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Der Mensch wird aus dem Paradies der Gesellschaft vertrieben - Everybody knows

Wir reden miteinander, wir feiern miteinander, wir singen miteinander, wir freuen uns miteinander, wir trauern miteinander, wir lieben einander, wir machen sogar Kinder miteinander - es ist doch ganz und gar offenkundig, dass Menschen eine Menge miteinander machen, dass sie soziale Wesen sind, dass sie auf ein Miteinander und auf Resonanz angewiesen sind! Wie kann dann jemand behaupten, die Menschen kommunizierten nicht miteinander, der Mensch befinde sich außerhalb der Gesellschaft. Dietrich Schwanitz hat im Anschluss an Niklas Luhmann behauptet, der Mensch werde aus dem Paradies der Gesellschaft vertrieben, er treibe sich außerhalb herum, in der Wildnis seiner Psyche: "Die Psyche gehört nicht zur Gesellschaft."

Diese aberwitzig erscheinende Annahme basiert auf einem Menschenbild, das den Menschen nicht als  I N D I V I D U U M  begreift - als ein ungeteiltes Ganzes -, sondern dass annimmt, es seien mindestens drei unterschiedliche - voneinander abgeschlossene Ebenen/Systeme -, die den Menschen in seiner Komplexität erst vorstellbar und begreiflich werden ließen:

  • Da erscheint der Mensch einerseits als biologisches (Körper-)Wesen (Bios). Im unablässigen Zusammenspiel physiologischen und biochemischen Prozessierens funktioniere der menschliche Organismus, so dass wir - vorausgesetzt wir sind (und fühlen uns) gesund - buchstäblich die berühmten Bäume ausreißen könnten. Erst wenn wir das Gefühl haben, irgendetwas stimme nicht, suchen wir einen Arzt auf - in der Hoffnung, die ein oder andere Pille möge schon helfen; manchmal sind auch operative Eingriffe in den Organismus vonnöten, um ein kaputtes Knie, einen entzündeten Blinddarm oder ein schwächelndes Herz wieder zu richten.
  • Andererseits erscheint der Mensch als psychisches Wesen (Psyche). In den Kopf jemandes anderen kann man nicht hineinsehen. Diese triviale Feststellung führt zu der Auffassung, dass wir uns alle - wie Schwanitz meint - jeweils "in der Wildnis unserer Psyche herumtreiben" - jedenfalls für andere vollkommen intransparent: Die Gedanken sind frei! Im Interview mit Dietrich Schwanitz oder in der Luhmannschen Lektion kann man detaillierter nachlesen, was die Annahme nach sich zieht, die Psyche sei - ebenso wie der Bios - ein in sich geschlossenes System, in dem es immer nur um Gedanken gehe, die an Gedanken anschlössen.
  • Schließlich haben wir ja einleitend festgestellt, wie sehr der Mensch sich als soziales Wesen begreift, wie sehr er auf soziale Kontakte und auf Resonanz angewiesen erscheint. Die dritte Ebene, mit der wir den Menschen - neben seiner biologisch-organischen bzw. seiner psychischen Existenz - glauben boabachten zu können, weist auf soziale Systeme hin. Deren umfassendstes ist wohl die Gesellschaft mit ihren Subsystemen. Da ist die Rede von Funktionssystemen, die eine Gesellschaft am Laufen halten: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst, Erziehung bis hin zu Intimsystemen und Familien.

Verabschiedet man sich von der Vorstellung den Menschen als  I N D I V I D U U M  (als das Ungeteilte) begreifen zu können, nehmen die Irritationen erst einmal zu. Diese Verabschiedung zieht nämlich einen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich: Zunächst einmal die These von einer  b e w u s s t s e i n s f r e i  operierenden Gesellschaft. Eine subjektfrei, bewusstseinsfrei gedachte Gesellschaft besteht nämlich auschließlich aus Kommunikationen, nicht aus Gedanken, nicht aus Körpern, sondern ausschließlich aus Kommunikation, die an Kommunikation anschließt, die an Kommunikation anschließt und nie an irgendetwas anderes. Wie bringt man sich innnerhalb der Gesellschaft zu Gehör? Nur durch Teilnahme an Kommunikation! Aber wird man dann auch gehört? Und kann man andere verstehen? Wie intensiv kann/will man nachfragen - insistieren?

Versuchen wir einmal an zwei Beispielen zu zeigen, was damit gemeint ist:

  • „Nur Kommunikation kann Kommunikation beeinflussen… Wie man leicht sehen kann, gleicht Kommunikation einem außerordentlich aufwändigen Verfahren: Man kann nicht immer genauer und immer genauer nachfassen. Irgendwann, und ziemlich schnell, ist der Grenznutzen der Kommunikation erreicht oder die Geduld – das heißt die Belastbarkeit der psychischen Umwelt – erschöpft. Oder das Interesse an anderen Themen oder Partnern drängt sich vor.“ Niklas Luhmann hat dieses „außerordentlich aufwändige Verfahren“ noch konkreter beschrieben: „Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, z.B. nur in Sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schweren Bedingungen.“ (Luhmann, Niklas: Was ist Kommunikation, in: Lebende Systeme – Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, herausgegeben von Fritz B. Simon, Frankfurt 1997, S. 19-31)
  • Peter Fuchs greift diese theoretische Prämisse ebenfalls auf. Mich beeindruckt, dass er in seinen Seminaren und Vorlesungen immer nur wenige Augenblicke benötigt, um die Plausibilität der These von der Bewusstseinsfreiheit der Gesellschaft zu veranschaulichen: „Sie können sich das relativ leicht vorstellen, wenn ich einen Moment schweige… so werden sie bemerkt haben, dass keine Leuchtschriften über ihre Stirnen liefen, dass niemandes Gedanken sozusagen durch die Luft schwirrten, es herrschte einfach nur eine relative Stille. Es wäre auch absurd anzunehmen, dass dieses System, das wir jetzt im Augenblick bilden, wächst, wenn ihre Fußnägel wachsen, ihre Leber arbeitet; dass das sozusagen das System beeinflusst, das als ein soziales aufgefasst werden kann.“ (Vgl. Peter Fuchs: Das seltsame Problem der Weltgesellschaft, Opladen 1997, Seite 27f.)

Einer der Grenzfälle - der absoluten Grenzfälle - innerhalb von Gesellschaft wird durch den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer markiert. Es gibt vermutlich keinen anderen Bereich, in dem Kommunikation für viele so außerordentlich schwierig und belastend erscheint; manchmal so belastend, dass Kommunikation unterlassen bzw. outgesourct wird; man verlässt sich auf eine(n) professionelle(n) Trauerredner:in. Dies mag zuvorderst damit zusammenhängen, dass in häufig inhomogenen Systemen, wie sie Familien darstellen, niemand bereit ist, für alle zu sprechen. Man gewärtigt zunächst, dass die im Trauerfall Zwangsvereinten vermutlich so unterschiedliche Gedanken zu den Vorgängen haben, dass man zum Beispiel einen Trauerredner/eine Trauerrrednerin mit dem unabwendbaren Ritualzwang betraut; man ist erleichtert, seine Gedanken nicht (mit-)teilen zu müssen. Aber man kommt doch nicht umhin, angesichts von sechzig und mehr Jahren der Verbundenheit und eines Lebens im (weiteren) familialen Kontext, eine Sprache zu finden.

Ingrid Czechanowski hat die Trauerrede für meinen Schwager gehalten (übrigens in einem würdigen Rahmen, der nichts zu wünschen ließ!). Mir ist die Aufgabe und auch die Bürde vertraut, die mit einer Trauerrede verbunden sind (siehe hier). Frau Czechanowski hat mich zutiefst beeindruckt, sowohl mit der inhaltlichen Seite als auch mit der Art ihrer Vortragsweise. Ein(e) Trauerredner:in, die das Privileg der vollkommenen Distanz genießt, steht vor der Aufgabe aus den spärlichen Mitteilungen und Informationen, die ihr im Vorfeld der Trauerfeier zuteil werden, ein halbwegs vertretbares und nachvollziehbares Bild des Verstorbenen zu entwerfen. Ein(e) Trauerredner:in, die aus der Trauergemeinde, gar aus der Familie kommt, steht vor der Aufgabe aus den schier unerschöpflichen Bildern, Erinnerungen und Widersprüchlichkeiten ein gleichermaßen nachvollziehbares und vertretbares Bild des Verstorbenen zu skizzieren.

Frau Czechanowski hat die Herausforderung, ein gleichermaßen einfühlsames wie plausibles Bild des Verstorbenen entstehen zu lassen, auf der Grundlage der ihr zur Verfügung gestellten Informationen mit Bravour gelöst. Dabei kam es selbst für diejenigen, die den Verstorbenen glaubten gut zu kennen, zu Überraschungen. Hätte mir jemand nahebringen wollen, man würde mit drei Balladen von Leonhard Cohen den Lebenskreis des Verstorbenen auf gleichermaßen einfühlsame wie konfrontative Weise umreißen können, so hätte ich dies für abwegig gehalten. Aber die Liedauswahl gestattete in der Tat - anders als ansonsten gewohnt - einen recht nüchternen und schonungslosen Blick in die Widersprüche eines Lebens, das halt nicht aus einem Guss war. Aber dazu weiter unten mehr.

Für mich gut vierzehn Jahr Jüngeren hat Ingrid Czechanowski ganz entscheidende Hinweise gegeben, die mir noch einmal geholfen haben, warum diese gut vierzehn Jahre einen radikalen Generationenunterschied - ja in Teilen geradezu einen Bruch - markieren. So spricht mir das folgende Zitat nicht nur aus der Seele, sondern gleichermaßen aus einem wachen Verstand:

"Ernst Josten war das jüngste von 5 Geschwistern, drei Brüdern und zwei Schwestern. Die Geschwister erlebten noch die Zeit des Nationalsozialismus hier in Ahrweiler und schließlich den Krieg in seiner vollen Länge. Ihre Kindheit und Jugend lässt sich nicht mit den Erfahrungen der nächsten Generation vergleichen. Und manchmal, wenn man von den wenigen, die noch leben, etwas über jene Zeit hört, dann schaudert es einen." Ingrid Czechanowski stellt sich - nein uns - die Frage, was wohl unter anderen Umständen aus ihm geworden wäre? "Damals war der Weg für die meisten Kinder nach acht Jahren Volksschule vorgezeichnet. Sie waren halbe Kinder, als sie eine Lehre machten und anfingen Geld zu verdienen."

Selbstverständlich kann man sagen, dass die Wiedergabe der Stationen eines beruflichen Werdeganges trivial erscheinen, und dass man mit dem Blick auf Schäferhunde, Tauben und Motorräder ein Allerweltsprofil beschreibt. Allenfalls der Bruch in der Biografie, der Weg zu einer nahezu 30 Jahre jüngeren Frau, lässt eine Persönlichkeitsfacette aufscheinen, die im letzten Lebensdrittel des Verstorbenen jeder Harmonievorstellung im familiären Umfeld den Boden entzog. Ich würde dies an dieser Stelle auch nicht wirklich erwähnen wollen, wäre ich nicht Zeuge geworden, dass die Kraft der Versöhnung auch auf der Zielgeraden eines Lebens noch lebendig sein kann. Und die Trauerfeier im Beisein sowohl seiner Frau als auch seiner geschiedenen Frau - meiner Schwester - habe ich als lebendiges Zeichen dieser Versöhnung erlebt; zwei ganz und gar verschiedene Frauen gelingt Versöhnung und praktische Solidarität angesichts des Todes.

Ingrid Czechanowski baut gegen Ende einen Satz in ihre Trauerrede ein, der zur Kontroverse einlädt: "Aber im Rückblick ist es so wichtig, die guten Momente zu bewahren." Die Kontroverse, die sich anbietet, hat Ingrid Czechanowski dadurch gezähmt, dass sie zum Abschluss Michael Ende das Wort gibt - mit dem Lied von der Anderwelt. Ich gebe es hier aus vollem Herzen und mit wachem Verstand wieder, weil es uns, die wir noch zu leben haben, gleichermaßen mahnt und einlädt:

 

Das Lied von der Anderwelt
(Michael Ende, Trödelmarkt der Träume - Mitternachtslieder und Balladen, Stuttgart 1986)

es gibt einen See in der Anderwelt,
drin sind alle Tränen vereint,
die irgendjemand hätt' weinen sollen
und hat sie nicht geweint.

es gibt ein Tal in der Anderwelt,
da geh'n die Gelächter um,
die irgenjemand hätt' lachen sollen
und blieb statt dessen stumm.

es gibt ein Haus in der Anderwelt,
da wohnen die Kinder beinand
Gedanken, die wir hätten denken sollen
und waren's nicht imstand.

und Blumen blüh'n in der Anderwelt, 
die sind aus Liebe gemacht,
die wir uns hätten geben sollen
und haben's nicht vollbracht.

und kommen wir einst in die Anderwelt,
viel Dunkles wird sonnenklar,
denn alles wartet dort auf uns,
was hier nicht möglich war.

 

Ein Tod mag uns vielleicht nicht versöhnen, aber er kann uns mahnen; mahnen um so mehr, als jemand im angesichts des Todes sich selbst besonnen hat, gerungen hat - mit sich selbst, seinen Verfehlungen, seinen Versäumnissen, seinem Bedauern, seiner Trauer über das,

was hier nicht möglich war -

was hier nicht möglich war.

 

Everybody knows

 

Everybody knows

Ach, da wär einer gerne Vater gewesen,
das wird ihm am Ende bewusst.
In den Seelen der andern zu lesen?
Da blieb per saldo nur noch Verlust.

Und gerne wär er ein Opa gewesen,
zu spät und vergebens geahnt,
wie ein Trinker vorm Tresen,
dem der Suff das Elend bahnt.

Zum Ende hin nur noch der Wille zu sterben -
alle Kraft, alle Sehnsucht des Lebens
blieben im Rückblick vergebens -
es blieb die Sorge im Anblick der Erben.

Trost spenden die Frauen -
im Verzeihn - im Vergeben.
In der Anderwelt mag man vertrauen,
dass alle fortan in Frieden leben.

Nachlässe - und was wir damit zu tun haben?

Alexander Kluge hat einmal ausgerufen: "Wir müssen uns auf die Socken machen, der Schnee schmilzt weg. Wach auf du Christ - und was noch nicht gestorben ist, macht sich auf die Socken!" (das dazu gehörige Interview lässt sich hier anklicken)

Warum müssen oder sollten wir uns auf die Socken machen? Was will er uns sagen, wenn er meint, der Schnee schmilze weg? Und warum sollten es gerade die Christen sein? Und die, die noch nicht gestorben sind?

Verzeihung - die letzte Frage ist einfach nur dumm. Wer gestorben ist, kann sich nicht mehr auf die Socken machen! Und die meisten haben ihren Nachlass nicht geregelt - vielleicht, und vielleicht im besten Fall, haben sie Wünsche zu ihrer Beisetzung geregelt; manche sogar minutiös - bis ins kleinste Detail. Dies wiederum mögen (die einen) Angehörigen als Erleichterung begreifen, manche (andere Angehörige) hingegen als Zumutung, denn was da alles geregelt wurde, widerstrebt möglicherweise den eigenen Überzeugungen und Wünschen! Und überhaupt! Nachlässe - manchen glauben, ob als Nachlasser oder als Nachlässe Empfangende, sie hätten gar nichts nachzulassen, oder nachgelassen. Nun gut: Alexander Kluge (hört Euch das oben verlinkte Interview noch einmal an) belehrt und eines Besseren. Pardon, Belehrung - ist das nicht eines der Unwörter schlechthin? Gut, reden wir nicht von Belehrung, sondern lediglich von dem Versuch, als alter, weiser Mensch den Nachkommenden etwas zu übermitteln, Erfahrungen, Kränkungen und den Umgang mit ihnen. Pardon, ich habe es gewagt, von alten, weisen Menschen zu reden. Stephan Lebert (bedingt) und Louis Lewitan - ich möchte meinen: Es handelt sich möglicherweise um junge alte Weise - in diesem Fall (ach, du große Scheiße) auch noch um Männer!

Ob Alexander Kluge, der ist nun wirklich mit seinen 93 Jahren alt, oder die beiden Erwähnten. Sie werden offenkundig nicht müde, dafür zu werben, dass es nicht hilft, die Augen zu schließen: Die Nachlässe kommen nicht, sie sind immer schon da - nicht nur "die vererbten Traumata des Krieges", sondern meinetwegen - wie bei Alexander Kluge - auch die Traumata von sich scheidenden Eltern, den damit verbundenen Zumutungen, Kränkungen und Enttäuschungen, die ein Leben lang damit verbunden bleiben:

In Memoriam: Ernst Josten: 3. Dezember 1937 – 28. April 2025

Mors certa – hora incerta – der Tod ist uns gewiss – die Stunde ungewiss

Veröffentlicht: 17. November 2024

Zwei Tage nach Veröffentlichung dieses Beitrages habe ich meinen Schwager, Ernst Josten, in der Kleinen Perle in Bad Breisig besucht. Danach noch ein einziges Mal am 3. Dezember 2024, an seinem 87sten Geburtstag. Der Beitrag war und ist meinem Schwager zugedacht. Er ist zu Beginn der 60er Jahre in mein Leben getreten. Er war über dreißig Jahre mit meiner Schwester verheiratet, und er ist der Vater meines Neffen. Wenn man noch keine zehn Jahre alt ist, ist man offen, man befindet sich in einer Prägephase mit der Neigung zu starker Identifikation mit Leitfiguren. Mein Schwager war für mich und mein Bruder Willi eine solche Leitfigur. Er ist es nicht geblieben.

Das Individuationsgeschehen mit und gegen die bedeutsamen Anderen hat ihn zunehmend zur Projektionsfläche für ein Gegen gemacht; ein Gegen, das vor allem für ein anderes Männer- und Frauenbild steht, das auch verdeutlicht, dass die frühe Sozialisation hinein in eine schwarze, von faschistoiden Einflüssen geprägte Erziehung - auch schulischer Dimension - partiell auch ein nuanciert anderes Gesellschaftsbild bedeutete. Gleichwohl hat eine lebenslange Bindung Bestand gehabt, die auch emotionale Facetten in sich barg. Da bleiben gleichermaßen Respekt für eine Lebensleistung auf dem Hintergrund sozial und bildungsbezogen eingeschränkter Chancen wie ein tiefes Bedauern gegenüber der Unfähigkeit den Reichtum sozialer Beziehungsgestaltung umfänglich in all seinen Facetten ausschöpfen zu können. Tröstlich sind hingegen sind die Schritte, die er in seinem letzten Lebensjahr gehen konnte, und die seine Sehnsucht nach Frieden und Aussöhnung zum Ausdruck gebracht haben.

Vergeblichkeit und Generativität

Ich stehe noch sehr unter dem Eindruck des Blinden Flecks von Stephan Lebert und Louis Lewitan

Es ist Sonntagmorgen - der Weiße Sonntag; der Sonntag, an dem Kinder zum ersten Mal vom Leib Christi kosten - so wie ich es auch getan habe vor 65 Jahren. Die Bilder aus Rom sind gegenwärtig, man konnte ihnen nicht entgehen - sich ihnen vollkommen entziehen: Franziskus als Projektionsfläche ungestillter Sehnsüchte, nie zu erfüllender Träume einer verkommenen, verrotteten Amtskirche gegenüber. Am Rande der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Papst (der Armen und Ausgestoßenen) werden Deals gemacht - unvermeidbarer Weise mit einem Repräsentanten einer aus den Fugen geratenen Welt, der die Geschäfte eines Mörders betreibt, und der Vergeblichkeitsgefühle hekatombenmäßig befeuert.

Ich habe soeben "Am Ende war da ein Gefühl von absoluter Vergeblichkeit" in der akutellen ZEIT (17/25) vom 24. Februar gelesen; Catarina Lobensteins Versuch, den Abgang Kevin Kühnerts aus der großen Politik nachvollziebarer zu machen. Ich gestehe, dass ich Zeit meines (alten) Lebens von Kevin Kühnert zutiefst beeindruckt war, dass es Caterina Lobenstein aus meiner Sicht gelingt, feinfühlig und sensibel Grundtugenden eines (idealtypischen) Vertreters seriöser Politik nachzuzeichnen: die Fähigkeit, zuhören zu können, auf den Punkt hin (auch in prekären Situationen) formulieren bzww. parieren zu können, eine nahezu charismatische Vision von (sozial-)demokratischer Politik entwerfen zu können (und dafür auch persönlich einzustehen). Um dann letztlich auch begreiflich zu machen, dass Kevin Kühnerts Scheitern folgerichtig und nahezu alternativlos erscheint. Der Seitenwechsel von einer relativ machtfernen (aber immerhin auf der Bühne eines öffentlichkeitswirksamen Politikbetriebs verankerten) Position des Juso-Vorsitzenden, hin zur Position des Generalsekretärs im Machtzentrum der Sozialdemokratie, die zugleich eine taktisch-strategische Begrenzung eigener Ambitionen erzwingt, hat Kevin Kühnerts heißen Magma-Kern veränderungswirksamer Einflussnahme dahinschmelzen lassen. Nun könnte man fragen: Was und wen hat den Kevin Kühnert geritten bei der Entscheidung, sich auf einen Schleudersitz zu setzen, bei dem Parteiraison der einzige Kompass sein kann? Sei's drum: Kevin Kühnert mutiert in den Jahren seiner Karriere als Partei-Soldat nicht nur deshalb zur tragischen Figur. Er erfährt geradezu exemplarisch den Verfall einer politischen Kultur, in dessen Folge Einschüchterung und Bedrohung auf der einen Seite und das Entgleiten der politischen Meinungsführerschaft auf der anderen Seite jene von ihm angeführten Vergeblichkeitsgefühle befeuern.

Kevin Kühnert ist unterdessen 35 Jahre alt - weniger als halb so alt wie ich. Wir alle - die zwischen dem Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhundert hinein in die fünfziger und frühen sechziger Jahre Geborenen - sehen uns heute mit der aufkeimenden Saat dieser Vergeblichkeitsgefühle konfrontiert. Ich wechsle das Metier:

Das untertunnelte Land

Mit diesem Titel versehen stellen Stephan Lebert und Louis Lewitan ihr Studie Der blinde Fleck (Heyne München 2025) vor. Beginnen wir - wie so häufig unter meiner Regie - mit dem Schlussakkord. Wir führen uns die Quintessenz vor Augen, die Stephan Lebert und Louis Lewitan aus den rund 100 Interviews und ihren Vorstudien zu ihrer aktuellen Publikation ziehen:

"Es gibt in der Psychologie ein unerschütterliches Prinzip: Wer sich dem eigenen Trauma nicht stellt, reicht es an die nächste Generation weiter. Studien deuten darauf hin, dass ein Trauma über die >epigenetische Signatur< an künftige Generationen weitergegeben werden kann. >Zurzeit können diese Merkmale bis zur dritten Generation nachverfolgt werden<, so der renommierte Forscher Alon Chen. Man könnte es auch so formulieren: Welcher Deutsche seine Kinder liebt, sollte sich mit den Abgründen der Geschichte beschäftigen." Dieser Appell erreicht einen Hobby-Historiker, als den ich mich selbst - geboren am 21. Februar 1952 - sehe, just in einer Phase, in der sich der folgende von Lebert/Lewitan aufgezeigte Widerspruch mit neuer Wucht in das Bewusstsein eines Nachkriegskindes drängt:

   
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