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Es ist später als ihr denkt! (Günter Franzen)

In den eigenen Auslassungen zu stöbern bedeutet unterdessen – nach gut zehn Jahren – sich in über 500 Beiträgen umzutun. Die Anregungen dazu speisen sich sowohl aus einem öffentlichen Diskurs, wie er uns – massenmedial vermittelt – allen zugänglich ist. In manchen Fällen resultieren sie jedoch aus jenen Wendepunkten im Leben, an denen sich entscheidet, ob – und wenn ja – wie wir weiterleben können bzw. wollen. Den radikalsten Einschnitt und Wendepunkt mit unabsehbaren Folgen habe ich zuletzt, seinem dreißigsten Jahrestag geschuldet, nur noch mit dem Namen meines Bruders Wilfried Witsch versehen.

Elke Heidenreich (81) lässt in einem Interview in der Juli-Ausgabe von chrismon (DAS EVANGELISCHE MAGAZIN) aufhorchen:„Der Dichter Jean Paul hat gesagt, dass bei der Geburt eines Menschen ein Pfeil abgeschossen wird, und in der Todesstunde trifft er. Ich höre den Pfeil manchmal schon sirren, aber das macht mir keine Angst. Mit 40 oder 50 zu sterben, ist tragisch, aber in meinem Alter hat das keine Tragik mehr. Ich kann den Tod akzeptieren.“

Man kann das natürlich auch anders sehen, so wie beispielsweise Elias Canetti, den Todesverächter par exellence, der den Tod über seinen eigenen Tod hinaus als Skandalon betrachtete. Günter Franzens Es ist später als ihr denkt, muss und soll uns aufschrecken, wenn wir uns angesichts des unaufhebbaren mors certa - hora incerta in unsinnigen Streitereien, im Unwesentlichen verlieren. Im besten Falle werden die Alten klug, ob der Tatsache, dass sie sterben müssen - alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Ich muss an dieser Stelle bekennen, dass es Beoabachtungen sind - Beobachtungen von schmerzhaften Trennungsprozessen mit all den erniedrigenden und folgenreichen wechselseitigen Verletzungen und Kränkungen -, die deutlich machen, dass ich bzw. meine Generation in der Regel außerstande ist, eigene Erfahrungen mit den Nachwachsenden zu teilen. Der im Nachgang in den Raum gestellte Appell von Karl Otto Hondrich ist und bleibt eben Vermächtnis - auch in seiner Ambivalenz. Erkenntnis und Bedauern über eigene Fehler ergeben sich häufig erst im Rückblick. Zukunft wird erst transparent und lesbar, indem sie vergangen ist - eben im Rückblick. Oft fällt es schwer den im Beziehungschaos Driftenden in ihren Irrungen und Wirrungen zuzuschauen - zumal wenn Kinder im Spiel sind. Auch Ratschläge sind Schläge; ihrer potentiellen heilsamen Wirkung wird man erst gewahr, wenn man Abstand zu der Dynamik der eigenen Beziehungs- und Familiendynamiken gewinnt. Dann ertappt man sich als potentiellen und potenten Ratgeber, dem keiner mehr zuhört.

Beim Stöbern in meinem Blog stieß ich auf das folgende Nachwort zu einem Buch, das Tina Schneider gewissermaßen mit ihrem eigenen Herzblut geschrieben hat. Dabei handelt es sich um die seismografische Aufzeichnung und Verarbeitung eines Wendepunktgeschehens, das gewissermaßen der anderen Seite existentieller Turbulenzen geschuldet ist: Wie fällt man in die Liebe, und wie entkommt man ihrem Sog, ohne zu ertrinken? Ich kann die Lektüre nur empfehlen, und ich verlinke es nachstehend, so dass der Text freigegeben wird. Vielleicht mag der/die ein oder andere nachvollziehen, mit wie viel Herz- und Hirnschmalz seinerzeit Jörg Picone den Text gesetzt hat, so dass er der Dynamik des Geschehens gestalterisch einigermaßen gerecht wird.

Auch im Nachhinein – mit einem Abstand von fast 14 Jahren – erscheint es mir immer noch überaus ungewöhnlich und bemerkenswert, wie sehr – bei aller achterbahngeschuldeten Verrücktheit – des Geschehens Tina Schneider als Mittzwanzigerin neben den Höhen und Tiefen einer amour fou den vernunftgeschuldeten Appell Karl Otto Hondrichs schon verinnerlicht hatte. Mit diesem Appell und seinen Ambivalenzen und Widersprüchen umzugehen, war aber – wie der Verlauf der Geschichte zeigt – beiden Protagonisten aufgegeben. Wie Tinas Geschichte weitergegangen ist, möchte ich wenigstens mittels einer kleinen Facette offenbaren, die ich ganz an das Ende der hier wiedergegebenen Texte anhänge. Das Nachwort gibt es nämlich nicht ohne die Einführung (im Anschluss ans Nachwort). Immerhin kann man heute erkennen, dass meine Wünsche für Tina sich in einer weiteren, existentiell richtungsweisenden Wegmarke erfüllt haben. Und auch hier vermittelt Tina eine bemerkenswerte Reife.

Nachwort zu Papa Anna Bleiben im Dezember 2010 bzw. im November 2011

Das Nachwort in der aktuellen Ausgabe war eigentlich als Vorwort für die Ausgabe des Buches gedacht, die schon Weihnachten 2010 erscheinen sollte. Aber erst – mit einigem zeitlichen Abstand – bieten sich die Lösungen zur endgültigen Fassung und zur Gestaltung an. Dem Wolfgang (Niedecken) geht es Gottseidank auch wieder besser. Zu seiner gesundheitlichen Krise im zeitlichen Kontext des Erscheinens dieses Buches passt die Mahnung von Günter Franzen (siehe weiter unten) an uns alle:

Es ist später, als ihr denkt!

Seit Jahren gestatte und vergönne ich meinen Studenten und mir ein Seminar zur „Kommunikation in Grenzsituationen“: „Was passiert, wenn das Unfassbare passiert?“ Sich eine Wachheit für letzte Fragen zu erlauben, gehört heute im B/M-geprägten Hochschulbetrieb zu den Privilegien, die von der Freiheit von Forschung und Lehre (noch) gedeckt werden. Noch kann man sich die Freiheit nehmen, mit Hilfe einer abstrakten Wissenschaft wie der Soziologie systemtheoretischer Prägung, die Grenzen und die Begrenztheit unseres alltäglichen Handelns in der Welt – auch im Sinne unseres alltäglichen Scheiterns – besser zu verstehen und zu begreifen. Seit mehr als 40 Jahren begleitet mich die erste Strophe eines Gedichts von Gottfried Benn

Kommt

Kommt, reden wir zusammen
Wer redet ist nicht tot -
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Miteinander reden im Sinne eines Gesprächs erscheint mir seither als eine der Ur-Formen des Sich-Bildens, auch des Bildens von Gemeinschaft, auf die wir als soziale Wesen doch so existentiell angewiesen sind. Wie begrenzt und gefährdet die Möglichkeiten des Gesprächs allerdings erscheinen, das ist mir erst über Niklas Luhmanns Versuch deutlich geworden, die Frage zu beantworten, was denn Kommunikation sei (Opladen 1995 - hier auch in einer überblicksartigen Kurzfassung). Und das Gespräch bedient sich zweifelsfrei jener Basisoperation, auf die soziale Systeme unabdingbar angewiesen sind (Niklas Luhmann würde sagen, sie bestehen aus nichts anderem als): Kommunikation!

Er weist in seiner soziologischen Theoriebildung darauf hin, dass es von großer Bedeutung sei, an der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation festzuhalten. Seine Begründung ist simpel und recht einfach nachzuvollziehen. Er geht davon aus, dass die Wahrnehmung zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz bleibe:

„Sie (die Wahrnehmung von etwas) ist innerhalb des kommunikativen Geschehens nicht ohne weiteres anschlussfähig. Man kann das, was ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestätigen und nicht widerlegen, nicht befragen und nicht beantworten. Es bleibt im Bewusstsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewusstsein intransparent.“

Niklas Luhmann beschreibt also im Sinne von Innen (=Bewusstsein) und Außen (=Kommunikation) mit „Bewusstsein“ die „innere“ Seite. Zur „äußeren“ Seite gelangt Niklas Luhmann, indem er deutlich macht, dass eine „interne“ Wahrnehmung natürlich „externer“ Anlass werden kann für eine folgende Kommunikation:

„Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, z.B. nur in Sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schweren Bedingungen.“

Das Sichtaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren kommt im Alltag dem gleich, was Peter Sloterdijk im Hinblick auf die Poesie mit Paul Celan feststellt, nämlich, dass sich die Poesie nicht aufzwinge, sondern sich aussetze. Aber weit über die poetische Selbstaussetzung hinaus meint Peter Sloterdijk, dass das Sichaussetzen und Sichhinaushalten in einem ganz allgemeinen Sinne „konstitutive Bewegungen des Menschen sind (Sloterdijk 1988)“. Da im Sinne Niklas Luhmanns „nur die Kommunikation die Kommunikation erreichen und beeinflussen kann“, erweisen sich die gruppeninternen Prozesse als außerordentlich diffizil und störanfällig.

Peter Sloterdijk weist in Band 3 seiner Sphären (2004, S. 404-411) - Das Erototop - Eifersuchtsfelder, Stufen des Begehrens  - darauf hin, dass insbesondere die erotischen Prozesse in der Gruppe die Grundform des Wettbewerbs vorgeben – „ausgelöst durch die Beobachtung des Strebens anderer nach der Beschaffung von Seins-, Besitz- und Geltungsvorteilen“. Um den Gruppenzusammenhalt nicht permanent zu gefährden, gehört seiner Auffassung nach zur Gruppenweisheit ein Eifersuchtsmanagement, das dreidimensional ansetzt:

„Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll.“

Nach der Lektüre von Tinas Bericht aus dem Liebesalltag dürfte relativ schnell klar werden, warum ich meiner Einführung nun noch ein theorieschwangeres Nachwort zur Seite stelle. Neben dem Dank für eine äußerst instruktive Auseinandersetzung mit den liebesgeschuldeten Wendepunkten im Leben, hilft mir Tinas Erzählung den eigenen Mythen und Begrenztheiten noch einmal auf die Spur zu kommen und sie im Sinne Niklas Luhmanns besser einordnen zu können: „Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“

Lange habe ich darüber gerätselt, welche Motive mich umtreiben, dieses Buch mit zu gestalten und ihm zu einer Existenz im sozialen Raum zu verhelfen. Zweifellos ist da einerseits eine Faszination und eine Verblüffung von Anfang an darüber, wie es einer jungen Frau gelingen kann – tief verstrickt in eine romantische Liebesgeschichte, sozusagen just in time – nicht nur amüsant und sprachmächtig, sondern gleichermaßen distanziert bis selbstironisch und mit viel Humor gewürzt ein außerordentliches Lesevergnügen zu kreieren.

Mit fremdem Blick, mit dem distanzierten Blick jemandes, der die romantische Liebe ebenso wie das verstrickende Dreieck kennen gelernt und der Liebesglück und Liebesnot erlebt hat, wendet sich die Perspektive und findet Anschluss an die Mohnfrau (Koblenz 2010), die mit einem Zuruf von Karl Otto Hondrich und seiner gleichzeitigen (selbst)kritischen Relativierung beginnt:

„Wenigstens den nachfolgenden Generationen und eigenen Kindern möchte ich manchmal zurufen: Ihr habt doch eure Entscheidungsfreiheit als Individuen. Also nützt sie auch. Macht endlich Schluß mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder, macht es besser als eure Eltern, rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus (2004, 166)!“  

Und:   

„Kaum ist der Aufruf, in Gedanken, heraus, bleibt er mir schon im Halse stecken. Nicht nur, daß jeder Rat von Alten an Junge für diese zu früh kommt. Nicht nur, daß ich selbst, wäre ich jünger, ihm vielleicht nicht folgen könnte. Nicht, daß ich mich der Hau-Ruck-Pädagogik schämen würde; sie hat dem verständnisvollen Nicken und Bedauern wenigstens die wütende Klarheit voraus. Aber der Appell selbst beruht auf einer Unklarheit: Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise ‚Ihr schafft es!’ darf deshalb die andere ‚Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!’ nicht fehlen (2004, 166f.).“

Tendenziell, aber nicht zur Gänze löst sich die trianguläre Spannung in Papa Anna Bleiben!, indem Papa wohl bei Anna (und der Familie) bleibt!? Und vielleicht integriert Tina ja – mit wachsender Distanz zu den Geschehnissen die ganze Geschichte in ihre dann reichere und differenzierte Erfahrungswelt. Schon die mit heißer Nadel aufgezeichneten Erlebnisse offenbaren eine eher verblüffende Reife und Abgeklärtheit, mit der hier auf überaus eindrucksvolle Weise die Wirkungen und Dynamiken beschrieben werden, die beispielsweise mit Dreiecksbeziehungen einhergehen.

Wenn ich aber Tinas Geschichte in einen Zusammenhang rücke mit dem hier angebotenen Hinweis: „Es ist später, als ihr denkt!“ – dann rücke ich selbstverständlich meine eigenen Erfahrungen und Präferenzen als Beobachter in den Mittelpunkt. Und die decken sich unterdessen zweifellos mit dem, was Karl Otto Hondrich in seinem letzten Buch „Weniger sind mehr – Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist“ (Frankfurt 2007) auf der Seite 119 vermerkt:

„Da wir die Ehe heute auf erotischer Liebe bauen, die Liebe aber eine tragische Bindung ist, ist Tragik in Ehe und Familie eingeschlossen. Je mehr wir nach lebenslanger – also immer längerer – Liebe und Leidenschaft verlangen, je mehr wir unsere Ansprüche an Harmonie steigern, desto sicherer sind Scheitern und Scheidung vorprogrammiert.“

Mit diesem Hinweis nimmt nur einer von vielen argumentativen Mosaiksteinen Gestalt an, die Karl Otto Hondrich zur Relativierung des oben erwähnten Zurufs an die nachfolgenden Generationen und die eigenen Kinder veranlassen. Was uns möglicherweise dennoch im besten Sinne des Wortes zur Besinnung bringt, sind zwei weitere Aspekte, die er anspricht: Einerseits regt Hondrich trennungswillige Paare an, darüber nachzudenken, ob sie die bestehende Bindung „auf dem Altar einer kollektiven Vorstellung von Harmonie und Liebe“ zu opfern bereit sind und ein „kollektives Liebesideal“ über die „individuelle Liebesbindung“ obsiegen lassen. Dies gilt es seiner Auffassung nach erst recht zu bedenken, wenn aus einer Liebesbeziehung Kinder hervorgegangen sind. Es stimmt zwar:

„So vergänglich die Liebe des Paares, so unvergänglich die zwischen Eltern und Kind. Dies ist keine Bindung der freien Wahl, sondern, wenn die Zeugung erst erfolgt ist, eine Schicksalsbindung für beide Generationen (Hondrich 2007, S. 120).“

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung trifft, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück (Hondrich 2004, S. 164).“ Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben (Hondrich 2004, S. 164).“

Genau in diesem Sinne wird Papa Anna Bleiben zu einem grandiosen Lehrstück – ja man darf und man soll angesichts der formprägenden und sprachgewaltigen Verarbeitung von Liebe, Angst oder Trauer – finaler Strömungen, wie Gottfried Benn meint, etwas erwägen können, was unseren Erkenntnis-, Erlebens- und Tätigkeitshorizont erweitert. So sehr auch Streit und Konflikt den Normalfall in Paar- und Familienbeziehungen prägen, so sehr erinnern sich die meisten Menschen an die in der Einführung wachgerufenen Zeiten in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien (siehe Einführung).

Das von David Schnarch (siehe Einführung) in den Vordergrund gerückte Vergnügen spiegelt aber häufig nur die eine Seite der Medaille. Vor allem verstrickende Dreiecksbeziehungen werfen sehr schnell ein gleichermaßen grelles wie schmerzendes Licht auf Beziehungsdynamiken, in denen die freie Wahl und die Schicksalsbindungen, von denen Karl Otto Hondrich spricht, einander ins Gehege kommen. Zeiten des Höhenflugs und der Schmetterlinge im Bauch wechseln häufig mit Abstürzen und zwingen zur Besinnung und zur Klärung.

Den größeren Kontext, in den ich nun ich nun Tinas grandiosen Liebesbericht stellen kann und darf, verdanke ich einem Hinweis, den mir ein guter Freund, Rudi Krawitz, vor einem Jahr zukommen ließ: „Es ist später, als ihr denkt – Ein Gespräch an Allerseelen über den Tod. Mit Dörthe Kaiser, Buchautorin und Witwe des Soziologen Karl-Otto Hondrich, sowie Günter Franzen, Autor, Psychotherapeut und ebenfalls Witwer, sprachen Christiane Hoffmann und Volker Zastrow“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 7.11.2010, Nr. 44, S.2).

Besinnung ist nur in einem größeren Kontext von Wahrnehmung und Reflexion möglich; ein Zustand akuter Verliebtheit, der bio-psycho-soziale Overkill verunmöglicht solches zur Gänze; in diesem Zustand findet das ganze Leben auf einer galaktischen Einbahnstraße in Lichtgeschwindigkeit und ohne Rückspiegel statt. Tina Schneider schreibt mit heißer eigenblutgetränkter Nadel und dennoch – manche mögen dies allein schon für verwerflich und für einen Authentizitätsbruch halten – gelingt es ihr mit Humor, (Selbst)Ironie und analytischer Schärfe immer wieder kühle Umschläge auf fiebernde Stirnen zu legen, emotionale Herzblutattacken werden anschließend mit dem Skalpell der Vernunft gnadenlos und perspektivenreich seziert. Dass beide zur Besinnung kommen und dass Tina ihrem abgestürzten Helden – im Grunde genommen wider Willen und ganz gegen ihre Interessen – diese Besinnung im Angesicht der Mahnung „Es ist später, als ihr denkt“ ermöglicht, dass macht sie gleichermaßen wider Willen zur eigentlichen Heldin der Geschichte.

Es ist später, als ihr denkt! In der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte (NG/FH, 1/2/2010, S. 101-104) könnt ihr Günter Franzens Kurze Geschichte ihres Todes lesen. Günter Franzen lässt im Verlauf des „Gesprächs an Allerseelen über den Tod“ die Schwierigkeiten verlauten, die er nach dem Tod seiner Frau vor allem in seiner paartherapeutischen Arbeit empfindet:

„Ich habe ja Jahrzehnte als analytischer Paartherapeut gearbeitet, nun kann ich die Paare nicht mehr hören. Ich würde sie am liebsten ohrfeigen, wenn sie ihre schmutzige Wäsche waschen, oder wenigstens sagen: Es ist später, als ihr denkt.“

Selten, eigentlich nie, hat mich ein vierseitiger Bericht so sehr fasziniert, so sehr erschüttert, so lange – stundenlang – frösteln lassen, wie die „Kurze Geschichte ihres Todes“: Wie der „Talmipanzer des narzisstischen Blenders in das Kleid eines Narren“ verwandelt wird; wie der 50jährige doch noch der Gnade „des herbeigesehnten, sehenden Gesichts; offener Augen, die dich umfangen halten mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen“ teilhaftig wird; wie „unter dem Müll vermeintlicher Auswegsfülle, aus den verleugneten und verschütteten Quellen zweier katholischer Kindheiten jenseits verschlissener Liebesschwüre ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit aufsprang, ein ernster Glaube, der dem romantischen Furor und der wechselseitigen physischen Anziehung keinen Abbruch tat“, dies markiert mit den nachfolgenden Auslassungen die Grenzen menschlicher Erfüllung:

 „Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit. Credo quia absurdum, das heißt, es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach 20-monatiger Adventszeit bestaunten eine nicht mehr ganz junge Frau und ein Mann in fortgeschrittenem Alter das atmende Wunder, das sie selbst hervorbringen durften: Ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein. Ein dankbares Paar, eine Handbreit über den Niederungen des Alltags, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie uneinklagbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott war mit den Liebenden, zehn Jahre oder dreitausendsechshundertfünfzig Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.“

Was nun kommt – lest selbst! Das „Es ist später, als ihr denkt“ hat natürlich bei Günter Franzen den realen, brutalen Verlust zur erbarmungswürdigen Grundlage: „Der Engel, der im Auftrag des Herren die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundliche lächelnde Leiter der onkologischen Abteilung.“ Am Ende, ganz am Ende, wo die Verlorenheit allumfassend und unausweichlich ist, wo der Verlust übergroß ist, findet Günter Franzen noch einmal den Weg zu einer Sprache, mit der nicht nur allein der Schmerz Gestalt annimmt, sondern wo um die „Versuchung des Kitsches und der Versöhnung“ ein Blick nach vorne gelingt:

„Ich weiß nicht, ob ich diesen Gefahren entgehe, wenn ich behaupte, dass es nicht der Bindungslose, sondern der Liebende ist, der mit einem Schmerz belohnt wird, der ihn gleichzeitig zu zerbrechen droht. Demnach ist die Trauer der Preis, der dafür zu entrichten ist, Liebe empfinden zu dürfen. Es ist kein Trost, aber ich bin bereit, den Preis für diese einmalige Liebe zu zahlen: Gestern, heute, morgen.“

Mag sein, dass ich Tinas Bericht damit zu einseitig vereinnahme, dass ich mit dem mors certa, hora incerta im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument bemühe. Deshalb mach ich es zum Schluss noch einmal etwas versöhnlicher, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass wir alle sterbliche Wesen sind. Aber auch wenn ich Rosemarie Welter-Enderlin das Schlusswort überlasse – auch dieser lange, gediegene Hinweis soll unter dem Gesamtmotto stehen: Es ist später, als ihr denkt! Und er mahnt uns, er ermöglicht uns, die Wendepunkte in unsrem Leben noch einmal (oder unter Umständen) erstmals zu sehen und zu würdigen:

„Die Angst vor dem Neuen bewirkt oft starres Festhalten an bisherigen Vorstellungen, an den sich selber und dem Partner zugeschriebenen Bildern. Selten verändern sich Partner gleichzeitig. Meist wird vorerst nur der eine durch innere und äußere Ereignisse herausgefordert, mit dem Bisherigen unzufrieden zu sein, ohne dass er oder sie genau weiß, was diese Ereignisse bedeuten; Schlafstörungen, die Sucht zuviel zu essen, zu trinken, zu rauchen oder zu arbeiten, die Flucht in Phantasien, Depression oder plötzliche romantische Verliebtheit können solche Zeichen sein. Wenn sie nicht entziffert werden, weil der oder die Betroffene Angst hat vor ihrer Bedeutung, oder wenn der Partner/die Partnerin voll Schreck und Panik festhält am Bisherigen, entstehen oft entsetzliche Polarisierungen: Je mehr sie z.B. versucht, Flügel auszubreiten, eigene Bereiche zu entwickeln, desto mehr verfolgt und bedrängt er sie, desto mehr grenzt sie sich ab…Je mehr er z.B. flieht in Arbeit oder Sucht, desto mehr rackert sie sich damit ab, die ganze Verantwortung für die Familie zu übernehmen, desto abhängiger wird er von der Sucht und sie von der Überverantwortlichkeit. Nicht die Krisen, die in solchen Übergangssituationen auftreten, sind gefährlich. Gefährlich wird es dort, wo einer an den alten Vorstellungen festhält und der andere nicht fähig ist, mit ihm neue auszuhandeln oder einen eigenen Weg zu suchen. Ich meine, dass der Mythos der romantischen Liebe, wonach ein Paar zusammenkommt und fortan glücklich ineinander verschmolzen lebt, eine entsetzliche Form von Zwang darstellt. Er bewirkt, dass normale Übergangskrisen nicht bewältigt werden und dass eine Beziehung einfriert. Wir reden oft vom frohen Ereignis, wenn wir vom kritischen Ereignis reden müssten und signalisieren damit, dass Krisen nicht zu solchen Übergängen gehören dürfen. Heirat, die Geburt eines Kindes, Schuleintritt, Wiederaufnahme der Arbeit durch eine Frau, berufliche Stagnation des Mannes in der Lebensmitte, Tod der Eltern und Ablösung der Kinder, sie alle sind kritische Ereignisse, welche den Entwurf neuer Szenarien nötig machen (Welter-Enderlin 1998, S. 177ff.).“

Ich wünsche uns allen, die wir vor solchen Übergängen und Wendepunkten stehen – vor dem Eintritt in den Beruf oder in den Ruhestand, in der Konfrontation mit schmerzlichen Verlusten und in der Beglückung durch freudige Ereignisse, uns allen, die wir vor dem Spiegel unserer Wünsche, Visionen und Obsessionen stehen – die Kraft und den Mut das Leben zu nehmen und es nicht, wie Max Frisch so häufig mit Blick auf sein eigenes Leben meinte, zu verfehlen.

Josef/Justus

 

Einführung zu Papa Anna Bleiben

Fährmann hol mich über! Oder: Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann)

Vor ein paar Jahren ritt Jochen Bittner in der Folge 3 der Artikelserie „Wo sind die Kinder?“ in der ZEIT eine heftige Attacke gegen die „Hoffnungsträger der Republik“ (ZEIT 6/04). In Wirklichkeit seien sie eine hoffnungslose Brut, zwischen 25 und 35 Jahre alt, die sich der Reproduktion verweigerten: Eine ganze Generation potenzieller Eltern ziehe es vor zu surfen, zu feiern…, statt auch nur einmal darüber nachzudenken, wer ihnen in vierzig Jahren die Schnabeltasse ans Bett bringen soll. Ein paar Abschnitte weiter wandeln sich die aggressiven Untertöne in ein eher sanftmütiges, von Mitleid getragenes Bedauern. Er beschreibt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mindestens einmal zu heiraten, in Deutschland mittlerweile auf 60% abgesunken ist. In den sechziger Jahren betrug sie immerhin noch 90%. Die Scheidungshäufigkeit hingegen – so Bittner - habe sich in den vergangenen Jahren hingegen verdreifacht: „Die Aussicht, dass eine Ehe zerbricht, liegt heute bei 40% (inzwischen sind es nahezu 50%, WR) – in den siebziger Jahren waren es 13%.“ All die Trends, die dahinter stehen, stellt Bittner allerdings auch in den Kontext einer Zunahme von Freiheit. Dabei siege Individualität über alte Konventionen und Moral werde zur Verhandlungssache. Trennung und Scheidung seien keine Schande mehr. Man gewinne den Eindruck, die Deutschen seien freier als je zuvor. Aber – so Bittners Schlüsselfrage: „Sind sie deswegen auch glücklicher?“ Die Antwort ist eindeutig: Nein! Die Ergebnisse vieler empirischer Studien muteten eher paradox an:

„Auf der einen Seite gehen Beziehungen immer häufiger in die Brüche, auf der anderen Seite wünschen sich auch die Jüngeren eine lebenslange feste Beziehung, und nicht von vornherein eine auf Zeit: Sie glauben an die große Liebe und träumen davon, dass sie ewig währt.“

Vielleicht liegt in diesem Wunsch das universale und Generationen übergreifende Motiv, dass Tina Schneider und mich, eine junge Frau und einen älteren Herrn, die mehr als 30 Lebensjahre trennen, dazu veranlasst, ein gemeinsames Buch zu machen. Ein „gemeinsames Buch“? Es ist Tinas Buch, dem ich lediglich eine Einführung voran schicke und ein Nachwort hintanstelle, um meinerseits zu danken und zu fragen, ob es dieses oben erwähnte Motiv tatsächlich gibt. Daneben muss man sich natürlich fragen, ob es einen halbwegs überzeugenden Grund gibt, der nicht mehr überschaubaren Flut an Büchern über die Liebe ein weiteres hinzuzufügen? Die Begründung ist so schillernd, wie Tinas Geschichte; die Geschichte einer ver-rückten und ent-rückten Tina, die im Prozess des Schreibens langsam wieder Wasser unter den Kiel bekommt, die aus einer Rosamunde-Pilcher-Schmonzette eine Sach- und Lachgeschichte bastelt, an der wir Alte uns gleichermaßen erbauen wie bilden können.

Wir jungen Alten könnten eigentlich ja schon wissen, dass die Liebe möglicherweise erst da beginnt, wo das Verliebtsein endet. Mit solchen Spitzfindigkeiten werden wir uns in Tinas Geschichte zwangläufig beschäftigen müssen, denn die meisten Liebenden waren ja irgendwann auch einmal verliebt; und selbst diejenigen, die irgendwann der Auffassung sind, sich nicht mehr zu lieben, werden im Erinnern ihrer geschwundenen Liebe häufig jenen „Ursprungsmythos“ entdecken, der mit der Erfahrung eines heftigen Verliebtseins verbunden war.

Arnold Retzer (2004) empfiehlt, sich an den Wendepunkten oder gar am vermeintlichen Ende der Liebe dieser Ursprungsmythen zu erinnern. Taub, blind und stumm gegenüber dem verblassten Zauber des Anfangs (re)agieren wir allerdings häufig so, dass wir – vom Eros machtvoll getrieben – einen neuen Mythos begründen (wollen). Wir „fallen in die Liebe“, geraten in orkanartige Turbulenzen und betreten ein Land, in dem – so beschreibt es Arnold Retzer in seiner systemischen Paartherapie – die aktuellen Mythen des Fortschritts, die Autonomie und die vernünftige Beherrschung der eigenen Lebensbedingungen radikal und folgenreich in Frage gestellt werden. Insofern bleibt die Liebe natürlich ein Skandal. Sie ist alles andere als vernünftige Beherrschung, gar Selbstbeherrschung. Was kann die Liebe denn in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die den Logiken und Zwängen des Funktionierens unterworfen ist, anderes sein als ein Skandal? Roland Barthes beobachtet 1977 im Kontext seiner „Fragmente einer Sprache der Liebe“ gar, dass wir von einer generellen Abwertung der Liebe ausgehen müssen, von einer Krankheit, von der man geheilt werden müsse. Man schreibe ihr keine bereichernde Kraft mehr zu wie früher. Allerdings hat natürlich eine solche Betrachtungsweise ihren Preis. Arnold Retzer meint, bei dieser Ausgrenzung der „unvernünftigen“ Liebe bestehe natürlich die Gefahr, dass nur noch ein vernünftiger, in keiner Weise mehr liebender Mensch zurückbleibe, für den umgekehrt aber auch die Gefahr nicht allzu groß sei, geliebt zu werden.

Von daher mag es nicht verwundern, dass ich mit David Schnarch (2004) darauf aufmerksam machen möchte, dass die meisten Menschen sich natürlich an Zeiten erinnern – meist eher die jungen Jahre – in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien:

„Sie erinnern sich an das herrliche Prickeln beim Anblick eines bestimmten Menschen und an ihren sehnlichen Wunsch, dieser möge lächelnd auf sie zukommen; sie erinnern sich an die heftige Gefühlswallung, als eine bestimmte Person ihren Arm berührte; sie erinnern sich an die unerträgliche Freude, dem geliebten Menschen unerschrocken in die Augen zu schauen. Selbst wenn die Menschen älter werden, heiraten, Kinder haben und in verantwortungsvoller Position sind, durchzuckt diese sexuelle Elektrizität sie immer wieder… Das kribbelnde Versprechen des Erotischen rüttelt einen immer noch auf, schenkt immer noch Lebenskraft und das innere freudige Erwachen, das nicht unerheblich zu dem Vergnügen und der Lust beiträgt, die man im Leben empfindet.“

Da strahlt es uns also mit der Leuchtkraft von tausend Sonnen an; das Urmotiv sich zu Erinnern, zu Erzählen, Mythen zu begründen, den eigenen VER-RÜCKTHEITEN auf der Spur zu bleiben, sich nicht gänzlich zu verlieren; die Fähre zwischen Skylla und Charybdis hindurchzusteuern, ohne dass sie zerschellt. Also schreib dein Buch, Tina! Du hast es schon geschrieben. Wie ich meine, auf eine eher ungewöhnliche Weise. Denn du lässt selbst Roland Barthes alt aussehen, der meint, dass es nicht unbedingt das Ende einer erlebten Liebesgeschichte ist, das zum Schreiben bewege. Seiner Erfahrung nach tritt der Wunsch, ein solches Buch zu schreiben, in zwei Momenten auf: „Entweder am Ende, weil das Schreiben eine wunderbare, besänftigende Kraft besitzt. Oder aber am Anfang, in einem Moment des Überschwangs, weil man glaubt, man werden einen Liebesroman schreiben – um ihn dann dem geliebten Wesen zu schenken und zu widmen.“ All diese Motive machen Tinas Geschichte zu einer schillernden Melange.

Aber dir ist noch etwas sehr viel Ungewöhnlicheres gelungen. Der „Mythos“, der in deinem Schreiben Gestalt annimmt, resultiert aus einer Unmittelbarkeit, wie sie vielleicht nur im Zusammenhang mit seismografischen Aufzeichnungen eines Erdbebens entsteht. Und dennoch wächst da Sprache, die immer in der Lage ist, diese Unmittelbarkeit zu brechen. Folgt sie einerseits den gewaltigen Ausbrüchen eines Seelenbebens, so löst sie die Bedrängnisse immer wieder auf in überraschenden und verblüffenden, selbstironischen und humorvollen Passagen, die gleichzeitig eine Metaebene des Erlebten begründen; eine Metaebene wohlgemerkt, die diesen Bericht für die Väter- und Müttergeneration von Tina zu einem beeindruckenden und lehrreichen Erlebnis werden lassen.

So sehr dieser funkelnde Diamant auch für sich selbst steht, so sehr lädt er uns Alte zu der Frage ein, wodurch und auf welche Weise sich denn hier eine Horizonterweiterung ereignet? Und mag es in der Tat für die Jungen und die ganz Jungen nichts zu lernen geben, weil sie viel zu sehr im Sturm der Liebe stehen und vor lauter Wald keine Bäume mehr sehen, so werden uns Alten Fenster und Türen geöffnet, durch die wir schauen und gehen können. Und vielleicht werden wir danach mehr verstanden haben, als wir vorher je verstehen konnten. Möglicherweise werden wir mit Tinas Hilfe zu Sehern (im Sinne Karl Otto Hondrichs, siehe Nachwort), die einen Lichtstrahl in das Dunkel ihrer eigenen verstrickten und verstrickenden Beziehungsnöte und die damit häufig verbundenen Wendepunkte in ihrem Leben werfen können.

Die verrückteste Idee ergibt sich dabei vielleicht aus der paradoxen Vorstellung, neben dem Verlieben könnte es so etwas geben wie ein Entlieben: Es lässt sich eine Theorie des Entliebens vorstellen und es könnte daraus folgend oder eher sie begründend eine Praxis des Entliebens Gestalt annehmen. Aber warum sollte es so etwas geben, warum sollte man sich darum bemühen? Nun, nicht jeder, der in die Liebe fällt, fällt damit in ein Rosenbett, in ein Blütenmeer, schwebend und bebend zugleich. Häufig bleiben von den Rosen nur verwelkende, fahle Nachwehen des tobenden und tosenden Lebens. Und in der härtesten Variante besteht das Rosenbett nur noch aus dürrem Gezweig und nadelspitzen Dornen. Dies setzt häufig umso rascher ein, je eindeutiger die Verstrickungen sichtbar werden, in denen man sich nolens volens wieder findet, wenn Adam Philipps´ so sehr zutreffender Aphorismus „Monogamie – aber drei sind ein Paar“ die Hintergrundmusik spielt. Dann beginnt häufig das Spiel zwischen Lust und Schuld, zwischen Begierde und Bindung, der manchmal einem Kampf zwischen Eros und Thanatos gleicht. Häufig beginnt dann das Taktieren und Winden, das Wimmern und Klagen; dann kämpfen Apoll und Dyonisos mit harten Bandagen, wie weiland zwei Highlander gegeneinander („Es kann nur einen geben!“). Wir verlieren die Kontrolle und unserer Fähre droht ständig zwischen der Skylla lustvollen Begehrens und der Charybdis vernunftgeleiteten Verzichts zu zerschellen. Am Ende sitzen alle vor den Aschehäufchen eines mächtigen Feuersturms, der sie hinweg gefegt hat und eine neue Ordnung nimmt langsam Gestalt an.

Dass du den damit verbundenen Wendepunkt in deinem Leben erreicht, kultiviert und genutzt hast – genau das wünsche ich Dir, liebe Tina.

Auch im Nachhinein – mit einem Abstand von fast 14 Jahren – erscheint es mir immer noch überaus ungewöhnlich und bemerkenswert, wie sehr – bei aller achterbahngeschuldeten Verrücktheit – des Geschehens Tina Schneider als Mittzwanzigerin neben den Höhen und Tiefen einer amour fou den vernunftgeschuldeten Appell Karl Otto Hondrichs schon verinnerlicht hatte. Mit diesem Appell und seinen Ambivalenzen und Widersprüchen umzugehen, war aber – wie der Verlauf der Geschichte zeigt – beiden Protagonisten aufgegeben. Wie Tinas Geschichte weitergegangen ist, möchte ich wenigstens mit einer kleinen Facette offenbaren, die ich ganz an das Ende der hier wiedergegebenen Texte anhänge. Das Nachwort gibt es nicht ohne die Einführung (im Anschluss ans Nachwort). Immerhin kann man heute erkennen, dass meine Wünsche für Tina sich in einer weiteren, existentiell richtungsweisenden Wegmarke erfüllt haben. Und auch hier vermittelt Tina eine bemerkenswerte Reife.

Das Gütesiegel der Reife erscheint gleichermaßen ambivalent. Die Entscheidung für ein Kind, dessen Vater nicht greifbar, möglicherweise nicht integrierbar ist, der möglicherweise stirbt, birgt so unendlich viele Fragen, Unsicherheiten und gewiss auch Selbstbezichtigungen, dass Reife und eine verantwortliche und vor allem auch liebevolle Haltung dort in Erscheinung tritt, wo eine Mutter sich  alltäglich diesen Widrigkeiten stellt und das Beste draus macht – das Beste im besten Wortsinn!

Was ist eine gute Mutter?

Das Thema hatten wir doch gerade eben - muttertagsgeschuldet! Die Versuche, diese Frage zu beantworten, spielen in diesem Blog eine durchaus prominente Rolle. Es fragen Mütter selber danach: Was ist eine gute Mutter? Eva von Redecker entschlackt den Diskurs und enthält sich einer Wertung hinsichtlich der gestellten Frage. Ihre Hinweise zur symbolischen Ordnung der Mutter hingegen sind enorm hilfreich, gerade dann, wenn man sich mit einer wertenden Beantwortung dieser Frage quält. Diese Qualen haben beispielsweise Markus Deggerich so extrem umgetrieben, weil er seine Mutter beinahe umgebracht hätte. Eine andere Frage ist damit verbunden, ob man zwangsläufig einer Ideologie unterliegen muss, wie es das Gedicht Wenn Du noch eine Mutter hast nahelegt (siehe auch Teil II). Nobelpriesträgerin hinterlässt einen ehrlichen und gleichermaßen quälenden 'Eindruck in ihrem Abschied von der Mutter. Vielleicht hilft die nüchterne Feststellung: Jeder Tag ist Muttertag? Und mit dem Themenfeld Mütter und Söhne ist ohnehin ein Problemfeld besonderer Güte markiert. Mädchen und Frauen fragen eher: Bin ich wie meine Mutter? Man kann dem Thema auch eine generationenübergreifende Perspektive geben, indem man nach dem Verhältnis von Großeltern, Eltern und Enkeln (siehe auch Teil II) fragt! Und schließlich kann man sich fragen, was der Tod der eigenen Mutter bedeutet? Die einen werden erwachsen, andere verpassen genau diese Chance.

Grundsätzlich bleibt bei alledem kein Zweifel, dass die aufgeworfenen Fragen und die teils unsäglichen Konflikte wohl zum Leben dazu gehören - natürlich in den unterschiedlichsten Ausprägungen.Wenn dies so ist, bleibt die Frage zu beantworten, wie man mit diesem Befund umgeht. Tief berührt hat mich im Übrigen die feinsinnige Unterscheidung, die Aron Bodenheimer angesichts finaler Grenzsituationen vornimmt.

Heute gebe ich hier ein Textdokument zur Kenntnis - mit Genehmigung der Autorin, die diesen Text in eine Klanggestalt transformiert, die mich zutiefst beeindruckt. Hier zeigt sich, wie zur Anstrengung des Begriffs eine liedhafte Übersetzung gelingt, die das Kunstück fertigbringt, neben dem Adressaten eine ganze Nation von Müttern (und Vätern) aufhorchen zu lassen. Alle Liebe, alle Nöte, alle Konflikte, alle Projektionen finden in einem kleinen Lied eine bleibende Gestalt; ein bleibende Gestalt, weil sie die Gefühlswelt und Nöte von Müttern in der modernen oder meinetwegen postmodernen Gesellschaft auf den Punkt und zum Klingen bringt. Und in der Tat - zum Text muss man das Lied hören, weil erst das Aufgehen des Textes in seiner liedhaften Form zu einem umfänglichen Erleben führt:

Der Text (und das Lied - in Vorbereitung):


Von Muttertier zu Pubertier (Tina Schneider – Dedenbach)

Ich bin nicht immer gut gelaunt – genau wie du.

Ich bin nicht immer ganz gerecht – genau wie du.

Was ich wohl immer bin, ist echt – genau wie du.

Und letztlich bin ich nur ein Mensch – genau wie du.


Und dieser Mensch, der du da bist, der ist mein Kind.

Egal wie groß, egal wie alt, du bleibst mein Kind.

Und deshalb lieb ich diesen Menschen, dich, mein Kind.

Auch pubertär und nicht ganz fair, ich lieb mein Kind.

 

Und weil ich deine Mutter bin, ist’s wohl normal,

dass ich dir peinlich oder lästig bin manchmal.

Dass du mich hasst, verwünschst, verfluchst wohl hier und da.

Ich weiß, du kannst oft nichts dafür, doch sei dir klar:


Auch ich kann nichts für deine Launen, deine Wut,

für deinen Kummer, Misserfolge, den Unmut.

Ich weiß genau, die Achterbahn in dir, sie tut

Dir selbst genau so wie auch mir kein bisschen gut.


Auch ich werf dir Grimassen zu hinter der Tür,

flüstere Schimpfwörter dir zu hinter der Tür.

Du darfst mich ruhig verfluchen hinter deiner Tür.

Doch vergiss eines nie da hinter deiner Tür:


Niemanden sonst auf dieser Welt lieb ich wie dich.

Und eben deshalb bin ich auch genau durch dich

Verwundbar wie durch keinen sonst und verletzlich.

Denn niemand sonst bedeutet je so viel für mich.


Bei allem, was ich tu und lass, mein ich es gut

Mit dir, dem Lebenswerk von mir, dir, meiner Brut.

Ich lass dich leben und erfahren, mach dir Mut

Und doch bleib ich im Hintergrund stets auf der Hut.


Ich weiß, vielleicht kannst du das alles erst verstehn,

wenn es dir selbst irgendwann ähnlich wird ergehn.

So hab auch ich als Mutter manches eingesehn,

was ich als Tochter lange Zeit nicht konnt verstehn.


Wir sind nicht immer lieb, gerecht und brav und nett.

Doch eines soll man nie verlieren: den Respekt.

Denn den verdiene ich von dir wie du von mir.

Zur Not erinnert uns daran das Liedchen hier.


Auch ich kann nichts für deine Launen, deine Wut,

für deinen Kummer, Misserfolge, den Unmut.

Ich weiß genau, die Achterbahn in dir, sie tut

Dir selbst genau so wie auch mir kein bisschen gut.


Auch ich werf dir Grimassen zu hinter der Tür,

flüstere Schimpfwörter dir zu hinter der Tür.

Du darfst mich ruhig verfluchen hinter deiner Tür.

Doch vergiss eines nie da hinter deiner Tür:


Niemanden sonst auf dieser Welt lieb ich wie dich.

Und eben deshalb bin ich auch genau durch dich

Verwundbar wie durch keinen sonst und verletzlich.

Denn niemand sonst bedeutet je so viel für mich.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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