an seinem dritten Geburtstag beschließt, sein Wachstum einzustellen. Bernhard Schlink belässt es bei eher beiläufigen Bemerkungen, aus denen zu schließen ist, dass Bastian sich überfordert fühlt. Aber auch hier besänftigen ihn die Frauen, die allesamt  ihr Glück am Schopfe packen, das ihnen mit ihrem Oskarchen widerfährt. Und schließlich dürfen wir lesen: "Sie mochten sich, Oskar und Bastian, der den Kampf dagegen, Opa genannt zu werden, bald aufgegeben hatte. Oskar freute sich, wenn die Leute sagten, sie sähen einander ähnlich und was für ein liebevoller Stiefvater und -großvater Bastian sein müsse, wenn die Stieftochter einen ähnlichen Stiefenkel geboren habe. Mara lachte, wenn sie das sagen hörte, Bastian lächelte verlegen."

In dieser Geschichte bleibt alles rund, und der Jurist Bernhard Schlink entschließt sich die einzige Geschichte in den Abschiedsfarben mit einem echten Happy End nicht weiter zu belasten; nicht mit dem Recht Oskars mit zunehmendem Alter erfahren zu wollen, wer denn sein (biologischer) Vater sei; nicht mit den Irritationen, die unabdingbar mit bluts- und wahlverwandtschaftlichen Interferenzen einherzugehen pflegen. In unserem Bekanntenkreis ist nicht nur das Gargellener Tal vertraut, sondern auch die Frage so vieler Kinder nach ihrer Herkunft - vor allem dort, wo sie beginnen nach der fehlenden Vaterfigur zu forschen. Aber das ist ein anderes Thema.

Während Theresa und Bastian im anderen die jeweils fehlende Häfte gefunden und kultiviert haben und gemeinsam mit Mara, Sylvie und Oskar ein glückliches Leben führen, zeigt uns Bernhard Schlink in der Geschichte Das Amulett (99-118), wie es auch ganz anders kommen kann. Heute morgen (16.11.20) steht auf der Panorama-Seite der Rhein-Zeitung folgende Notiz:

"Kaberettist Jochen Busse (79) lässt sich zum vierten Mal scheiden - und sieht die Schuld bei sich. In der Radio-Bremen-Talkshow '3nach9' sagte er: 'Es gibt Leute, die treffen in ihrem Leben die Frau ihres Lebens und bleiben auch bei der.' Bei ihm gelinge das nicht."

In meinem Bekanntenkreis gibt es viele Paare, die seit mehr als 40 Jahren einen gemeinsamen Weg gehen und dies sozusagen von Anfang an - sie sind füreinander jeweils die ersten, die sich ihr Leben lang wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz garantieren. Der Soziologe Peter Fuchs, auf den diese eigenwillige Formulierung zurückgeht, betont - als Soziologe -, dass er hier nicht normativ rede. Er streut als Beobachter Salz in die Suppe der heiligen Ehe und kann es sich nicht verkneifen, festzustellen: "Natürlich wird fremdgegangen, aber das Entscheidende ist der Verschweigezwang" - zumindest im Kontext einer angestrebten symbiotischen Geschlossenheit unter der Maßgabe: WIR ZWEI/REST DER WELT. Theresa und Bastian haben ihre jeweils passende Hälfte gefunden nach dem Irrtum einer jeweils bereits geschlossenen Ehe. Im Amulett stellt sich der Sachverhalt etwas anders dar. Die Schuld auf sich nehmenden Protagonisten heißen bei Bernhard Schlink zuweilen MICHAEL. Eine dürre Skizze der Zusammenhänge könnte man etwa folgendermaßen zusammenfassen:

Eine seit 19 Jahren geschiedene Frau bekommt Besuch von ihrer Nachfolgerin - sie steht eines abends vor dem Haus und bittet um ein kurzes Gespräch: "Es geht um ihren Mann." Sabine reagiert konsterniert und hat Mühe die Situation zu realisieren und reagiert schroff und abweisend: "Ich möchte nicht über meinen geschiedenen Mann sprechen." Schließlich erkennt sie in der fremden Frau Milena, das ehemalige Au-pair. Nach anfänglichem Zögern bittet sie schließlich Milena einzutreten. Milena ist die jetzige Frau ihres geschiedenen Mannes. Sabine öffnet sich ihr behutsam und sagt: "Du musst nicht Sie zu mir sagen. Wir haben uns geduzt. Ich bin Sabine, wenn du es vergessen hast [...] Was ist mit Michael?" Milena entgegnet: "Er hat Lymphknotenkrebs [...] Sie haben ihm eine Chemo empfohlen, die ihn vielleicht ein bisschen länger leben lässt, aber er will das nicht [...] Er isst wenig und liest nichts und redet kaum." Sabine lässt sich auch aus einem Gefühl der Überlegenheit ein und fragt: "Habt ihr Kinder?"

Als aufmerksamer Beobchter sehe ich hier einen der unverständlichen kleineren Unstimmigkeiten. Michael war lange Bürgermeister der Stadt, in der auch sie wohnt. Sabine hat mit Michael zwei erwachsene Kinder, die also zwei Geschwister haben. Und Sabine hat keine Ahnung? Sei's drum.

Milena antwortet: "Sie sind aus dem Haus [...] Jetzt bittet Michael sie, dass Sie ihn besuchen. Oder treffen." Die inneren Monologe, die nun folgen, offenbaren recht subtil bis drastisch, welchen Nachhall die seinerzeitige Trennung und vor allem deren Umstände bis in die Gegenwart haben. Da ist zuerst Milena, von der wir erfahren, dass sie ihren Lebensweg recht selbstkritisch beäugt:

"Was wäre aus ihrem Leben geworden, wenn sie das Jahr als Au-pair beendet und, wie geplant, Rechtswissenschaft studiert und eine deutsch-polnische Rechtsanwaltskarriere begonnen hätte? Wenn sie nicht mit Michael geflirtet oder wenn er ihr Flirten nicht ernst genommen oder wenn er nicht an ihre Tür geklopft oder wenn sie nicht aufgemacht hätte? Sie flirtete mit allen Männern und hatte das Flirten mit Michael nicht ernst gemeint. Sie hatte für ausgeschlossen gehalten, dass er, als seine Frau verreist war, bei ihr anklopfen würde, und nicht in freudiger Erwartung aufgemacht, sondern erschrocken und verwirrt. In ihn verliebt hatte sie sich erst viel später, als die Turbulenzen der Affäre, Trennung, Scheidung, Heirat und Geburt des Sohnes vorbei waren und sie merkte, was für ein fürsorglicher, anhänglicher, liebevoller Mann und Vater er war."

Ja, so schnell kann es gehen und das Leben der Beteiligten und Betroffenen vom Fuß auf den Kopf stellen. Bernhard Schlink gestattet nun Sabine eine Reaktion, die gleichermaßen irritierend wie verständlich daherkommt. Als Milena weg ist, überlässt sie sich ihren Gedanken und Gefühlsregungen:

"Es tat immer noch weh. Es hatte all die Jahre weh getan, ein leiser Schmerz, erträglich, beständig [...] Sie gönnte ihm die Krankheit. Sie war wie ein Sieg, den sie endlich über ihn errungen hatte [...] Sie triumphierte, dass er sie sehen wollte, dass er sie brauchte und ohne ihre Vergebung nicht sterben konnte. Sie empfand auch Mitleid mit dem Mann, der stark und zäh gewesen war und von einem Herschlag gefällt gehört hätte wie ein Baum und stattdessen verwelkte."

Bernhard Schlink lässt uns teilhaben an den den meisten Menschen vertrauten Gefühlsregungen. Viele Menschen werden nachvollziehen können, dass Gefühle unser Denken und häufig unser Handeln steuern. Ein unausbleibliches und nachhaltiges Kränkungserleben ist ein enorm starker Filter, der häufig genug für Nachgiebigkeit oder gar einen Akt der Vergebung oder Verzeihung keinen Raum lässt. Im vorliegenden Fall findet sich eine plausible Erklärung für den Gang der Dinge, wenn wir das Kränkungsgeschehen im Verlauf und im Ergebnis der Trennung einmal genauer betrachten:

"Geht zum Beispiel eine Ehe auseinander, in der Kinder geboren wurden, dann ist das für den Mann und die Frau eine Katastrophe. Ich nehm jetzt einmal nur diese beiden. Das ist dann ein tiefer Schmerz, weil die ja mit einer ganz anderen Hoffnung für die Ehe und die gemeinsame Unternehmung angetreten sind. Und auf einmal ist alles zu Ende. Meist geht es zu Ende, ohne dass einer Schuld hat, sondern es geht zu Ende, weil jeder in einer für ihn eigenen Weise verstrickt ist oder weil jemand auf einem anderen Weg ist oder einen anderen geführt wird."

Ich werde an dieser Stelle nicht enthüllen, von wem dieses Aussage stammt. Erst am Ende meiner Schlinkschen Reise werde ich offenbaren, wer hier spricht. Ich möchte einfach, dass diese Sichtweise und auch dass die in der Folge angebotene Idee einfach einmal wirken können. Abweichend von der obigen Schuldrelativierung bleibt allerdings zunächst festzuhalten, dass Michael Sabine und die gemeinsamen Kinder verlässt und mit Milena eine neue Familie gründet, ohne sich zu erklären oder auch nur zu entschuldigen! Wie sollte das auch gehen?

Sabines Erinnerungswelt macht dies überdeutlich: "Er war weg, ohne dass sie auch nur ein echtes Gespräch geführt, nur einmal zusammen gestritten, gelitten, geweint hätten. Es trieb ihr noch jetzt die Schamröte ins Gesicht, dass sie ihn sowohl vor seinem Büro als auch vor dem Haus, in dem er mit Milena eine Wohnung genommen hatte, abgepasst und angefleht und angeschrien hatte, er solle mit ihr reden. Er drückte sich mit vermeidendem, verlegenem Gesicht an ihr vorbei."

Sabine lässt den Winter verstreichen, Wochen und Monate. Sie benötigt offenbar den Rat einer guten Freundin, um einen Ausweg aus ihrem Dilemma zu finden. So kann denn der Entschluss reifen Michael doch noch vor seinem absehbaren Tod zu treffen - vielleicht, weil die Freundin lauter richtige Sachen sagte, so beispielsweise,

"dass wir, wenn wir vergeben, es um des anderen willen, aber fast mehr noch um unser selbst willen. Dass die Begegnung mit Michael ihr guttäte; nicht das Glück hatte sie betrogen, sondern der Mann; er hatte damals mit ihr abgeschlossen, aber sie nicht mit ihm, und wenn jetzt endlich sie mit ihm abschließen würde, sei sie wieder offen für das Glück. Das Verhältnis zu den eigenen Kindern, die mit ihm Kontakt hatten, aber mit ihr nicht darüber sprachen, weil sie keinen Kontakt mit ihm hatte, würde zwangloser werden. Sie hätte alle Trümpfe in der hand, sie könnte großzügig sein, und sie würde ihre Großzügigkeit genießen. 'Oder', so fragt die Freundin, 'hast du dich in deinem Schmerz so eingerichtet, dass du ohne ihn nicht mehr leben kannst?'."

Bernhard Schlink und die Freundin irren in einem Punkt. Michael hatte nicht mit Sabine abgeschlossen. Michael hat sich sich gedrückt - an Sabine vorbei, vorbei an seinem Teil der Verantwortung. Er hat sich nicht gestellt. Und ganz offenkundig möchte er dies vor seinem Tod in Ordnung bringen. Der weiter oben zitierte Gewährsmann - ja es ist ein Mann - erwägt für misslingende/misslungene Trennungen einen hochinteressanten Vorschlag:

"Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden und alles, was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen: Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, habe ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen."

In meiner engeren und weiteren Herkunftsfamilie und natürlich auch im Bekanntenkreis gibt es einige Beispiele misslungener Trennungen. Der Beobachter kommt selbst mit rosaroter Brille nicht um die Einsicht herum, dass - wie oben betont - über Jahre und Jahre die Wut dem Schmerz und der Trauer jede Chance und alle Kraft nimmt. Im hohen Alter der Beteiligten - ich habe hier meine Herkunftsfamilie im Blick - ruhen nun seit einigen Jahren die Waffen. Aber alle - bis in die dritte Generation - sind eher Verlierer als Gewinner geblieben. Meine Tante - die Schwester meiner Mutter - ist ihr langes, langes Leben lang in der tiefen Trauer über ihre verlorene und verratene Ehe stecken geblieben und hat jahrzehntelang ihre tiefgründigen depressiven Schübe nur mit Hilfe der Psychiatrie einigermaßen beherrschen können. Du musst Dein Leben ändern war nie eine Option. Bring Dein Leben in Ordnung war die ständige Erwartung des Umfelds, dem eine gemeinsame Sprache, dem das Sprechen in der Not und über die Not versagt blieb. Mein allererstes Gedicht (siehe ganz am Ende) verdankt sich dieser individuellen, abgründigen Tragödie, die auch in die zweite Generation nachwirkt.

Das Treffen von Sabine und Michael auf einer Bank in einem Park findet im Sinne eines äußeren Zeichens seinen Höhepunkt im Überreichen des Amuletts durch Michael an Sabine - mit ausgetauschten Fotos, die seine Mutter und ihre gemeinsamen Kinder zeigen. Sabine fragt Michael im Verlauf eines recht einsilbigen Gesprächs: "Hast du Angst vor dem Tod?" Und Michael antwortet: "Ich werde nicht furchtsam wie Mutter. Aber ich werde immer trauriger, und es ist gut, wenn der Tod dem ein Ende setzt." Und dann:

"Es tut mir leid Sabine. Was war, was ich getan habe - es tut mir leid. Aber mehr noch macht es mich traurig. Meine Traurigkeit legt sich auf alles, sie macht mich müde, sie ist ein schwarzes Wasser, ein schwarzer See, in dem ich ertrinke, unentwegt ertrinke."

Sabine bietet Michael an, ihn nach Hause zu fahren. Sie gehen aus dem Park zu ihrem Auto, "und je länger sie gingen, desto härter setzte Michael den Stock auf und desto schwerer stützte er sich auf sie. Sie hatte Mitleid mit ihm. Sie redeten nicht auch nicht im Auto. Als sie vor seinem Haus hielt, drückte er ihre Hand und sagte: 'Das tat mir gut. Danke'."

Ein paar Wochen später liest Sabine in der Zeitung von seinem Tod, noch ehe die Kinder sie anrufen können. Bernhard Schlink lässt uns noch wissen, dass Sabine - als sie vom Treffen mit Michael nach Hause gekommen war, die goldene Kette mit dem Amulett in die Schmuckschatulle gelegt hatte.

"Aber nach Michaels Tod holte sie sie hervor und trug sie Tag um Tag."

Ich habe in meinem Leben nur einmal geheiratet und wir feiern im kommenden Jahr unseren 40. Hochzeitstag - und der Dank ist über alle Maßen. Bevor ich aber den Bund fürs Leben mit meiner Frau geschlossen habe, hatte ich eine sieben Jahre währende Beziehung erlebt, die zu Schulzeiten ihre Anfänge nahm und am Ende des Studiums durch mich beendet wurde. Die Umstände dieser Trennung waren eine arge Zumutung in der Hinsicht, dass die unausweichliche Einsicht in die Aussichtslosigkeit dieser Verbindung nicht für sich stehen und wirken konnte, sondern extrem durch die Tatsache belastet war, dass ich unversehens - ohne Aufschub - die Verbindung zu meiner heutigen Frau suchte und forcierte. Die Einsicht in die Einseitigkeit des Handelns, die einseitige Schaffung und Begründung von Fakten fielen der blinden Abwehr und Zurückweisung jeglicher Verantwortung für die Neuordnung der Welt zum Opfer. Es hat mehr als zwanzig Jahre - bis zu meinem fünfzigsten Geburtstag - gebraucht, bis ich einsichtig und bereit war, mich der alten Schuldenlast zu stellen. Ich habe meine damalige Freundin zu diesem großen Geburtstagsfest eingeladen, zuvor aber alleine mit ihr das Gespräch gesucht und im Sinne einer Entschuldigung nachgeholt, was ich über Jahrzehnte geleugnet und weit von mir gewiesen hatte. Dass sie dann mit ihrem Lebensgefährten zu meinem Geburtstagsfest gekommen ist, war - neben dem erlösenden Gespräch im Vorfeld - ein deutliches Zeichen, dass wir endlich voneinander gelöst unserer Wege gehen konnten. Dafür danke ich Edith, die leider vor einem halben Jahr im Alter von 65 Jahren verstorben ist, heute noch einmal.

Der Tod war früh schon mein Begleiter in dieser Welt. In Daniel, my Brother (151-170) setzt sich Bernhard Schlink mit einem schwierigen Bruderverhältnis auseinander, das im Rückblick des jüngeren Bruders auf den älteren liebevoll beginnt und nach Irritationen sich diesen liebenvollen Kern zu bewahren scheint. Christian (Chris), der ältere Bruder hat sich gemeinsam mit seiner Frau das Leben genommen und der jüngere beginnt nolens volens eine Auseinandersetzung mit einer schwierigen Brudergeschichte.

"Es kamen die Erinnerungen." Es sind Albträume von Verlust und Verlorensein. "Beim Aufwachen wusste er sofort, dass er nur geträumt hatte, aber die Verzweiflung des Verlorenseins blieb, und er erinnerte sich an einen Sonntag vor vielen, vielen Jahren: Sein Bruder, elf Jahre alt, zurück aus Davos, wo er drei Jahre wegen seines Asthmas bei der Tante gelebt hatte, wurde mit ihm, dem Sechsjährigen, zum Kindergottesdienst in die Kirche geschickt. Auf dem Weg hielten sie einander an der Hand; er mochte die Nähe des großen Bruders, bei dessen Abschied er geweint, den er vermisst und auf dessen Rückkehr er sich gefreut hatte. An der Kirche wurde er von ihm getrennt und in eine Kapelle zu den sogenannten Lämmchen gebracht, den kleinen Kindern, die für den Kindergottesdienst noch nicht für reif gehalten wurden. Alles war furchtbar: die Trennung vom Bruder, die Angst, ihn am Ende nicht wiederzufinden oder von ihm nicht wiedergefunden zu werden, das verstörende Zusammensein mit den Kindern, von denen er nicht eines kannte und zu denen er, der nicht im Kindergareten gewesen und noch nicht in der Schule war, sich nicht zu verhalten wusste. Er war verloren."

Dem jüngeren Bruder fallen andere Situationen ein, nicht mehr an der Hand des älteren Bruders, aber ihm anvertraut und ihm vertrauend:

"Einkäufe, Transporte von Altpapier im Bollerwagen zur Sammelstelle, Besuche im Tiergarten, Schlitten- und Skifahrten auf dem Berg über der Stadt. Ihm fiel das Hüttchen ein, das der Bruder ihm zu einem Geburtstag im Wald aus Zweigen gebaut hatte. Die Indianer- und Cowboyfiguren, die ihnen zusammen gehörten und mit denen sie zusammen spielten, wobei er vom Bruder jeweils eine Hälfte zugeordnet bekam und sich immer übervorteilt fühlte. Die gewaschenen Mullbinden, die vor dem Einschlafen aufgerollt und um die entzündeten Händes des Bruders gewickelt wurden, der an Ekze m litt. Das Einschlafen selbst, im gemeinsamen Zimmer, in benachbarten Betten, bei dem sie einander wieder und wieder gute Nacht sagten, bis sie darüber einschliefen."

Ja, es sind lange, und es sind viele Zitate. Und ich habe ja von Leseermunterungen gesprochen. Selbstverständlich sind alle Geschichten irgendwie lesenswert und die hier vorgenommenen Zitierungen scheinen mir gleichermaßen sinnträchtig wie unentbehrlich. Bernhard Schlink gelingt es tatsächlich der Erinnerung und der ungebrochenen Trauer über den frühen Tod meines eigenen Bruders neue Facetten hinzuzufügen. Ich bin der ältere von uns beiden, und wie Chris und sein jüngerer Bruder haben wir viele, viele Jahre ein gemeinsames Zimmer geteilt - Kindheit und Jugend in den fünfziger und sechziger Jahren mit Indianer- und Cowboy-Spielen, einer unfassbaren Freiheit am Rande der Stadt, wild, unkontrolliert; auf dem Fußballplatz, auf dem Schuttabladeplatz, auf der Zirkuswiese, an der Ahr, beim Fangen, Spielen und beim Streiten. Ich war der große Bruder, und lange ging alles nach meiner Pfeife, bis sich die Verhältnisse langsam umkehrten, und wir uns auf Augenhöhe begegneten - im Guten wie im Schlechten.

Vor dem Beliebigkeitszufälligen habe ich bis heute allergrößten Respekt. Ich bin unbeweglich geworden im Raum und mag von der Welt nichts mehr sehen. Bis heute treibt es mich um, dass mein Bruder die kleine viersitzige einmotorige Maschine bestiegen hat am 21. Juni 1994 - nicht als strahlender Gewinner der Tombola mit dem Hauptgewinn eines Fluges und Kurzurlaubs nach Zell am See in Österreich. Nein, Willi hat die Maschine nach Überredungskünsten seiner Freunde bestiegen als  E r s a t z m a n n, für einen der Hauptgewinner, der kurzfristig erkrankte. Die aberwitzigen kontingenten Zusammenhänge habe ich an anderer Stelle beschrieben.

Anders als Chris jüngerer Bruder gerate ich nicht in jene Krise, die ihren Höhepunkt mit der Frage aufnimmt, "was sein großer Bruder gegen ihn gehabt hatte". Er sinniert darüber, dass es einen Unterschied macht, auf  der einen Seite "nicht an Gemeinsamkeit mit dem kleinen Bruder interessiert zu sein" und ihn zu demütigen andererseits. Chris entpuppt sich als der Schreckensbruder, der mit der Mutter bricht und der sich beim Treffen der Geschwister nach deren Tod zu der Äußerung verleiten lässt, froh zu sein über den Tod der Mutter. Seit die Mutter aus dem Nörgeln und Jammern über die Zeit und die Welt und die Kinder und die Enkelkinder nicht mehr herausfand - so erinnert sich der jüngere Bruder -, hatte er innerlich mit ihr gebrochen und war froh, als er die Form, die er noch gewahrt hatte, nicht mehr wahren musste.

Bernhard Schlink nimmt nun einen langen Anlauf, um zu zeigen, dass er - der jüngere Bruder - es vergessen hatte. Die aufwändigen und sorgfältigen Bemühungen seines Bruders Chris, ihm zu einer Kopie eines von ihm über alle Maßen geliebten Motivs zu verhelfen, das ihn seit seiner Kindheit begleitet hatte und das verloren ging. Jene Reproduktion von Das Mädchen und die Eidechse des Malers Ernst Stückelberg hatte als Reproduktion über dem Bett gehangen, in dem er als Kind in den Ferien bei den Großeltern in der Schweiz geschlafen hatte:

"Er war mit dem Blick zum Mädchen eingeschlafen und mit dem Blick zum Mädchen aufgewacht, und wie er unter der Obhut der Großeltern glücklich war, war er es in der Nähe des Mädchens."

So besinnt sich der Jüngere:

"Er hatte, was zwischen Chris und ihm gewesen war, um das Geschenk des Bildes verkürzt [...] Er hatte es sich mit Chris zu einfach gemacht. Der Chris der Brüche, der Chris, der mit seinem kleinen Bruder ein Problem hatte, der Chris, in dessen Leben sein kleiner Bruder keinen Platz hatte, der Chris, der seinem kleinen Bruder das Bild an den Platz hängte, an dem es fehlte - das alles war Chris. Er schämte sich seines Vergessens. Und er freute sich am Bild, amg Geschenk, an Chris. Er hörte noch mal das Lied. Chris, you are a star in the face of the sky."

Ach ja, Bernhard Schlinks Protagonisten entstammen allesamt dem gediegenen Bildungsbürgertum. Johann Sebastian Bach auf Rügen bildet den gewohnten, angemessenen kulturellen Kontext. Da fällt es auffällig aus dem Rahmen, dass er beim Anhören von Elton Johns Daniel die Fassung verliert und mit seinem Auto am Rand der Straße anhalten muss:

"Er verstand den Text nur zur Hälfte. Daniel fliegt nach Spanien, oder er stirbt oder ist schon tot und ein Stern am Himmel - jedenfalls hat er Abschied genommen, und der kleine Bruder vermisst ihn, er vermisst ihn sehr, 'oh I miss him so much'. Er sieht den zum Abschied winkenden Daniel, das abfliegende Flugzeug, das rote Signallicht, er sieht es durch einen Schleier, den Schleier seiner Tränen oder den Schleier eines Traums. Gewiss ist nur, dass er ihn vermisst [...] Er saß, und es klang in seinem Kopf nach: 'Daniel, my brother', 'Lord, I miss Daniel', 'Daniel, you're a star in the face of the sky.' Wenn er das Weinen nicht verlernt hätte, hätte er geweint. Er sehnte sich oft danach zu weinen. Er sehnte sich danach, dass der schwarze See der Traurigkeit in seiner Brust in einem Strom von Tränen ausliefe."

Der schwarze See der Traurigkeit ergießt sich auch heute noch zuverlässig und hält meine Tränenkanäle sauber und lässt meine Seele atmen. Am Geburtstag oder auch am Todestag von Willi kommt es zuweilen vor, dass ich Mike Batts walls of the world (heute besonders bewegend in der Version von Katie Melua) oder Vangelis conquest of Paradise anhöre - Willis Beerdigungsmusik - nur allein, immer nur allein, um den Schmerz noch einmal zu provozieren und zuzulassen. Mit Mike Batt und Vangelis erscheint das Motiv eines schwerelos dahingleitenden Fluggeräts unter blauem Himmel in der gleißenden Sonne, genau so wie es am 21. Juni 1994 geschah - bis um 10.04 Uhr - dem Verklingen und dem Verlöschen einer ganzen Welt.

Geht mit dem Tod der Nächsten und der Liebsten die denkbar größte Kränkung einher, sind es in Geschwistermusik (55-98) wieder gewöhnliche Kränkungen - dieses Mal im Dreieck. Der Rahmen zum Auftakt: Die Oper in Berlin - "Eine Orchestersuite von Bach, Bruchs Violinkonzert, die 4. Symphonie von Glass". Philip Engelberg - Autor eines Buches über die Geschichte der Hausmusik - wird von Susanne wiederentdeckt, wiedergefunden, im Foyer der Oper und der Mischpoke vorgestellt. Und augenblicklich verfällt er nach 50 (!) Jahren prompt und erneut ihrer Aura - wie damals:

"Hoheitsvoll war sie ihm erschienen, als er sie das erste Mal im Klassenzimmer sah, die aufrechte schlanke Gestalt, die blonden Haare, die grünen Augen, die überlegen schauen konnten, als nähmen sie ihr Gegenüber nicht wahr, und durchdringend, als läsen sie alle seine Gedanken und Gefühle, die helle Stimme, mit der sie sich nie verhaspelte, nie versprach, die Bildung, die bei ihren Antworten auf Fragen des Lehrers deutlich wurde." Und über die Spanne von fünfzig Jahren: "Sie war eine Schönheit geblieben, die mit dem offenen weißen Haar nicht alt aussah, sondern apart."

Wir erleben nun die Rekonstruktion eines Missverständnisses; aus Philip Engelbergs Perspektive betrachtet, muss man wohl eher von einer Intrige sprechen. Susanne lockt Philip in ihre großbürgerliche Welt und lanciert anfangs subtil, dann immer fordernder eine freundschaftliche Beziehung zu Eduard, ihrem seit einem Unfall an den Rollstuhl gefesselten Bruder. In dem Maß, wie sich die freundschaftlichen Bande zwischen Philip und Eduard verstärken, entzieht sich Susanne Philip mehr und mehr, bis dieser schließlich völlig enttäuscht und frustriert die Flucht antritt. Von Susanne fühlt er sich missbraucht und ist masslos entäuscht.  Den erwartungsfrohen Eduard, der von gemeinsamer Wohnung mit Philip träumt, stößt er vor den Kopf und verschwindet aus Deutschland. Er geht als Schüler in die Vereinigten Staaten, begründet dort eine berufliche Karriere und bleibt dort.

Susanne ist all dies sicherlich noch in prägnanter Form erinnerlich, und sie stellt Philip nach dem Opernabend, den anderern - ihrem Mann und Freunden - näher vor. Dabei fällt die Bemerkung, manchmal könne man sich nur befreien, indem man die verrate, denen man Treue schuldet:

"Vor fünfzig Jahren mochten Philip und ich die großen Fragen, ob es sich zu leben lohnt, ob wir eine Bestimmung haben, was Liebe ist, was Treue und Verrat."

Susanne holt Philip für einen Vortrag nach Frankfurt, "und Philip musste wissen, was Susanne von ihm wollte." Er nimmt die Einladung an, die zum Desaster gerät. Im Verlauf des Abends brüskiert der auch nach 50 Jahren immer noch tief gekränkte Eduard Philip, indem er ihn ausschließlich der fortgesetzten Etikettierung eines Arschlochs für würdig befindet. Es enthüllt sich - was Philip immer schon vermutet hat - eine krankhaft-symbiotische Beziehung zwischen Susanne und ihrem Bruder Philip, den sie als Kind von den Klippen geschubst hatte - seitdem ist er behindert: "Ich wollte ihn tot!"

Susanne lädt Philip nach 50 Jahren ein, über Nacht zu bleiben. Sie bekennt: "Ich weiß, man holt eine Liebe nicht nach, indem man einmal miteinander schläft." Philip entgegnet:

"Mit dir schlafen - ich habe damals nicht einmal davon geträumt. Ich wollte dich  umarmen, dich küssen, deine Brüste an meiner Brust spüren, neben dir liegen, im Schwimmbad, auf deiner Couch, in meinem Bett -  und manchmal bin ich morgens aufgewacht, und das Bett war nass, und ich hatte dich geträumt, nicht dass wir miteinander geschlafen hatten, einfach dich."

Susanne bekennt mit vielen Männern geschlafen zu haben - auch noch als verheiratete Frau.

"Aber es zählte nicht. Weil es nicht zählte, konnte ich es auch lassen, als mein Mann etwas mitbekam und verletzt war. Er dachte, ich hätte Affären. Ich hatte keine Affären, ich hatte kurze Begegnungen, einen Mittag oder einen Abend oder eine Nacht. Ich wollte meinen Mann nicht verletzen." Philip darauf: "Die Jugendliebe nachholen wäre eine Affäre [...] Ihre Antwort weckte ihn auf. 'Ja, es wäre eine Affäre'. Sie lachte leise, und er wusste nicht, was das leise Lachen bedeutete. 'Vom Umarmen hast du geträumt? Vom Küssen? Zieh dein Pyjama aus.' Sie schlug die Decke zurück, setzte sich auf, zog das Nachthemd aus, und er sah ihr zu und tat es ihr nach. Auch nackt war sie eine Schönheit geblieben, und für einen Moment ging es Philip durch den Kopf, ob die Brüste echt waren und ob, was sie sagte, echt war, ob sie wieder ein Spiel mit ihm spielte, ob er dem Spiel schon verfallen war, ob er gehen sollte und ob er ginge, wenn sein Auto vor der Tür stünde und er nicht erst eine Taxe rufen und auf sie warten müsste. Dann umarmte er sie. Sie sagte: 'Hab keine Angst. Es zählt. Mit dir zählt es."

Wie geht wohl so etwas aus? Im Verlauf des Frühstücks offeriert sie ihm Wiederholung: "Wenn mein Mann weg ist, sind wir hier für uns. Ich finde schön, dich hier zu haben." Schließlich fährt Susanne Philip zum Bahnhof. Sie fährt langsam, wie wenn sie im Zeit geben wollte, etwas zu sagen oder zu fragen.

"Aber er schwieg, bis sie in Frankfurt am Bahnhof waren. Er sagte: 'Ich kann das nicht.' 'Du kannst das nicht.' Sie sagte es sachlich, aber ihm klang es enttäuscht oder sogar verächtich. Er wollte sich erklären, verteidigen, rechtfertigen. Dann hörte er sie schluchzen. 'Es tut mir leid', schluchzte sie, 'es tut mir leid.' Er nahm sie in die Arme, er wusste nict, ob zum Abschied oder damit doch noch alles gut werde, und sie ließ ihn."

Und nun kommt es dann zum Schlinkschen Schlussfurioso:

"So saßen sie, aneinander verloren, bis eine Frau ans Fenster klopfte, der sie die Ausfahrt aus dem Parkplatz versperrten. Susanne richtete sich auf, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und ließ den Motor an. Philip, benommen, verwirrt, machte die Tür auf, stieg aus, beugte sich aber wieder ins Auto. 'Ich will...' Er wusste nicht weiter, jedenfalls nicht so schnell,nicht mit dem laufenden Motor, nicht mit der wartenden Frau. 'Ich weiß', sagte Susanne. Sie streckte die Hand aus und fuhr ihm über die Wange. Dann zog sie die Tür zu und fuhr los."

Ein offenes Ende mit absehbaren Aussichten: Philip gibt sich mit dem Eingeständnis, die Erwartungen Susannes  nicht erfüllen zu können, eine reale Chance, in seinem künftigen Leben bei sich zu bleiben. Bei Detlef Klöckner (Phasen der Leidenschaft, Stuttgart 2007, S. 214) ist zu lesen, dass man sich manchmal auch nach der "guten alten Zeit" zurücksehne. Was läge dann wohl näher - meint Klöckner -, als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die wir mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziieren, die anders genug sind, um sich mit ihnen in ein Fluidum der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, eine Atmosphäre zu genießen, frei von aktuellen Belastungen. Viele im fortgeschrittenen Altern erleben zuweilen genau dies, dass die Einhaltung der Treueregel um jeden Preis oft genug einen Pyrrhussieg der Liebe über die Leidenschaft bedeutet. Die Paartherapie in der Spätmoderne diskutiert auch frühere Tabus als mögliche Optionen - auch jenseits des oben bereits erwähnte Verschweigezwangs:

"Manche Paare differenzieren zwischen Situationen, die passieren, also gleichsam körperlicher Untreue und dem übergeordnteten Versprechen, im Zweifelsfall zum bisherigen Partner zu stehen. Die bestehende Beziehung hat auf einer höheren Ebene uneingeschränkte Priorität, und vorübergehende Sekundärpartner erhalten den Stempel von Durchreisenden. Darin steckt durchaus eine Lösung zum Erhalt einer vitalen Beziehungskultur, die aber ein enormes Selbstbewusstsein und viel Vergebungswillen erfordert (ebd. S. 216)."

Während Theresa und Bastian den Neubeginn und die Kugelgestalt ihrer neuen Beziehung mit einem klaren Schlusspunkt unter die bestehenden Ehen starten, möchte Susanne beides: den Fortbestand ihrer Ehe und eine auf Dauer gestellte Affäre mit ihrer Jugendliebe. Ich habe für mich die Irrungen und Wirrungen in einer langen Ehe in der Mohnfrau (hier vor allem S. 85-88) zusammengetragen und verarbeitet. Hält eine Ehe den Belastungen einer zeitweiligen menage à trois stand, sehen sich die Paare nicht selten mit dem Vorwurf des Missbrauchs seitens der Dritten im Bunde konfrontiert. Hält die Ehe - möglicherweise deutlich wiederbelebt -,bleiben die Dritten dann oft genug auf der Strecke.

Ein anderes Motiv in Bernhard Schlinks Abschiedsfarben konzentriert sich auf die Unterscheidung von jung und alt - hier sind es immer alte Männer und junge Frauen, so in Picknick mit Anna ((31-54) und in Jahrestag (221-232). Picknick mit Anna ist eine Mordsgeschichte, die einmal mehr offenbart, wie Kränkungen die abartigsten Seiten in Menschen provozieren. Ob der Ich-Erzähler zum Mörder wird, bleibt offen. Klar hingegen ist, dass er durch Unterlassen einen Mord/Totschlag - wenn er ihn schon nicht verhindern kann - ihn erst recht nicht zur Anzeige bringt. Als Beobachter der Geschehnisse ist er beobachtet worden und muss sich nun damit auseinandersetzen, dass sein Handeln/Nichthandeln mit den tiefen Verstrickungen einhergeht, in die er sich hineinbegeben hat

Anna ist das dritte Kind - die einzige Tochter - einer Spätaussiedlerfamilie. Der Vater arbeitet als Hausmeister in einem Gebäudekomplex, in dem auch der Ich-Erzähler wohnt. Bernhard Schlink schildert subtil, wie sich Beziehung zwischen altem Mann und heranwachsender junger Frau wandelt. Im Mittelpunkt steht dabei eine abgründige Rechtfertigungssuada, mit der Unterlassung verständlich werden soll. Der Ich-Erzähler informiert sich im Verlauf der Geschichte über den Tatbestand unterlassene Hilfeleistung: "Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Wer nicht Hilfe leistet, obwohl es erforderlich und zumutbar ist." Und - dann der Scham ausweichend - die Bemühungen um eine weiße Weste:

"Ich habe Anna weiß Gott geholfen. Und ich habe es gerne getan. Was für eine Freude war es, ihr die Welt zu erschließen! Ich habe sie lesen gelehrt, ich habe ihr die Augen für Literatur un für die Natur geöffnet, für Geschichte und sogar für Philosophie - bei Anna entdeckte ich, dass ich verständlich und spannend von großen Denkern erzählen kann und eine Philosophie für Kinder schreiben könnte."

Im Alter von etwa zehn Jahren kommt Anna zu ihm - er hatte schon ihre älteren Brüder unterstützt. Und Anna war unglücklich über ihre schlechten Noten: "Sie fühlte, dass sie gut seine konnte, und sie wollte gut sein." Er küsst sie wach: "Sie hatte noch nie ein Buch gelesen. Ich las ihr vor bis sie selbst gerne las."

"Welch ein Zauber lag über unseren Stunden! Wenn Anna kam, gingen wir zuerst Mathematik und Englisch durch, dann die Nebenfächer, dann die deutsche Grammatik. Danach las ich ihr vor, Grimms und Hauffs Märchen, Erzählungen von Hebel und Keller, Gedichte und Balladen, Kästners Romane. Ich saß auf dem Sofa, und sie saß neben mir, den Kopf an meine Schulter gelehnt, oder sie streckte sich neben mir aus und legte den Kopf auf mein Bein. Ich habe ihre Wangen glühen gesehen, wenn es spannend wurde, das Flattern ihrer Lider, wenn sie mitlitt, den Jubel in ihren Augen, wenn sie sich mitfreute. Ich habe ihren Atem gehört, schnell und flach oder langsam und tief, und wusste, dass sie mit ganzer Seele zuhörte. Ich habe ihren Geruch gerochen, den unvergleichlichen, unwiederbringlichen Mädchenduft nach Kind und Frau und frischen Früchten, dessen Versprechen einen um den Verstand bringt."

Schlink traut sich was. Er baut (unerträgliche) Spannung auf. Er insinuiert die typischen Lolita-Phantasien, die widerwärtige Melange des altersgeilen Spanners mit dem Blick auf knospendes Leben - man fühlt sich an die Auseinandersetzungen um Balthus erinnert. Der Ich-Erzähler sieht sich denn auch befleißigt zu betonen: "Ich habe Anna nie anstößig berührt." Aber er bleibt unsicher und ist - wie man so schön sagt - affiziert.

"Bei einem Straßenfest sagt sie, sie mochte elft sein, später würden wir heiraten, und gab mir einen Kuss, und ich wurde rot, nicht nur ein bisschen, sondern vom Hemd bis unters Haar. Die eine Nachbarin schaute, als fragte sie sich, was zwischen Anna und mir sei, und die andere sagte: 'Ich habe euch gesehen', und das Rot, das schon hatte schwinden wollen, flutete wieder Hals und Kopf. Dabei hatte sie uns nur beim Picknick am Kanal gesehen."

Es gibt sozusagen einen Höhepunkt der Vertrautheit und den darauf folgenden harten Bruch - den Absturz in die Fassungslosigkeit, in die totale Fremdheit; Entfremdung als einseitig erlebtes Trauma: "Als sie fünfzehn, sechzehn war, waren wir einander so vertraut, wie man einander über die Grenze der Generationen nur vertraut sein kann."

"Es war in der U-Bahn. Sie saß mit zwei Freundinnen, die eine blond und die andere dunkel, und weil [...] Ich setzte mich dazu und begrüßte Anna und fragte die beiden anderen, ob sie Leonie und Margot seien. Die Blonde sagte: 'Quatsch meine Freundin nicht an', und die Dunkle: 'Grabsch mich nicht an, Opa', so laut, dass andere die Köpfe zu mir wandten, und Anna saß da und kicherte und hielt die Hand vor den Mund. Ich bin bei der nächsten Station ausgestiegen und habe mich auf die Bank gesetzt. ich konnte nicht mehr."

Bernhard Schlink spitzt seine Geschichten nicht selten bis zur völligen Aussichtslosigkeit zu. Das beginnende Spiel von Vertrautheit und Ignoranz bzw. Missachtung nimmt an Schärfe und Prägnanz zu. Anna probiert sich rückhaltlos aus. Mit Leichtigkeit gelingt es ihr immer wieder ihn zu besänftigen und an die Kandarre zu nehmen. Der gediegene Bildungsbürger mit festen Unterscheidungen, was schön und hässlich, was höflich und unhöflich, was gut und schlecht, was angemessen und unangemessen ist, sieht seine Welt in Frage und zunehmend wilden Attacken ausgesetzt:

 "Im April wurde sie siebzehn, ich schenkte ihr den Computer, den sie sich gewünscht hatte, und wir waren in Ariadne auf Naxos. Sie hatte sich schöngemacht, wie sie es immer tat, aber das Kleid saß zu knapp, der Ausschnitt war zu groß, sie trug schwarze Netzstrümpfe und hatte die Lippen grell geschminkt. Sie ist kein Mädchen mehr, dachte ich, sie ist eine Frau. Warum hatte ich das nicht früher bemerkt? Warum musste sie sich so herausputzen?"

Möglicherweise hat Schlink die Geschichte in jene bittere Aussichtslosigkeit eskalieren lassen, um einerseits das Handeln seines Protagonisten irgendwie plausibel erscheinen zu lassen; andererseits steckt darin vielleicht die Lehre, dass alle Bildungsbemühungen fragwürdig, gar erfolglos bleiben, wenn sie keinen wirklichen Resonanzraum zu begründen vermögen, wenn sie gewissermaßen das aufbrechende Leben - in und über die Pubertät hinaus - in seinen unberechenbaren und vitalen Aspekten verfehlt. Und dies ist eben das Schicksal eines alten Hauslehrers, der zwar erlebt, wie auch eine siebzehnjährige von der Süße der Musik (Ariadne auf Naxos) ergriffen wird, aber der nicht begreift, das der langwierige Prozess einer tiefgründigen Bildung (der Persönlichkeit) nicht durch Bildsamkeit ersetzt oder verdrängt werden kann.

Anna driftet ab. Die Jungs, die sie nun vermehrt abholen und unter deren Einfluss sie gerät, erfüllen die Eltern mit Sorge und ihn noch mehr. Die Sorge ist begründet. Anna entzieht sich konsequent, wenn er ihr begegnet - mit hochmütigem, abweisendem Gesicht. Und nicht nur das. Er entdeckt blaue Flecken, eine geplatzte Lippe. Er versucht mit Anna zu reden:

"Aber sie fuhr mich an, ich solle gehen. Ich versuchte es ein zweites Mal; diesmal standen wir auf der Straße, und als sie mich wieder anfuhr, kam gerade ihr Freund." Anna verleugnet ihn nicht nur, sondern geht noch einen gewaltigen Schritt weiter: "Der Alte tut mir nichts. Er ist hinter kleinen Mädchen her. Ich bin ein großes Mädchen."

Er gerät in die Defensive und wird schließlich von Annas Freund verprügelt. Er "versucht Abschied von Anna" zu nehmen und findet keine Antworten auf seine quälenden Fragen. Warum wollte sie mit ihm nichts mehr zu tun haben?.

"War sie Carlos hörig? Sexuell hörig? Drogenabhängig? Oder hatte ich etwas falsch gemacht? Ich hatte sie nicht formen wollen, ich hatte sie geliebt, wie sie war. Oder hatte ich sie formen wollen, ohne es zu wissen? Dann kam die Wut."

Immerhin kommen ihm die Gedanken, die etwas wissen davon, dass sich alle Perönlichkeitswerdung immer mit und gegen die bedeutsdamen Anderen vollzieht:

"Aber Annas Gemeinheiten und Kränkungen hatte ich nicht verdient [...] Wie konnte sie ihren Freund auf mich hetzen? Wie konnte sie mich von ihm fertigmachen lassen? Wie konnte sie mich so erniedrigen?

Die erfahrene  Kränkung lähmt ihn. Er unteschätzt die Lage: "Ich wollte nicht, dass er sie ermordet." Es geht nicht nur um das, was wir tun. Es geht immer auch um das, was wir unterlassen. Die Stärke, die ihm Schlink nun zuschreibt und gestattet, hängt durchaus mit einem Motiv zusammen, das uns bei Bernhard Schlink nicht unbekannt vorkommt. Wir werden mitgenommen in eine Art Neuauflage von Selbs Justiz, ohne zu erfahren, ob ihn nur der Entschluss oder schließlich der Schuss befreite?

"Wie mich der Entschluss befreite! Ich war glücklich, obwohl ich es noch nicht getan hatte und erst noch tun musste. Ich war endlich ich, furchtlos, kraftvoll, mannhaft, und Anna war wieder mein. Und mir war, als hätte ich es schon getan, als hätte ich es schon vollbracht. Als hätte ich gewartet, wäre, als er aus dem Haus kam, aufgestanden, über die Straße gegangen, hätte die Pistole aus der Tasche genommen und geschossen."

Jahrestag (221-232) könnte/sollte unter dem erkenntnis- und handlungsleitenden Motiv stehen: "Unter anderem weiß ich, daß es sich verbietet, eine jüngere Frau an diese meine Zukunftslosigkeit binden zu wollen Max Frisch, Montauk, in der SPIEGEL-Ausgabe 2006/2007, S. 160)." Bei Bernhard Schlink hört sich das folgendermaßen an, nachdem er zusah, wie leidenschaftlich und lebendig sie tanzte und einen Blick getan hatte in jene "entrückte Zauberwelt, die ihm verschlossen war":

"Sein Alter und ihre Jugend - wenn es sie erreichte, konnte es sie nur vergiften; er musste hoffen, dass er, der alte Mann, sie, die junge Frau, nicht wirklich erreichte. Was konnte er ihr geben, das ihr das Leben mit dem Älterwerden nicht ohnehin geben würde? Er konnte ihr nichts geben, er konnte ihr nur nehmen. Er musste den Aufenthalt beenden und aus ihrem Leben verschwinden."

Damit ist ja eigentlich schon alles gesagt und die Geschichte zu Ende - wenn er denn das Naheliegende nicht nur erwägen, ankündigen, sondern auch vollziehen würde: "Aber er wusste, dass er es nicht tün würde. Er würde in ihrem Leben bleiben, so lange sie ihn ließ." Die schöne, junge Journalistin (33) und der einundsiebzigjährige erfolgreiche Autor historischer Bücher hielt ihn, wenn auch mit untauglichen Mitteln, die lediglich dazu taugten, ihm seinen Mumienstatus zu verdeutlichen. Nach jenem Tanz, der ihn als Beobachter schauen ließ "die Erotik der Jugend, die alles verhieß, jede Zuversicht erlaubte, bei jeder neuen Frau auf die Göttin und jedem neuen Mann auf den Gott der Liebe und bei jeder Wendung des Lebens auf die Erfüllung hoffen ließ", ihre Frage und ihre naive Offerte:

"Du hast nie tanzen gelernt? Lass uns Stunden nehmen! WEnn die Termine schlecht liegen, können wir einen privaten Lehrer nehmen. Bitte! Er sah den Unterricht vor sich. Ihre Gewandtheit und seine Unbeholfenheit." Und er ahnt, er weiß: "Dass sie enttäuscht sein, ihn ihre Enttäuschung aber nicht spüren lassen würde. Nicht nur hier; mit dem Älterwerden würde er sie noch und noch enttäuschen und nur hoffen können, dass sie's ihn nicht spüren lassen würde. Ein Schatten, nicht mehr?"

Und ich frage ihn, den alten Mann und weiß?!

Welche Saite klingt in dir
folgt schmerzlich süßen Tönen,
schmeichelt dir im Jetzt und Hier
und lässt dich dennoch stöhnen?

Es ist ein leises Jubilieren
still und zart in deinem Herzen.
Es würde endlos tirilieren,
ahnt es nicht schon die Schmerzen!

Doch die sind noch so weit!
Genieße deine Zeit,
die - gnadenlos begrenzt
dich manchmal adelt und bekränzt.

Wühl dich in diese Pracht,
erlaube dir zu sein
in Obhut einer Himmelsmacht,
so jung, so zart, so süß, so fein.

Was immer auch geschieht,
der Lohn wird überwiegen.
durch Schleier einer zarten Liebe flieht
dein Leben und dein Lieben!

 

Drum rate ich ihm, sich zu merken? Es geht um's   Ü b e r s t e h n!

Wir sind die Silben
auf dem Sprung zur Sprache.
Wir schreiben dieses Buch,
wir haben es geschrieben.

Du und Ich,
erst zaghaft, überrascht,
dann freudig, sanft getrieben,
als ging es um's Verlieben.

So traumhaft finden sich die Worte,
denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne!

Soch streben wir nicht zu den Sternen,
wir wissen doch:
Aus dieser Welt
gilt es zu lernen.

Wir segeln dabei hart am Wind
und sehen beide,
was der Horizont verspricht.
Dahinter liegt  P h a n t a s i a!

Doch nicht für uns!

So können wir bewahren,
was andern früh im Feuer schon verbrennt,
wenn alter blind in ego rennt.

Wir lindern unsere Schmerzen,
bewahren uns in unseren Herzen
und mischen die Essenzen neu.
Wir bleiben auf der Hut,
und finden immer neuen Mut
und werden nicht das Höllenfeuer sehen.

Wir werden unverzagt uns  ü b e r s t e h e n.

 

Im Sommer auf der Insel (151-170) zeigt uns Bernhard Schlink eine Frau - die Geschichte spielt 1957 -, die die oben buchstabierte Grundhaltung des Ü B E R S T E H Ns als Grundhaltung lebt und auf diese Weise ihrem elfjährigen Sohn eine Lektion mit auf seinen Lebensweg gibt. Nach einem vierwöchigen Inselurlaub - ich tippe auf die Insel Juist - und einer leidenschaftlichen Affäre kehren beide nach Hause zurück:

"Am Tag der Abreise brachte der Mann die beiden ans Schiff; er weinte, während die Mutter gefasst blieb, beinahe heiter war. So kam sie auch nach Hause. Der Junge erlebte sie mit dem Vater nicht anders, als er sie vor dem Sommer erlebt hatte. Sie war wieder sein, nur sein. Nach einem Gutenachtkuss fragte er sie, was der Mann mache, ob sie ihn vermisse, ob sie ihn wiedersehe, und sie schüttelte den Kopf. Sie wisse nichts von ihm und wolle nichts von ihm wissen. Dass einer so aus dem Leben eines anderen fallen konnte, machte dem Jungen ein bisschen Angst."

Bernhard Schlink erweist sich als Meister der Diskretion: Wir wissen ja: "Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll (Peter Sloterdijk)." Die Affäre ist leidenschaftlich, rückhaltlos und vor allem limitiert. Man mag darüber spekulieren, ob hier absolute Reife oder blinder Hedonismus das handlungsleitende Motiv ist. Mit Einschränkung plädiere ich für die erste Alternative, so dass die zweite sozusagen darin aufgeht und aufgehoben ist:

"Nach dem Tod der Mutter fand er (der Sohn) im Geheimfach ihres Biedermeierschreibtischs ein Bündel mit Briefen des Manns. Die ersten hatte seine Mutter geöffnet; sie waren voller Liebe und Schmerz und flehten, sie wiedersehen zu dürfen. Die letzten hatte sie ungeöffnet gelassen; die Poststempel zeigten, dass sie noch Jahre nach dem Sommer kamen. Auch er ließ die Briefe ungeöffnet, wollte sie eines Tages lesen, wollte sie ungeöffnet verbrennen, wollte herausfinden, ob der Mann noch lebte, und ihm die Briefe schicken, wollte den Mann treffen, wollte wieder auf die Insel fahren. Er war seit dem Sommer nicht mehr dort gewesen." Letzterer Hinweis spricht eher dafür, dass es sich nicht um die Insel Juist handelt - die Insider wissen diese Bemerkung zu deuten.

Ich gestatte mir nun eine kleine Pause - wenn ich recht gezählt habe, fehlt noch eine Geschichte - Altersflecken (199-220); die hebe ich mir auf. Die beiden weiter oben nicht näher ausgewiesenen Zitate stammen aus: Gunthard Weber: Zweierlei Glück - Die systemische Psychotherapie von Bert Hellinger, Heidelberg 1997. Natürlich fehlt auch noch die Künstliche Intelligenz (7-30) - wie lebt man mit einem ungeheurlichen Verrat? Hier nimmt Bernhard Schlink einen langen Anlauf und bewegt sich auch auf der Höhe meiner Erfahrungen:

"Es hilft, bei Sterben dabei zu sein. Auch die Begegnung mit meinem Vater, der schon gestorben war, aber noch auf dem Bett lag und noch nicht vom Bestatter zurechtgemacht war, half. Man hatte ihm die Augen und den Mund nicht geschlossen, und das Grauen des Todes, vor dem er entsetzt die Augen aufgerissen und die Zähne gebleckt hatte, brannte sich mir ein."

Ein knappes halbes Jahr und - final - sieben Tage des Sterbens, bei mir war es die Mutter, haben mir mitten im Leben, eben mal die fünfzig hinter mir lassend - wie unter der Lupe - vermittelt und drastisch vor Augen geführt, was Sterben bedeutet. Bernhard Schlinks Protagonist in Künstliche Intelligenz traut man nach dem überaus reifen Eindruck, der im ersten Kapitel entsteht, dass er alle Kämpfe überstanden und alle Verfehlungen in seinem Leben letztlich gemeistert hat:

"Sie sind tot - die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel. Ich bin zu ihren Beerdigungen gegangen, vor vielen Jahren oft, weil damals die Genreration vor mir starb, dann selten und in den letzten Jahren wieder oft, weil meine Generation stirbt."

Nüchterner, abgeklärter kann man den Lauf der Dinge nicht sehen. Und dennoch: Da ist und bleibt eine Wunde, die nicht heilen kann, weil alles versäumt worden ist, was dazu vonnöten gewesen wäre. Von daher kommt der Schluss nicht schlüssig daher. Er erscheint wie ein einziger großer SELBS BETRUG. Und es helfen nur noch Einsichten wie diese: "Irgendwo habe ich gelesen, um Einsamkeit zu ertragen, müsse man sie sich zum Freund machen. Es hat mir sofort eingeleuchtet." Viele Formen des Selbstbetrugs beginnen damit, dass man sich das Unerträgliche zum Freund macht - die Depression, jede Form der Sucht, die Verzweiflung, selbst Schuldgefühle. Es handelt sich um die der Neigung der Externalisierung entgegengesetzte Strategie. Und er macht sie sich zu eigen. Das geht dann zum Schluss auf schier unerträgliche Weise folgendermaßen:

"Es war ein gutes Gespräch und ein guter Abschied. Es war traurig; der Abschied von einem Freund ist nun einmal traurig, auch wenn man im guten voneinander scheidet. Wir werden nicht mehr miteinander sprechen. Er ist tot. Aber ich werde an unsere Freundschaft denken, wie ich an meine Kindheit denke, und wie die Erinnerung an meine Kindheit wird auch die an unsere Freundschaft in mein alten Tage scheinen."

Niklas Luhmann spricht lebenslaufbezogen von Inskonsistenzbereinigungsprogrammen, um überlebenstaugliche Strategien im Umgang mit dem eigenen Lebneslauf zu generieren. Schlinks Protagonist begeht den abgründigsten Verrat an seinem besten Freund. Der sitzt für Republikflucht in flagranti mehrere Jahre in Haft. Er rechnete nicht mehr damit konfrontiert zu werden mit seiner ungeheuerlichen Tat, die er sich bis zuletzt - auch in der Konfrontation mit der Tochter seines Freundes, deren Patenonkel er ist, schönredet:

Das gute Gespräch gestattet er sich posthum, denn "solange er lebte, schien es für das keine Eile zu geben, bis es zu spät war. Ich habe ihm gesagt, was seinerzeit war, was ich getan habe und warum und wofür, dass ich stolz darauf bin, aber froh, dass es uns ein Leben in Freundschaft und gemeinschaftlicher Arbeit beschert hat. Dass es kein richtiges Leben im falschen gibt [...] Dass ich das beste aus der schlechten Situation machen wollte, das Beste für ihn wie für mich [...] Dass ich mich seinem Urteil beuge." Der Freund beweist wahre Größe: "Er lachte sein wissendes, freundliches Lachen und legte mir den Arm auf die Schulter. 'Ist schon gut.'

Da kann natürlich die Tochter lange warten, dass er vor Schuld und Scham zusammenbricht und sie um Vergebung bittet: "Reue mimen, nur um sie zur Ruhe zu bringen - nein, das ginge zu weit."

Je älter wir werden, um so blasser wird die Vergangenheit. Nur bei Soldaten kehrt sich dies zuweilen um, wenn die Gespenster der Vergangenheit zurückkehren, wenn die Verdrängung des Erlebten - paradoxerweise - durch beginnende Demenz wieder unverstellte Eingangstore in die Erlebensräume von Tätern und Opfern finden. Die siebzig fest im Blick falle ich manchmal selbst in meinen Träumen weit in die Vergangenheit zurück. Träume erlauben dann ein Eintauchen in jene Vergangenheit mit ihren beglückenden und belastenden Momenten und korrigieren merkwürdigerweise die Bemühungen um Inskonsistenzbereinigung - Träume suchen, finden, rumoren, entdecken, offenbaren Vergessenes, Verdrängtes, Verleugnetes in uns. Sie sind halt auf ihre Weise authentisch und unbestechlich. Wie gut, dass wir sie für uns behalten dürfen.

Altersflecken (199-219) Die Angstblüte übernimmt die Regie: "Weil er sich beweisen wollte, dass er keine Angst vor dem Alter hatte, veranstaltete er zu seinem siebzigsten Geburtstag ein Fest." Das Fest ist ein nahezu rauschendes. Fast alle, die er eingeladen hatte, waren gekommen:

"Seine Nervosität war verschwunden [...] Er fühlte die Notizen in der Innentasche seiner Jacke. Es würde eine lange Rede werden. Aber die Küche wusste Bescheid, und die Gäste würden gerne zuhören. Er würde jeden begrüßen und jedem sagen, warum er ihm im Leben wichtig geworden war."

Diese Haltung zeugt von Mut oder von Hybris - oder von beidem zugleich. Und der Flash-Back kommt hier, wie das Amen in der Kirche. Er ist seit vielen Jahren geschieden, und die  Freundin der letzten Jahre - eine junge Ärztin - ist inzwischen mit Médecins sans frontières in Afrika; wieder einmal die binäre Ausweglosigkeit jung ./. alt! Es gibt ja nicht wenige von Hybris geschlagene (alte) Männer, die die 70 für das neue 50 halten. Schlink ist ein stiller Mahner. Die 70 schon seit sechs Jahren auf dem Buckel, schreibt er seinem Protagonisten das Alter nicht nur ins Gesicht, sondern vor allem ins Gemüt:

"Bald nach seinem Geburtstag begann seine Vergangenheit, seine Gegenwart zu überwältigen [...] und er hatte gewusst, dass es kommen würde; er hatte es bei seinen Großeltern und Eltern erlebt." Und meiner These von Beginn an folgend macht Bernhard Schlink auf etwas aufmerksam, was ich bei so ungeheuer vielen Menschen für das zentrale handlunsleitende und handlungshemmende Motiv halte: "Zu den schönen Kindheitserinnerungen gesellten sich die traurigen, und das ging noch, bis die peinlichen kamen, die 
Erinnerungen an Enttäuschungen, Kränkungen, Verletzungen, die er schon als Kind anderen zugefügt hatte, und an Situationen, in denen er sich bloßgestellt und lächerlich gemacht hatte."

Was heißt schon Außenseiter? Schlink stempelt ihn zum Außenseiter. Nein - mit Blick auf so unendlich viele Männer kristallisiert sich hier so etwas heraus, wie eine Normalbiografie - und wenn es nur darum geht, zu denen gehören zu wollen, die Jeans trugen, rauchten, Mädchen kannten und etwas galten (bitte nicht vergessen: Schlink ist Jahrgang '44). Kein Wunder, dass ihm ein alter Freund - Psychiater und Neurologe - attestiert, eine Altersdepression zu haben. Es spricht natürlich ungemein viel für diese Diagnose, wenn wir zu Beginn des dritten Kapitels lesen: "Die traurigsten und peinlichsten Erinnerungen galten Frauen.". Er gelangt irgendwann tatsächlich an sein Ziel und findet seine große Liebe wieder, und der letzte - der finale - Abschnitt der Geschichte ist so gearbeitet, dass wir uns getrost fragen können: Und was nun? Welche Optionen bleiben noch - E X I T ?

"'Du warst der erste Mann, mit dem ich geschlafen habe. Ich war spät dran, aber ich habe es erlebt, wie eine Jugendliebe, und Jugendlieben haben keine Zukunft. Zugleich hat der erste Mann einen besonderen Platz in der Erinnerung - bei der ersten Frau wird es nicht anders sein.' Sie nahm seine Hand. 'Ja, ich war sehr glücklich mir dir, und nein, ich trage dir nichts nach.' Sie dachte nach. 'Bei allem anderen kann ich dir nicht helfen.'"

Ähnlich wie bei Jahrestag in den hier besprochenen Abschiedsfarben (siehe weiter oben)  gehen alle Montauk-affinen Motive und Sehnsüchte ins Leere. Er weiß, dass er es verkackt hat, und sie kann/will ihm nicht helfen! Da hilft auch nicht die Bestätigung seines reuevollen Flashbacks:

"Es war das schiere Glück. Er hatte es damals unter der Verpflichtung, die schwangere Frau und das ungeborene Kind nicht zu verlassen, verleugnet. Erst jetzt in der Erinnerung konnte er sich eingestehen, dass er nicht einen Seitensprung beendet, sondern das schiere Glück zerstört hatte."

Wie schön, dass es im wirklichen Leben auch umgekehrt geht! Denke ich an die Frauen zurück, die mir etwas bedeutet haben, kann ich diese Bedeutung heute besser deuten - in großer Dankbarkeit dafür, was diese Frauen mir gezeigt und geschenkt haben. Die Zukunft kommt immer als ungedeckter Scheck daher. Erst im Rückblick schreiben wir unsere Geschichten im Gewahrsein dessen, was Glück bedeutet. Die vollkommen ungebrochene Beziehung zu meinen Kindern und Enkelkind(ern) verdankt sich einer Haltung die Detlef Klöckner auf Seite 216 seiner Monografie Phasen der Leidenschaft mit Selbstbewusstsein und Vergebungswillen umschreibt.

Schlüpft man jedenfalls aus meinem Erfahrungshintergrund in die Rolle des Schlinkschen Protagonisten, bleibt die Frage vollkommen unbeantwortet, ob vom schieren Glück auch nur ein bisschen übrig geblieben wäre, hätte er Frau und Kind verlassen. Vermutlich ist das Streben nach absolutem Glück ohnehin die beste Garantie dafür, auch nur ein bescheidenes Glück zu verfehlen. Etwas Leichtes bekommt das Glück im Alter, wenn man das Glück hat, sich auf Augenhöhe zu begegnen, wenn nicht nur einer von beiden einmal gefehlt hat, und man sich mit der Schuld konfrontiert sieht, die einem zuweilen in Gestalt des Missbrauchsvorwurfs begegnet; möglicherweise zu recht geäußert von denen, die für eine Zeit die Dritten im Bunde sein durften/mussten und als Durchreisende nicht in jedem Fall die Gewinner waren.

Ach ja, da war noch etwas - vielleicht zwei Gedichte, die ganz und gar nicht überzeugen aufgrund ihrer vollendeten Form. Das erste ist tatsächlich eines meiner ersten Gedichte, vor mehr als 50 Jahren in schierer Verzweiflung über die Ignoranz und Borniertheit in der eigenen Familie. Beide Gedichte sind meiner Tante zugedacht, der Mutter meiner Cousine Gaby:

efliH oder: Land des Schweigens - Land des Lächelns

Eine Frau zerbricht
ohne Kraft
gebiert sie die Krankheit,
provoziert das Missverständnis,
als das sie ihr Leben langsam begreift.

Leben in sich -
Mikrokosmos:
Fehlentwicklung der stofflosen Materie,
die ausbricht
in schütterer, krankhafter Anomalie.

Lächelnd begrüßt man die Ursachen,
als die man lebt, als die man redet
über Zerredbares als da sind
Gärten und Krankheit,
die selbst sich entpuppt
als Paradoxon!

In wem, worin sei 
efliH, die Hilfe?
Gewiss in niemandem,
dessen Stimmbänder 
programmiert 
zerreden die Wirklichkeit!

 

Sage keiner, du hättest es nicht versucht

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht,
das Leben zu nehmen,
wenn auch nicht in all seinen Farben.

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht,
dich zu sorgen
um's alltägliche Leben;
eigesponnen in einen Kokon
aus grauen Fäden
mit Spuren von Silber und Gold.
Reisen und stille Vergnügen
stören das eintönige Grau

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht,
in deiner kleinen Familie zu überleben.
Das Pendel deiner Lebensuhr schlägt immer
von Kälte- bis Wärmetod -
Hin und Her,
ist niemals ein Fluss.
An dem wärst du ein stoischer Fischer,
eine Fischern mit zappelndem Fang.
Doch ohne Netz,
nur mit doppeltem Boden
auf schwankenden Planken.

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht,
die galaktische Differenz zu ertragen,
zwischen Schein und Sein.
Die großen Erzählungen -
sie tragen nicht mehr.
Von wegen: Vater, Mutter, Kind!
The answer my friend
liegt hinter der Stirn -
und zwischen Lavendel und Wäsche
hat der Scheidungsrichter ein Ei gelegt.

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht:
Fängst an zu blühen,
wo andere sterben.
Es scheint, du hast den längeren Atem.
Hast Respekt dir verdient für langen Mut.
Du hast sie gezügelt,
beherrscht deine Wut!
Zahlst du jetzt erst den vollen Preis?
Körperwelten gebären die Brut
und nicht nur Gedanken!

Überhaupt:

Die Gedanken denken Gedanken
auch hinter deiner Stirn -
endlose Gedankenranken,
worüber dünn ist der Firn,
wenn Worte begrenzen gemeinsamen Raum.
Ja- und Nein-Tentakeln gleich
tasten sich ängstlich
und ärmlich
die Worte am Hades entlang,
der immer schon droht,
wo der Alltag
Stunde für Stunde
die Liebe enttrohnt.

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht,
die deinen zu binden.
Und jeder Versuch,
sich dir zu entwinden
wendet sich gleichsam zum Fluch.
Niemand entfernt sich auf Dauer
aus diesem Netz.
Mit engen Maschen
begrenzt es die Welt
im sprachlosen Raum
- wortlos
und doch ein Gesetz!

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht,
alle noch einmal zu finden
im Leben, so wie im Tod.
Selbst der Mann kehrt zurück in der Not
und findet die letzte Ruhe
nahe bei dir.
In kalter Erde
beschützt ihn der Tod.

Und da,
wo Leben noch ist,
brennt unaufhaltsam die Lunte;
sie nagt, verzehrt und frisst
aus allen Farben das Bunte.

Wie groß ist die Trauer,
wenn eine Linie endet?
Und was da noch lebt,
greift zaghaft nach Leben -
fragt unablässig:
Was darf ich geben,
was darf ich nehmen?

Und Dir - Cousine - rufe ich zu - im Wendekreis der Fische:

Sage ja keiner, du hättest es nicht versucht,

und dein Eigenes gemacht,
aus eigenem Vermögen -
so reich und so arm wie ein jeder,
der malt seinen Lebenstraum
mit eigenem Pinsel.
Dich lockt das Eine,
so wie das Andere.
Und beides lebt in dir fort:
In der Stille wartet
Leid neben Licht;
und das Wilde ist immer bereit -
zwischen Zweifel und Pflicht.

 

All denjenigen, die sich tatsächlich bis hierher durchgearbeitet haben, möchte ich damit ein Beispiel geben - nicht nur eine Leseermunterung, sondern auch die Anregung, das Schreiben für sich selbst zu entdecken. Auch während der erzwungenen Zurückhaltung während der andauernden Pandemie ist es mir gewaltig auf den Sack gegangen, in all den Chats, an denen ich teilnehme, ballern wir uns gegenseitig mit Links zu, die zugegebenermaßen teils höchst orignell sind, die aber ein ums andere Mal eine Konsumentenmentalität befördern, die kultur- und habitusverändernd wirkt. Dabei tragen wir alle die Kraft, die Originalität und die Möglichkeiten in uns, unsere eigene Sprache und unsere eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und Formen zu entdecken.

Euch allen eine schöne Adventszeit, ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr.

 

 

 

 

 

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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