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Am Ende braucht man eine Geschichte darüber, dass das Leben nicht vergeudet war!
Am Ende braucht man eine Geschichte darüber, dass das Leben nicht vergeudet war. Zumindest meint dies Eva von Redecker, die mich mit Bleibefreiheit endlich eingeholt hat in meinem Denken und Fühlen.
Dass man eine Geschichte darüber benötige, dass das Leben nicht vergeudet war, hat mein persönliches Gravitationszentrum so eingenordet, dass seit mehr als 25 Jahren Geschichten, Gedichte und Reflexionen entstehen, die sich an dieser Mammutaufgabe abarbeiten.
Am Anfang dieser Bemühungen steht ein gnadenloser Lehrmeister mit scharfrichterlicher Strenge, der sich in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichen Aufsatz mit Erziehung auf der einen Seite und der Formung des Lebenslaufs auf der anderen Seite auseinandergesetzt hat (siehe: hier); ein Vermächtnis mit durchgreifenden Folgen für den Versuch, sich selbst auf die Spur zu kommen. Niemand wird seiner Einsicht nach einen solchen Versuch unternehmen können, ohne dafür Inkonsistenzbereinigungsprogramme zu bemühen; Inkonsistenzbereinigungs-programme, die eine Sinnstiftung ermöglichen, mit der man leben und sterben kann. Niklas Luhmann schreibt dazu:
„Ein Lebenslauf ist, um einen hochabstrakten Einstiegsbegriff zu wählen, eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert wird. Der Lebenslauf schließt die vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft ein […] Die Einheit des Lebenslaufs muss also Vergangenheit und Zukunft umgreifen, ohne doch eine teleologische Struktur aufzuweisen. Sie liegt in einer Integrationsleistung von Nichtselbstverständlichkeiten. Sie ist eine rhetorische Leistung, eine Erzählung. Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Frankfurt 1997, Seite 18f.).“
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Machen wir unsere Demokratie zu einer wehrhaften Demokratie!
Elisabeth von Thadden im Gespräch mit Susan Neiman (ZEIT 35/2023, Seite 39)
In diesem Gespräch vertritt Susan Neiman die These, die Unterscheidung zwischen vernünftigen Gründen und Gewalt sei keine andere als die zwischen Demokratie und Faschismus. Sie bemüht bzw. installiert dazu gewaltige Prämissen, deren gewaltigste folgendermaßen lautet:
„Aber wie Rousseau meine auch ich: Es sind vor allem zwei Eigenschaften, die alle Menschen gemeinsam haben. Sie fühlen ein Mitleid, das jeder Vernunft vorausgeht, wenn jemand in ihrer Nähe Schmerzen leidet, und sei diese Empathie noch so flüchtig. Wenn ein Baby weint, dreht sich jeder nach ihm um. Die zweite ist: Wir spüren eine Sehnsucht nach Freiheit und wehren Beschränkungen unserer Freiheit ab.“
Zwei Mal erfolgt in diesem Gespräch zwischen Elisabeth von Thadden und Susan Neiman ein Rekurs auf Carl Schmitt, den „Nazi-Staatsrechtler“ (wie von Thadden ihn nennt). Zum einen habe Schmitt behauptet, wer Menschheit sage, wolle betrügen. Susan Neiman hält dem entgegen:
„Wer von Menschheit spricht, erhebt normative Ansprüche. Nichts anderes bedeutet es zu sagen, die Würde des Menschen sei unantastbar. Faktisch wird die Würde unvorstellbar verletzt. Aber normativ soll es so nicht sein.“
Carl Schmitt war ein skrupelloser Hasardeur, dem man alles vorwerfen kann, was den Menschen zum Unmenschen qualifiziert (siehe seine nachgelassenen Tagebücher). Eines kann man ihm allerdings nicht vorhalten: Klar und unmissverständlich in seinen politischen Unterscheidungen gewesen zu sein. Auf Seite 26 seiner 1932 erstmals erschienenen Schrift Der Begriff des Politischen heißt es:
"Eine Begriffsbestimmung des Politischen kann nur durch Aufdeckung und Feststelllung der spezifisch politischen Kategorien gewonnen werden. Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden. Das Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann. Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, jenen anderen Unterscheidungen zwar nicht gleichartige und analoge, aber von ihnen doch unabhängige, selbständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht (S. 26)?"
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Wer hat eigentlich den Arsch auf?
Angesichts der sich abzeichnenden klimabedingten Katastrophen im laufenden Sommer 2023 schrieb ich am 21.6., dass sich die Arsch-auf-Attacken eines Hubert Aiwanger und die populistische Schelte mit Blick auf das neue Gebäudeenergiegesetz (GEG) aus, wie die Ergüsse jemandes ausnähmen, der mit dem Arsch denke und den Kopf in den Sand stecke; in den Sand im Übrigen, der sich in den Dürreregionen dieser Welt zunehmend ablagert wie Plaques in den Hirnen von Aiwanger, Söder und - selbstredend in den Resthirnen der Klima-Wandel-LeugnerInnen in der Alternative für Deutschland. Es mag Söder ehren und Aiwanger entlarven, wenn der eine ausgebuht und die dumm-blöde Selbstdarstellung des anderen goutiert wird. Beide wollen in Wassern fischen, in die wir nicht einmal mehr unseren Allerwertesten halten würden. Jan Philipp Reemtsma hat 2005 bei C.H. Beck sechs Reden über Kunst und Literatur publiziert - und zwar mit dem Titel: DAS UNAUFHEBBARE NICHTBESCHEIDWISSEN DER MEHRHEIT. Liest man den Klappentext, gerät man unversehens in eine depressive Falle, bei der sich das Prinzip Hoffnung verbietet. Ist dort nämlich zu lesen:
"Eine Gesellschaft, die keine Achtung mehr vor ihrer eigenen Kultur hat, der ihre eigene Unbildung gleichgültig geworden ist, ist nicht nur ernsthaft gefährdet, sondern im Grunde hoffnungslos." Da kommt die Schlussoffensive wie eine schale Paradoxie daher, wenn zu lesen ist, dass sich Reemtsma in diesen Aufsätzen nicht nur als "leidenschaftlicher Anwalt des >exquisiten Vergnügens zu lesen, was zu lesen sich lohnt<" präsentiere, sondern auch "als angriffslustiger Germanist, der all jenen Mut macht, die die Sache der Kultur nocht verloren geben wollen".
am 21. Juni meinte ich: Geben wir weder die Sache der Politik noch die Sache der Kultur verloren. Das aber heißt, rühren wir uns, zeigen wir, dass wir dem fossil-reaktionären Todeskult nicht folgen, schicken wir die Aiwangers, Söders, Wissings in die Wüste und endlich die alternativen Querdenker in die Oasen ihrer Wahl - keine Stimme der AfD! Wer sich nicht besinnt, dem darf die letzte Generation gerne das Pflegebett unterm Arsch anzünden und die Schnabeltassen mit den Wassern füllen, in denen Aiwanger, Söder und andere Spacken ihre Netze auswerfen!
Also noch einmal die Frage:
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Ijoma Mangold: „Totalitäres Biedermeier“ – „Uns fehlt die Tugend der Demut“ (Ein Gespräch mit dem Philosophen Michael Sandel, geführt von Elisabeth von Thadden) und Martina Kix erklärt, wie aus „Layla“ ein „Protestsong“ wurde (alles in der ZEIT vom 27. Juli – 32/23, Seiten 46, 43 und 41)
N i m b y oder: Sankt Florian wird uns schon retten*
Wir saßen im Café
und tranken klares Wasser.
Wir fingen an zu grübeln und hatten nichts im Tee.
Zuletzt entstand der Eindruck, ich sei ein Menschenhasser.
Es waren nur drei schlichte Fragen,
und doch ging es um Kopf und Kragen:
Kommt der Strom nur aus der Dose und das Wasser aus dem Hahn?
Und die Freiheit zu Bleiben und zu Gehn, ist nicht nur leerer Wahn?
Da rief von Malle Pinkwarts Omma* übers warme Meer: *(im Link Zeitleiste: 35:48 ansteuern)
Freitag, Samstag ist hier alles dicht - kommt doch alle her.
Layla ist schon da und viele ihrer Freier,
hohl im Kopf, doch in der Hose dicke Eier.
Ich kann nicht, ruft Herr Schultz: Hab Land Sickness und fliege nach Korea.
Da ruft die Eva, die von Redecker: Bleibt doch alle hier!
Und du, Herr Schultz, denk an Medea,
bevor die (Groß)Mutter wird zum Tier!
Der Welt, in der, von der wir leben, sind wir egal.
Gleichwohl geraten Fluten, Dürren uns zur Mahnung,
und die Vergnügen werden schal.
Im Ahrtal hat man davon mehr als eine Ahnung.
Und doch gehn uns die Kleber auf den Sack,
bald gibt es Feuer unter Pflegebetten,
N i m b y - not in my back-yard - ruft das Pack,
Sankt Florian wird uns schon retten!
Eigentlich ist dies bereits Kommentar genug. Aber der Reihe nach:
Nimby ist vor etwa drei Wochen entstanden nach einem anregenden Gespräch mit meinem Freund Herbert und nach der Lektüre von Elisabeth von Thaddens Vorstellung Nikolaj Schultzens in der ZEIT (30/23 - Wie geht’s dem Ich?). Vergangene Woche dann die oben genannten Beiträge. Sehr spät – Ijoma Mangold mit seinem Verriss Eva von Redeckers. Es handelt sich um einen Totalverriss, der bereits im Titel Gestalt annimmt, wenn Mangold von totalitärem Bidermeier spricht. Ich habe keine Ahnung, wie der Vermögensstand und der Phantombesitz Ijoma Mangolds sich darstellen – und es interessiert mich im Übrigen auch nicht. Aber wer in der ZEIT an herausragender Stelle schreibt, dem sollte doch zumindest eine Intelligenzverkörperung zu eigen sein, die es erlaubt über den Tellerrand bildungsbürgerlicher Attitüden hinauszuschauen und Kontextbedingungen zu gewärtigen, die immerhin – um es zurückhaltend auszudrücken - Anlass zur Besorgnis geben. Es beeindruckt über alle Maßen, wenn Ijoma Mangold in pseudoliberaler Haltung – gewissermaßen in freiheitskämpferischer Attitüde – feststellt, Kapitalismuskritik habe schon immer einen Hang zur naturromantischen Regression an den Tag gelegt. Ihm ist zu wünschen, dass er auch in zwanzig Jahren noch in der Lage ist – natürlich in vollklimatisierten Redaktionsräumen - darüber nachzudenken, ob über dem Buch von Eva von Redecker tatsächlich ein Hauch von totalitärem Biedermeier lag. Möge ihm dann die frische Nordseebrise weder nasse Füße verursachen noch der fünfundzwanzigste Dürresommer in Folge ihm nostalgische Regressionsphantasien und -sehnsüchte nach einer gemäßigten Klimazone ins Herz hauchen.
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Sterbetagebuch: Zum Tode meiner Mutter (3.7.1924-27.7.2003)
Heute jährt sich der Todestag unserer Mutter zum zwanzigsten Mal. Wir befinden uns auf Juist; meine Schwester ist mit von der Partie. Ulla ist am 5.6. des Jahres 81 Jahre alt geworden. Mein 71ster Geburtstag war am 21. Februar des Jahres. Zwanzig Jahre nach dem Tod meiner Mutter nimmt das seinerzeit "just in time" aufgeschriebene "Sterbetagebuch" zunehmend eine andere Färbung und Bedeutung an. Meine Schwester ist dem Teufel in den letzten beiden Jahren zweimal knapp von der Schippe gesprungen. Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sind hinterlegt. Nach zwanzig Jahren Abstand konfrontiert uns das Lesen dieses Tagebuches mehr und mehr mit der eigenen Endlichkeit: mors certa - hora incerta.
Das folgende Sterbetagebuch meiner Mutter ist erstmals veröffentlicht worden in: „Hildes Geschichte“, in der ich versucht habe, die familiendynamischen Turbulenzen, die unsere Familiengeschichte entscheidend prägen, wenigstens blitzlichtartig bis seismografisch – und eingedenk der unvermeidbaren „blinden Flecken“ – „aufzuzeichnen“. Die Langfassung findet ihr unter „Hildes Geschichte“.
Insofern bildet der nachfolgende Text eine Auskoppelung und setzt ein mit einem 51 Jahre umfassenden Zeitsprung – von meiner eigenen Geburt bis hin zu den letzten Lebensmonaten meiner/unserer Mutter: 51 Jahre später – so alt war ich 2003 – habe ich deinen finalen Wendepunkt, an dem das geschehen sollte, was in jedem Leben unausweichlich und notwendig wird, seismografisch registriert – in deinem Sterbetagebuch. In der Fuge deines Lebens will ich dem basso continuo nicht nur im Beginnen folgen, sondern auch in seinem Verklingen. Und ich möchte heraus horchen, welche Motive, welche Töne, welche (Dis-)Harmonien nachklingen und sich zu neuen Klangfolgen verdichten. Ja, ich weiß, ein Tagebuch – auch ein Sterbetagebuch – ist kein Instrument der Kommunikation. In einem Tagebuch verdichten sich bestenfalls Tintenkleckse zu mehr oder weniger bedeutungsvollen und sinnträchtigen Gedankensplittern, bewahrt vor der Ereignishaftigkeit und dem gnadenlosen Zerfall, die mit ihrem Gedacht-Sein einhergehen – Zerfallsprodukte mit atemporaler Zeitstruktur. Dein Sterbetagebuch konnte zuletzt nichts haben von der heimeligen Schreibstube, die ich mir immer wieder einrichte; in der man gediegen und gelassen die Unterschiede zwischen „erlebtem“ und „erzählten“ Leben zu registrieren vermag und in diesem Schürfen nach Sinn dem Fluss des Lebens die menschliche Seite abgewinnt. Genau 10 Jahre später – im Juli 2013 –, der Zeitpunkt, an dem ich es hier (in „Hildes Geschichte“) nahezu unverändert einfüge, kommt es mir selbst wie das Zucken und Zappeln einer Fliege vor, die Marmelade gefallen ist. Ein Zucken und Zappeln deshalb, weil so eindrücklich wird, wie brutal der Abstand schrumpft, der der Not und der Hitze dieses Aufbruchs ins Finale ein wenig Linderung und Milde hätte vermitteln können. Aber in dieser Klammer vom gleichermaßen chaotischen wie spurenmächtigen Aufbruch ins Leben, seiner Weitergabe bis hin zu seinem Verlöschen, liegt die Bedingung für das, was war und das, was kommen darf:
Weiterlesen: Sterbetagebuch meiner Mutter (3.7.1924-27.7.2003)