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Karl Ove Knausgard - Vom Lesen und Schreiben
Na klar, es lohnt sich einmal wieder ZEIT-Abonnent zu sein: Literatur – 10 Seiten Bücher – Ein Spezial zu Weihnachten (früh genug, dass auch die Buchhandlungen noch etwas davon haben: ZEIT 49/25, Seite 56ff.)
Karl Ove Knausgard eröffnet: Rilke und ich – Der Dichter wurde vor 150 Jahren geboren, im nächsten Jahr ist sein 100. Todestag. Er hat mich mein Leben lang begleitet – und zum Schriftsteller gemacht
Die erste Spalte besteht aus von Knausgard ausgewählten Passagen und Sätzen aus dem Werk Rainer Maria Rilkes. Er kommentiert das mit dem Hinweis:
„Diese Zitate sind kleine Streiflichter in etwas unendlich viel Größerem, Rilkes Werk, und mein Problem ist, dass ich mich stets in seinem Inneren befunden habe wie in einem Wald und nie, kein einziges Mal, versucht habe, es von außen zu sehen, es zu analysieren, es festzuhalten.“
Es gibt eine interessante Parallele zwischen der bildungsfernen Inselkindheit Knausgards und der galaktischen Bildungsferne, in der sich die Kinder in Klein-Frankreich bewegten. Die 30 bis 40 Kinder, die in den 50er und frühen 60er Jahren an der östlichen Peripherie des Kurstädtchens Bad Neuenahr aufwuchsen – zwischen Sportplatz, Zirkuswiese und wilden Schuttabladehalden – diesseits der Ahr und jenseits der vornehmen Kurviertel, eben in Klein-Frankreich, waren sozusagen der geborene bildungsferne Bodensatz, jenseits der Zugänge zu dem, was man höhere Bildung nannte.
Wie oft habe ich erwähnt, dass die Bildungsoffensive der Sozialdemokratie mir das Münzgeld in die Hand gab, das ich – um den Preis einer Karriere in realitätsfremd erträumten Phantasien auf der Bühne (als Musiker) oder dem grünen Rasen (als Fußball-Profi) – im Alter von 16 bis 17 Jahren begann zu vermehren und zu einem ungeahnten Vermögen anzuhäufen (hier kann man's nachlesen). Bei mir war es - neben Rainer Maria Rilke und Stefan George - vor allem Gottfried Benn, in dessen Metaphern- und Sprach-Dschungel ich mich verlor und zu jener Besinnung fand, die mehr als 50 Jahre später neue Blüten treibt.
Dieses Phänomen gewinnt in der Erinnerung und in seiner Bedeutung bei Karl Ove Knausgard eine besondere Beachtung und Wertschätzung. Er löst sie gewissermaßen durch den realitätsverbürgten Hinweis ein, Rainer Maria Rilke habe ihn zum Schriftsteller gemacht – zu einem anerkannten und weltweit gelesenen Schriftsteller.
Auch ich bin ein Schriftsteller – nein, nicht einmal ein lausiger, aber dennoch ein diskret sein eigenes Sprachding fabrizierender Freizeitschriftsteller:
Die Fragen, die Karl Ove Knausgard nun stellt, begleiten mich gleichermaßen. Sie mögen den Schriftsteller Knausgard als Schriftsteller in besonderer Weise beschäftigen. Sie verfügen aber über eine Tiefe und eine Reichweite, dass sie auf jeden von uns anwendbar erscheinen – und dies unabdingbar und alternativlos. Mag sich der/die ein oder andere für noch so originell halten! Die Konsequenzen liegen gleichermaßen auf der Hand: Sage mir, was Du liest, und ich sage Dir, wer Du bist! Ganz so schlicht ist der Gang der Dinge allerdings dann doch nicht. Ohne die Anstrengung des Begriffs und ohne die Anstrengung von Verstehensbemühungen bleibt Literatur auf jeder Ebene ein Geheimnis mit sieben Siegeln, das seine Potentiale nicht zur Entfaltung zu bringen vermag. Knausgard fragt:
„Was geschieht eigentlich in unserem Inneren mit all dem, was wir gelesen haben? Etwas muss damit geschehen, nicht wahr – welchen Sinn hätte es, zu lesen, wenn nichts passiert, wenn es keine Konsequenzen hat, keine Spuren hinterlässt? Alles, was ich gelesen habe, ist offensichtlich ein Teil von mir; alles was ich gedacht habe, basiert auf dem, was andere gedacht haben, oder ist identisch damit. Und es geht noch weiter, denn auch das, was wir sehen, sehen wir nicht selbst, ohne Hilfe. Ist es nicht so? Sehen wir die Welt nicht so, wie die Menschen die Welt vor uns gesehen haben? Sehen wir nicht mit den Augen der Toten?“
Lieber Karl Ove Knausgard. Diese Fragestellungen gewinnen die Dimension einer Beobachtung zweiter Ordnung. Damit scheiden sie die Wenigen von den Vielen.
[Zuletzt habe ich Karl Otto Hondrich noch einmal die Ehre erwiesen – mit der Konsequenz, dass er meinen Horizont noch einmal deutlich verschoben hat hinein in die beginnenden Oasen der Erkenntnis und der Demut, die nur denjenigen vorbehalten sind, die Demut und Selbstbescheidung zu ihrer Grundhaltung gemacht haben. Die Demut erklärt sich aus der Dankbarkeit dem Umstand gegenüber, dass ich jene Schwelle überschreiten durfte, die der Soziologe René König mit den Sozialdeterminanten: weiblich, katholisch, ländlich in den 50er und frühen 60er Jahren - auch für die große Mehrzahl von uns in den späten 40er und den frühen 50er Jahren Geborenen als bildungsspezfische Fußfessel in den Raum gestellt hat. Nicht nur reüssierte Intellektuelle wie Heinrich August Winkler, sondern viele Angehörige dieser Jahrgänge verifizieren die These, dass der Zugang zur Bildung den Unterschied macht. Welchen Unterschied? Ja, lasst uns darüber noch einmal gründlich nachdenken und debattieren]
Die Wenigen sind jene, für die das Lesen sich niemals nur in einer reinen Konsumentenhaltung verliert – Lesen zum reinen Vergnügen und zur Freizeitgestaltung stellt ein absolutes Nogo dar. Und in den auslösenden Impulsen für ein eignes Schreiben mutiert das Lese-Schreiben zu einem Rettungsakt vor dem Vergessen; Günter Kunert meinte sogar vor dem Tod. Graham Greene versteigt sich gar zu der Behauptung, Schreiben sei eine Art von Therapie. Und er fragt sich, wie alle jene, die nicht lesen, die nicht schreiben, komponieren oder malen, es zuwege bringen, dem Wahnwitz und dem Trübsinn und der panischen Angst, die dem Dasein innewohnen, zu entfliehen.
Zwischen Daseinserhellung und Daseinsabschattung bewegen sich die lyrischen Großtaten jener verirrten Seele, der ich heute – wenn auch immer noch ein wenig widerstrebend – meine Referenz erweise. In den unfassbaren Sprachschöpfungen Rilkes, Georges - und eben auch Gottfried Benns offenbaren sich die weiten Horizonte und – nur eine Ahnung auslösend – die Grenzen sprachlicher Möglichkeiten.
Dass sie auch zum Motto-tauglichen verkommen können, ist ihnen nicht vorzuwerfen. War es doch tatsächlich schon vor Zeiten ein Spiegel in der Not, der uns – Rudi und mich – zu einem Ritual veranlassten, in dem und durch das wir uns unserer selbst vergewisserten: Kommt -
Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.
[…]
Und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot -
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot. (Immer auch für Rudi)
Wem verzeiht man schon das vollkommen unmögliche Adjektiv, mit dem Benn den Himmel blauen lässt? Nur dem, der es in: Du musst dir alles geben – so eben noch verzeihlich – mit den letzten Lauten schwingen lässt:
Du mußt dir alles geben,
Götter geben dir nicht,
gib dir das leise Verschweben
unter Rosen und Licht,
was je an Himmeln blaute,
gib dich in seinen Bann,
höre die letzten Laute
schweigend an.
Warst du so sehr der Eine,
hast das Dumpfe getan,
[…]
Warst du der große Verlasser,
Tränen hingen dir an,
und Tränen sind hartes Wasser,
das über Steine rann…
Nun habe ich das Lebensalter Gottfried Benns (1896-1956) bereits um drei Jahre überschritten. Heute ist mir klar, dass es – zuweilen – nicht mehr braucht als diese wenigen Zeilen, um ein Leben im bestimmter Hinsicht auf den Punkt zu bringen: Gabst dir alles alleine, gib dir das letzte Glück – vielleicht mit einer letzten Heiterkeit im Blick?
Im Rückblick vermag ich nichts mehr anzufangen mit dem Bennschen Frauenbild und seiner Auffassung, dass man nur für gutes Termin-Management sorgen müsse. Bereits in meinen beginnenden Fünfzigern überwog das Mitleid und eine gewisse Skepsis. So ist Hernach entstanden:
Hernach
Es gibt ein Buch mit Briefen.
Es zeigt den ewig jungen Wahn,
wie Triebe, die schon schliefen
wieder suchen ihre Bahn.
So alt – und doch lebendig
So krank – und doch beständig
willst du noch immer werben,
den Eros immer noch beerben.
Man möge dich belächeln
(hinter allem Leben selbst her hecheln).
Bevor wir weinen und auch sterben
ziehn wir Spuren, meißeln Kerben
in den Seeleschutt der andern -
unbeirrt, verwirrt ein Wandern
durch das Chaos dieser Welt,
die Worte für die Wahrheit hält.
Es gibt von dir Gedichte
und ewig die Frage: Wozu?
Die immer gleiche Geschichte:
Kein Weg vom Ich zum Du!
Bereits 1973 erstand ich ein schmales Büchlein, gerade einmal 48 Seiten umfassend. Darin bemüht sich Gottfried Benn unter Titel Probleme der Lyrik (Wiesbaden 1951) sein lyrisches Schaffen theoretisch zu kommentieren. Benn behauptet darin, dass Lyrik entweder exorbitant sein müsse oder gar nicht. Und mehr noch:
"Und zu ihrem Wesen gehört auch noch etwas anderes, eine tragische Erfahrung der Dichter an sich selbst: keiner auch er großen Lyriker unserer Zeit hat mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen, die übrigen mögen interessant sein unter dem Gesichtspunkt des Biographischen und Entwicklungsmäßigen des Autors, aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination sind nur wenige - also um diese sechs Gedichte die dreißig bis fünfzig Jahre Askese, Leiden und Kampf." (1951, Seite 18)
Das nimmt man dem Lebemann Benn natürlich nicht ab. Dass er mit und in seiner verirrten Seele gelitten hat - durchaus schon: Aber da möchte man dann mit Odo Marquard entgegenhalten: Sortiere dein Leben einmal mit den Unterscheidungen dessen, was dir schicksalszufällig und was dir beliebigkeitszufällig widerfahren ist. Dann wirst du zumindest sehen können, wo du - im Zustand der Tathoheit - ein egomanisches, kleinkariertes (Macho-)Arschloch warst und wo du möglicherweise ein Schicksal erlitten hast, dass uns Beobachter zu eine Mitleidsgeste veranlasst. Und: wenden wir das Ganze natürlich auch auf uns selber an: Lyrik zumindest ist ja nicht nur Selbstentblößung, sondern auch immer ein Akt der Selbstbeobachtung.
Kleine Randbemerkung zu Karl Ove Knausgard: Ich will hier nicht über Gebühr Raum verschwenden: Aber wenn Knausgard - so gänzlich anders als sein spiritus rector, Rainer Maria Rilke - beispielsweise in Lieben (Luchterhand bzw. Random House, München 2012) 763 Seiten benötigt, um sich zu verströmen und auf Seite 88f. schon alles gesagt hat, was er zu sagen hat, zeigt sich der Unterschied zwischen der unerreichten Kunst der Verdichtung und einem unkontrollierten Erzählfluss mit durchaus faszinierenden Sprachbildern. Angela Wittmann kommentiert in Brigitte dazu: "Eine höchst aufschlussreiche Tauchfahrt in die männliche Gefühlswelt".
Benn gelingt dies mit 48 Zeilen in sechs unregelmäßig geordneten Strophen:
TEILS - TEILS
In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs
wurde auch kein Chopin gespielt
ganz amusisches Gedankenleben
mein Vater war einmal im Theater gewesen
Anfang des Jahrhunderts
Wildenbruchs "Haubenlerche"
davon zehrten wir
das war alles.
Nun längst zu Ende
graue Herzen, graue Haare
der Garten in polnischem Besitz
die Gräber teils-teils
aber alle slawisch,
Oder-Neiße-Linie
für Sarginhalte ohne Belang
die Kinder denken an sie
die Gatten auch noch eine Weile
teils-teils
bis sie weitermüssen
Sela, Psalmenende.
Heute noch in einer Großstadtnacht
Caféterrasse
Sommersterne,
vom Nebentisch
Hotelqualitäten in Frankfurt
Vergleiche,
die Damen unbefriedigt
wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte
wöge jede drei Zentner
Aber ein Fluidum! Heiße Nacht
à la Reiseprospekt und
die Ladies treten aus ihren Bildern:
unwahrscheinliche Beautis
langbeinig, hoher Wasserfall
über ihre Hingabe kann man sich gar nicht erlauben
nachzudenken.
Ehepaare fallen demgegenüber ab,
kommen nicht an, Bälle gehn ins Netz,
er raucht, sie dreht ihre Ringe,
überhaupt nachdenkenswert
Verhältnis von Ehe und Mannesschaffen
Lähmung oder Hochtrieb.
Fragen, Fragen! Erinnerungen in einer Sommernacht
hingeblinzelt, hingestrichen,
in meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs
nun alles abgesunken
teils-teils das Ganze
Sela, Psalmenende.
Man mag da nur müde den Kopf schütteln über den hoffnungslos schwanzgesteuerten Macho Gottfried Benn und und vielleicht noch einmal exemplarisch Karl Otto Hondrich mit Blick auf Paardynamiken zitieren:
"Wollten der einzelne oder das einzelne Paar sich dem entziehen (gemeint ist der soziale Wandel und dem Wandel der Selbst- und Fremdbilder in ihm, Anm. FJWR), sie könnten es nicht. Denn nicht sie als Individuen bestimmen, was Gut und Böse, Normalität und Abweichung ist. Es sind vielmehr die von vielen geteilten, also kollektiven moralischen Gefühle, deren Wandlungen sich oft verzögert in den Änderungen des Rechts niederschlagen. Ein Beischlaf ohne Übereinstimmung der Ehepartner, gestern noch Bestandteil einer wenn auch traurigen und undurchschauten Normalität ehelicher Pflichten, erfüllt heute den Tatbestand der Gewalt in der Ehe. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsregel und der sie tragenden moralischen Gefühle definiert das Paar sich selbst als moralisch gut oder schlecht - in einer anderen Weise als das vorher der Fall war ... Auch wenn sein Selbstverständnis nicht öffentich oder gar gerichtsnotorisch wird. Geteilte moralische Gefühle oder Regeln und die aus ihnen entstehenden Spannungen sind die stärkste Kraft des sozialen Lebens."
Und nun noch ein wenig Lyrik vom Feinsten - aus welcher Feder mögen diese drei Glanzlichter wohl stammen? Jawohl, Karl Ove, ich bin nicht ganz dicht, um so dichter meine Dichtung
Grenzgänger
Wenn mein Herz zerfließt
und alles in mir schreit,
wenn aller Regen fließt
und Leben wurzelt breit.
Wenn mein Herz vor lauter Freude weit
und meine Arme voller Liebe breit,
wenn alle Unterschiede dann zerfließen
und Phantasien über alle Ziele schießen.
Wenn j a und a b e r mich erheitern
und alle Blicke Horizont erweitern;
wenn Kleinmut meinen Großmut weckt
und Liebe unsere Wunden leckt,
und Sonne meine Seele wärmt,
und wenn mein Selbst in Liebe sich ersäuft -
vor lauter Wohlsein nur noch schwärmt,
wenn letzte Tage winken
und Frühjahr sich mit Herbst vermischt,
wenn Hoffnung und Erfüllung ineinander sinken
und letzter Unterschied sich dann verwischt,
dann geh ich weg und komme heim
und ahne jene Grenzen,
die jenseits bleiben und geheim
für alle - vor Gräbern und vor Kränzen.
Fraglos
Immer wenn die Welt sich offenbart,
dann werde ich ganz still,
weil meine Spur - die zielbestimmte Fahrt
sich wendet und sich ändern will.
Immer wenn sich Größe zeigt,
verwandle ich mich leise.
Wenn sich ein Irren hin zum Ende neigt,
werd ich - trotz blinder Flecken - manchmal weise.
Wenn leise Klänge sich verdichten
und großer Klang entsteht,
wenn Fragen sich in Fragen lichten,
ein Hauch von Weisheit uns umweht;
wenn Farben sich vermischen
und Buntheit sich in Grau ergeht -
wenn aller Hochmut dann verblichen,
am Horizont ein Hoffen steht,
dann geh ich auf die Reise
und frage nicht mehr viel.
Ich wandle einfach still und leise,
ich spüre Kraft und bin das Ziel.
Porentief
Wenn du alle Poren öffnest,
in ungeahnte Tiefen fühlst;
wenn du in die Sonne schaust
und aller Farben Spiel erhoffst -
wenn dein Körper wach und wacher wird
und jede Schwingung,
jedes sanfte Beben,
jede Regung
Flimmerhaaren gleich erfühlt.
Wenn zarte Klänge,
sanfter Hauch
und feines Lichterspiel
die Sinne irritieren
und deine Fühlwelt reicher macht,
dann ahnst du doch die Grenzen deiner Sicht,
das Schattenspiel im Licht.
Und deine Ahnung trägt dich weiter
in ein Land,
an dem die Phantasie sich bricht.
Und so sehr sie dich auch treibt,
dich reicher macht an Differenzen;
es bleibt, was immer dir auch bleibt,
im Diesseits aller Grenzen.
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Karl Otto Hondrich - ein Weiser aus dem Abendland
Wie beginnt man die Auseinandersetzung mit einem Text, von dem man die dumpfe Ahnung hat, dass er den eigenen Horizont auf eine Weise weitet, dass sich da noch einmal etwas Originelles, etwas Überraschendes ereignet? Karl Otto Hondrichs Aufsatz: Der genoptimierte Mensch – und sein soziales Erbe umfasst 15 überschaubare Seiten (in: Karl Otto Hondrich, Der Neue Mensch, Suhrkamp, Frankfurt 2001, Seite 163-178). Hondrich, geboren 1937 in Andernach, schreibt ja nicht mehr. Er kann in dieser Welt nicht mehr schreiben. Er ist im Alter von nicht einmal 70 Jahren 2007 gestorben. Beim Lesen des erwähnten Aufsatzes aus dem Jahre 2000 habe ich den Eindruck, dass die vergangenen 25 Jahre mit Blick auf die Genoptimierung uns noch einmal einen enormen Schub von Innovationen beobachten lassen:
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Wir tragen einen großen Namen - Alice und Ellen Kessler
Nun ist sie also wieder da - die Diskussion um die Sterbehilfe - die Hilfe zum Sterben. Ausgelöst wird die öffentliche Debatte durch den Freitod der sogenannten Kessler-Zwillinge, die die Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e.V. (DGHS) zum assistierten Suizid in Anspruch genommen haben. Rudi Krawitz verfügt über einen Wikipedia-Eintrag, trägt aber keinen großen Namen. Nach Antrag - ebenfalls bei der DGHS - am 1. September hat er ebenfalls den assistierten Suizid gewählt, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Rudi hat im Mitteilungsblatt der DGHS seine persönlichen Motive dargelegt. In einem zweiten Beitrag, der in der Ausgabe 1/26 des Mitteilungsblattes der DGHS erscheinen wird, legt er - anders offenkundig als die Kessler-Zwillinge - ein gewichtiges Plädoyer für die Möglichkeit des assistierten Suizids vor.
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GEO Dezember 2025: Die letzten Tage - Ein gutes Ende: Sterben lernen: Was in unseren letzten Tagen das Leben leichter macht
Auch für Hilla
In einem Geo-Themenheft würde einen - angesichts der sich beschleunigenden Klimakrise - ein Titel wie: Die letzten Tage der Menschheit nicht überraschen. Der Themenschwerpunkt im Dezemberheft befasst sich hingegen mit dem individuellen Ende, dem niemand von uns entgehen wird. Die letzten Tage - Lebensende werden eingeleitet mit der Anmerkung:
"Die meisten von uns wollen es, den wenigsten gelingt es: dem Tod zu Hause begegnen, in vertrauter Umgebung. Fotografin Nora Klein zeigt, wie Menschen diesen letzten Weg erleben. GEO-Autorin Katharina von Ruschkowski ergründet, wie besseres Sterben gelingen kann. Und warum es höchste Zeit ist, darüber zu sprechen."
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Peter Jordan: Kein schöner Land (München 2025 – dtv Verlagsgesellschaft, 153 Seiten)
Wer ist Peter Jordan? Zumindest ein von mir geschätzter deutscher Schauspieler, Jahrgang 1967. Arno Frank ist vier Jahre jünger; zuletzt ist er mir begegnet mit Ginsterburg (Stuttgart 2025 – Klett-Cotta, 427 Seiten). Peter Jordan ist 15 Jahre jünger, Arno Frank ist 19 Jahre jünger als ich – weit weg von mir und meiner Sozialisation in den 50er und 60er Jahren.
Zunächst einmal will ich meiner Enttäuschung Raum geben – vor allem Arno Frank gegenüber, der in einem SPIEGEL-ESSAY Erwartungen geweckt hat, die sein Roman nicht einzulösen vermag. Ginsterburg bleibt – trotz einiger eindrücklicher und sprachsensibler Milieuschilderungen merkwürdig unbelebt; die Figuren wirken leblos und flächig - ohne Tiefengrund. Die Einstreuung von Dokumenten vermag nur ansatzweise zu überzeugen. Was Arno Frank sozusagen in eigener Bedrängnis in seinem SPIEGEL-Essay zum Ausdruck bringt, wird durch seinen Roman nicht eingelöst.
