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Eva von Redecker - Bleibefreiheit II

hier: Bleibefreiheit I

Am 7.4.2012 eröffnete der SPIEGEL mit einem Blick ins Rheintal bei St. Goarshausen mit der Frage: „Was ist Heimat? – Eine Spurensuche in Deutschland“

Auf Seite 67 wird der „Heimathasser“ Altmann vorgestellt:

„Altmann ist ein extremes Beispiel für den ‚Losgelösten‘, wie das in der Soziologie heißt. In der modernen Welt sind Aufbrüche häufig gewünscht oder notwendig. Man verlässt sein Dorf, weil man anderswo bessere Chancen für sich sieht. Man verlässt sein Land aus dem gleichen Grund. In der globalisierten Welt sollen die Menschen besonders flexibel sein, mobil sein, sie sollen ihre Heimaten jederzeit hinter sich lassen können, räumlich wie geistig oder moralisch. Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt in seinem Buch Im Weltinnenraum des Kapitals: ‚In ihrem Fortgang sprengt die Globalisierung Schicht für Schicht die Traumhüllen des bodenständigen, des eingehausten, des in sich selbst orientierten und aus Eigenem heilsmächtigen Kollektivlebens.‘
Die Globalisierung mutet ihren Nomaden Aufbrüche ohne Ankünfte zu. Das Leben spielt sich zum großen Teil an Nicht-Orten ab, an Flughäfen, in Hotels, Konferenzräumen. Sie sind auf Flüchtigkeit eingerichtet und nicht zu unterscheiden, weshalb sie nicht Heimat sein können. Heimat braucht Dauer, und Heimat ist spezifisch.“ Wie sieht die Welt zwischen eingehaust und unbehaust aus?

Jupp's BLOG - Seite 100 nach neun Jahren(:-)))

Ist das ein Grund zum Feiern? Oh, ja - mit Adrian gemeinsam begehe ich dieses Jubiläum beglückt und beeindruckt gleichermaßen. Was mir aus professionellen Erwägungen und sanftem Druck 2014 anempfohlen wurde, hat sich als einmalige Chance herausgestellt. Seit 25 Jahren schreibe ich regelmäßig Tagebuch. Der Blog entstand ab 2014 parallel dazu: Seminarbetrieb und Arbeitsorganisation, Tranzparenz, Kontinuität und Zugänglichkeit erreichten durch den Blog ein neues Niveau. Inzwischen sind die professionsbezogenen Seiten weitgehend obsolet und folgerichtig in den Hintergrund getreten. Unmittelbar verbunden mit der Professionalisierung meiner beruflichen Präsenz stellten sich die Vernetzungsmöglichkeiten sehr schnell als Quantensprung in mehrfacher Hinsicht heraus:

  • Sie erlaubten quantitativ und qualitativ einen neuen Zugang zu Informationsquellen und den Möglichkeiten ihrer Vernetzung;
  • Erhöhung der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der professionellen Schwerpunktsetzungen: Biographieforschung, theoriebezogene Validierung der bevorzugten bzw. vertretenen Theorie- und Praxisangebote; Professionalisierung der LehrerInnenausbildung (Lehrergesundheit, Selbstbilder, Vermittlung und wechselseitige Befruchtung aufbrechender und abschiedlicher Perspektiven);
  • unter der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass die Repräsentation von Außenwelt immer nur eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation sein kann, ereigneten sich Forschung und Lehre insgesamt mit einem signifikant erhöhten Grad an Transparenz und Nachvollziehbarkeit;
  • mit der Versetzung in den Ruhestand 2017 verlagerte sich dieser Anspruch vollends auf die Pflege deutlich intensivierter Blogaktivitäten, die - bei geringer, und im Übrigen auch nicht beabsichtigter öffentlicher Resonanz - in erster Linie der Selbstvergewisserung dienen. Die lange gepflegte Beobachterperspektive (Demenztagebuch) in Richtung meines Schwiegervaters und meiner Schwiegermutter verschiebt sich unterdessen mehr und mehr zu einer Perspektive der Selbstbeobachtung. Aus diesen Erwägungen heraus erscheinen mit meine eigenen Blogaktivitäten als Gradmesser für die Differenziertheit und Intensität meiner Selbst- und Weltbeobachtung.

Auf diese Weise haben also unterdessen nicht nur die großen Vorhaben und Projekte Eingang gefunden in dieses komplexe Bloggeschehen. Die Zugänglichkeit der veröffentlichten Beiträge über ein Schlagwortregister zeigt einerseits das Profil meiner Interessen und ermöglicht andererseits einen etwas systematischeren Zugriff. Darüber hinaus erweist sich eine Suchfunktion als hilfreich, in die man Namen oder auch einfach thematisch interessierende Begriffe eingeben kann. Daneben sind, wie gesagt, zentrale biographische und familiendynamische Projekte zugänglich: mit Hildes Geschichte, mit meinen eigenen autobiographisch motivierten parforce-Ritten: Kurz vor Schluss I und Kurz vor Schluss II. Das erwähnte Demenztagebuch ist seit Jahren online und bildet nach wie vor eines der zentralen Projekte. Meine damit unmittelbar in Zusammenhang stehende Tätigkeit als Herausgeber von Rund um den Laubenhof zeugt von der intensiven Auseinandersetzung mit der Situation der Alten und ganz Alten in unserer Gesellschaft; meine Generation gehört dazu.

Unter der Rubrik Wie alles anfing im Startmenü werden die seinerzeitigen Anfänge und die zentralen Motive des Blogunterfangens zusammengefasst. Von dort aus haben sich die Akzente deutlich verschoben, wobei sich das Bemühen um Aufklärung und Selbstaufklärung - auch im Bewusstsein der generell unaufhebbaren blinden Flecken - nach wie vor als einer der Hauptantriebe erweist.

Die Einmischung in politische Debatten und gesellschaftliche Diskurse halten mich wach - und umgekehrt wird ein Sinn daraus: Solange ich mich einmische, bin ich hoffentlich wach und auf der Höhe meiner Möglichkeiten; ein zentrales, aktuelles Beispiel ist mit der russischen Aggression der Ukraine gegenüber gegeben.

wird forgesetzt

Bleibefreiheit und Bleibezwang

Einige Rückmeldungen auf den Beitrag Bleibefreiheit sind interessant und versprechen, dass es zumindest Gesprächsanlässe gibt. Der Beitrag basiert ja auf dem Interview im aktuellen SPIEGEL (21/23). Während mich dieses Interview schlicht unmittelbar angefressen hat, mich positiv berührt, weil es in der Tat in einer langen öffentlichen Debatte durch eine schlichte Akzentverschiebung den berühmt berüchtigten Paradigmenwechsel anzuregen vermag, meinte einer meiner pensionistas-companeros, das Interview habe ihn nicht motiviert, das Buch zu lesen. Aus dem Westerwald höre ich: "Ein weiterführnder Beitrag, sehr gut. Ein Artikel, für den ich normalerweise 3 Tage bräuchte, habe ich angespornt durch unsere gestrige Diskussion in 30 Minuten gelesen." Eine weite Spanne, die aber möglicherweise der Tragweite des Denkens von Eva von Redecker nicht ganz gerecht wird. Ich verlinke hier einmal - exemplarisch - ein Interview, das Elisabeth von Thadden mit Eva von Redecker bereits am 28. Mai 2021 geführt hat, also vor zwei Jahren. Schon damals stand der Begriff der Bleibefreiheit im Mittelpunkt (morgen erscheint bei S. Fischer die Monographie, 160 Seiten für 22 Euro). Vielleicht erscheint es der/dem ein oder anderen übertrieben von einem möglichen Paradigmenwechsel zu sprechen. Ich sehe ihn aus zwei Erwägungen heraus als drohende bzw. als erlösende Perspektive - je nach dem, welchen Freiheitsbegriff man favorisiert. Eva von Redecker sorgt - wie oben bemerkt - durch eine vermeintlich unauffällige Akzentverschiebung für eine komplette Irritation unserer bisherigen Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten. Dies gelingt ihr, indem sie dazu anregt - statt in räumlichen - in zeitlichen Bildern nachzudenken; die räumliche durch eine zeitliche Metapher zu ersetzen. Dies irritiert so vollkommen, weil die meisten von uns, die immer wieder das Fieber packt, fortzukommen von dem Ort, an dem sie sind, Bleibefreiheit bisher gar nicht denken konnten. Wir haben allenfalls die negative Variante eines Bleibezwangs verinnerlicht - zumal in totalitären Regimes, wie sie von der DDR repräsentiert wurden. Im Duden suchen wir vergeblich nach Begriffen wie Bleibefreiheit oder Bleibezwang; letzteres ist uns als freiheitseinschränkender staatlicher Eingriff in Freiheitsrechte immerhin vertraut, wurde mit Blick auf die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im Rahmen des Corona-Pandemiemanagements von vielen Bürgern in der Bundesrepublik auch entsprechend wahrgenommen und empfunden.

Eva von Redecker - Bleibefreiheit I

Eva von Redecker stellt sich im Klappentext zu BLEIBEFREIHEIT (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023) als Philosophin und freie Autorin vor. Weiter ist zu lesen, dass sie als Wissenschaftlerin in Berlin, New York und Cambridge tätig war und zuletzt Marie-Sklodowska-Curie-Fellow an der Universität von Verona war. Sie beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik… seit Mai verfasst sie regelmäßig die Kolumne Ohne Geländer im Philosophie Magazin. Es ist zu lesen, aufgewachsen auf einem Biohof lebe sie heute im ländlichen Brandenburg.

Auffällig ist, dass in  B L E I B E F R E I H E I T  nicht die Rede von Heimat im traditionellen Sinn ist. Ihre Argumentation ist nüchtern und in ihren Grundunterscheidungen messerscharf. Man kann offenkundig in einem radikal veränderten Umfeld mit tiefgreifenden umweltbezogenen Veränderungen eine Idee von Bleibefreiheit entwickeln, die aber so gar nichts mit Heimattümelei zu tun hat.

Ich werde mich Seite für Seite durch diesen nur 159 Seiten umfassenden Essay lesen und ihn in gewohnter Manier kommentieren. Das heißt – wie bereits in den beiden kurzen Beiträgen angedeutet -, dass mir in erster Linie die Parallelen am Herzen liegen, die mein Denken und Fühlen und Schreiben seit Jahrzehnten schärfen, und die in Eva von Redeckers Auslassungen einen systematisch begründeten Werde- und Bleibeort vorfinden.

Die Ankunft der Schwalben (Seite 7-24) könnte uns dazu verleiten, eher eine Heimat in den Blick nehmende und verbürgende Perspektive zu vermuten. Die in den fünfziger und sechziger Jahren Aufgewachsenen – aber auch Eva von Redecker (Jahrgang 1982) werden in der Tat konfrontiert- oder besser im besten Sinne erinnert – mit bzw. an ein(em) Phänomen, dass so selbstverständlich war, dass wir ihm keinerlei Bedeutung zumaßen. Da muss erste eine junge Frau daherkommen, um einem gewohnten, selbstverständlichen Ereignis die Aura des Besonderen, die symbolische Bedeutung eines zeitenwendigen Phänomens zu attestieren. Der erste Satz:


Eva von Redecker: Bleibefreiheit - Freiheit besteht aus erfüllter Zeit

(meint auch Friedemann Schulz von Thun)

"Nimm mich (sagt Luisa Neubauer), ich habe so viele Tonnen CO² auf mein Konto geladen, dass es jetzt schon nicht mehr aufgeht. Und ich bin 25. Ein Teil davon geht auf ein privilegiertes Setting zurück. Aber der größte Teil geht auf die Menge an CO², die Menge an Umweltzerstörung zurück, die wohlständige Gesellschaften infrastrukturell ausstoßen. Es funktioniert einfach nicht: Es gibt kein nachhaltiges Leben in einer nicht nachhaltigen Welt."

Ein ökologisch bewusstes Ausrichten des individuellen Lebensstils wird nicht ausreichen, um der infrastrukturellen Kosten, die wohlständige Gesellschaften verursachen, Herr zu werden. Umdenken oder untergehen, meint jeden Einzelnen, aber zuvorderst die Wohlstandsgesellschaften zur Gänze.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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