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Elisabeth Kolbert: Das sechste Sterben

Jetzt mal was ganz, ganz anderes!

Menschen, die herkunftsmäßig unter bibliophiler Knappheit gelitten haben, bilden in extremen Fällen – wenn die Zugänge und Mittel es erlauben – eine Sammelwut aus; man bezeichnet sie auch als Hamsterei. Um zu verhindern, dass ihnen jemals der Lesestoff ausgeht, sammeln sie Druckabsonderungen an, sofern sie in irgendeiner Hinsicht ihre Interessen berühren. Auf diese Weise füllen sich Regale, bilden sich Zeitschriftenstapel; kurzum: alles, was in einer digitalen Welt schlichtweg einen Anachronismus darstellt.

Aus einem dieser Stapel zog ich heute eine Ausgabe des Sterns – die Nr. 29 vom 9.7.2015. Irgendein Beitrag aus dieser Nr. 29, die auf dem Cover Helene Fischer zeigt, muss mich dazu veranlasst haben, das Lesezirkelexemplar - vermutlich aus der Wartezone einer Arztpraxis - mitgehen zu lassen. Ich blätterte das Heft durch, und die Doppelseite 66/67 zeigt das Porträt einer Frau, halbsitzend/halbstehend vor einer Bücherwand. Der Beitrag kündigt sich mit dem Titel an: Wir sind ein verrückter Unfall der Evolution – Der Mensch zerstört in irrwitzigem Tempo den Lebensraum von Tieren und Pflanzen. Sagt die Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert, die für ich Buch >Das sechste Sterben< gerade den Pulitzer-Preis erhielt

Der erste Gedanke: Juli 2015 – neun Jahre sind im Medienfluss eine unendlich lange Zeit; lohnt das Lesen überhaupt noch?

Ich steige mittendrin ein und werde neugierig. Migrationsbewegungen erhalten, nachdem, was ich lese, eine völlig neue Rahmung und Dimension – die Frage: „Der derzeitige Klimawandel wäre damit gefährlicher als jene Katastrophen, die nicht vom Menschen verursacht wurden. Warum?“ Die Antwort:

Tiere und Pflanzen sind mit einer viel zu schnellen Veränderung der Umwelt konfrontiert, für sie evolutionär nicht vorbereitet sind. Sie sind gezwungen, ihren ursprünglichen Lebensraum zu verlassen. Beim derzeitigen Anstieg der Temperaturen müssten sie, so haben Wissenschaftlicher berechnet, pro Tag zehn Meter nach Norden ziehen.“

Elizabeth Kolbert legt dar, warum dies für Flora und Fauna – trotz aller Migrationseffekte (auch bei ihnen) – selbstredend keine Alternative ist; eine Alternative, die im Übrigen Jahr für Jahr in zunehmendem Ausmaß zu den seit 2015 anhaltenden Migrationsströmen aus jenen Regionen sorgt, die eine Bleibefreiheit für viele Menschen zunehmend einschränkt und sie zur Flucht motiviert bzw. zwingt.

Ja, auch dass: Es führt zu einer irren Vorstellung: Der ganze Planet in Bewegung – alles strebt und strömt in kühlere Regionen, meint Elisabeth Kolbert.

Die STERN-RedakteurInnen bemühen sich um Sachlichkeit: „Das Klima ändert sich auch unabhängig vom Menschen. Hauptauslöser für die gegenwärtige Erwärmung sind jedoch das Verbrennen von Öl, Gas und Kohle sowie die intensive Landwirtschaft, die große Mengen Methan freisetzt. Können sie skizzieren, wie unsere Welt einmal aussieht?“

Elisabeth Kolbert nimmt nun einen Zeitraum in den Blick, in dem ich – ich bin 72 – gewiss nicht mehr leben werde. Aber meine Enkelkinder – und auch meine Kinder – wachsen in die von Kolbert beschriebene Welt hinein:

Es ist gut möglich, dass wir zum Ende des Jahrhunderts Kohlendioxidwerte erreichen werden, wie es sie auf der Erde zuletzt im Eozän vor gut 50 Millionen Jahren gab. Damals war es so warm, da wuchsen Palmen in der Antarktis.“

Kleine Randbemerkung – heute gegoogelt: WeinbauSvein Hansen gründete 1992 das Weingut „Hallingstad Gård“ nahe der Stadt Horten (Vestfold) rund 100 km südlich von Oslo nahe der Küste zum Skagerrak und pflanzte 2.000 Rebstöcke eines kanadischen Klons von Pinot Noir. Dieser wahrscheinlich erste norwegische Weinberg lag am 60. Breitengrad. Im Zeitraum 1995 bis 1999 wurden jährlich rund 75 Kisten Wein „L’Esprit d’Edvard Munch“ produziert. Er wurde nach dem norwegischen expressionistischen Maler Edvard Munch (1863-1944) benannt. Jedes Jahr zierte ein anderes Bild von ihm das Etikett. Munch war ein exzessiver Trinker, der in seinen Werken auch das Thema Wein wie zum Beispiel mit den Bildern „Selbstbildnis mit Weinflasche“ und „Roter wilder Wein“ verarbeitete. Der zweite Vesuch erfolgte durch die Winzer Joar Saettem und Wenche Hvattum, die im Jahre 2007 in der kleinen Stadt Gvarv 150 Kilometer südwestlich von Oslo das Weingut „Eventyrvin“ bzw. „Lerkekåsa“ gründeten. Der Name bedeutet „Märchen Weine“ und soll darauf anspielen, dass Weine aus Norwegen ja tatsächlich wie ein Märchen klingen. Der Weinberg umfasst nur 1,5 Hektar, auf der unter anderem die Weißweinsorte Solaris angebaut wirde. Die Besitzer bezeichnen ihn als „weltweit nördlichsten Weinberg“. Zusätzlich werden auch die traditionellen Beerenweine erzeugt. Es gibt mehrere Weingüter, „Vinmonopolet“ brachte 2016 den ersten norwegischen Schaumwein auf den Markt. Es werden Solaris (8 ha), Rondo (4 ha) und sonstige Sorten (1 ha) angebaut. Im Jahre 2016 wurden 13 Hektar ausgewiesen (Kym Anderson). Norwegen ist übrigens einer der Kandidaten, die durch die klimatischen Auswirkungen des Klimwandels beim Weinbau davon profitieren könnten. 

Der Blick Kolberts auf die Meere – und im Übrigen auf unsere gesamte Lebensweise – ist weitaus ernüchternder. Hier kommt es mir insbesondere auf einen Aspekt an, der seit langem im Mittelpunkt meiner eigenen kritischen Weltwahrnehmung steht. Ich zitiere Kolbert hierzu umfangreicher. Auf die Frage, ob denn alles gut wäre, wenn wir nur die globale Erwärmung stoppen würden, antwortet Elisabeth Kolbert folgendermaßen:

Es würde leider nicht alle Probleme lösen. Den wenigsten Menschen ist bewusst, dass neben der Erwärmung auch allein die Geschwindigkeit, mit der wir uns über den Planeten bewegen, gravierende Folgen für Tiere und Pflanzen hat. Wir reisen von Land zu Land, fliegen von Kontinent zu Kontinent. Wir sind grenzenlos […] Mit uns reisen gefährliche Erreger. Ein Virus, ein Bakterium oder ein Pilz, die irgendwo in Europa an der Schuhsohle kleben bleiben, können in Südamerika zur tödlichen Gefahr für Tiere oder Pflanzen werden und verantwortlich für das Sterben einer ganzen Art sein. So wie der Chytridpilz für Frösche und Kröten. Er wurde vermutlich aus Afrika eingeschleppt."

Kleine Einlassung Kolberts: Sie schildert, dass 2007 plötzlich Fledermäuse begannen tot von den Decken ihrer Höhlen zu fallen. Dies war in ihrer Heimat Massachusetts auf spektakuläre Weise der Fall: „Die kleinen braunen Fledermäuse in einer Höhle dort – eine der größten Populationen überhaupt – hatten plötzlich weißes Puder vor der Schnauze, wenig später starben sie.“ Ursächlich war ein Pilz, den Besucher eingeschleppt hatten: „Als ich in die Höhle kam, stand ich auf einem Teppich toter Tiere – der Boden war mit kleinen Knöchelchen übersät.“ Und sie erwähnt, dass sie eben von einer Reise nach Italien zurück ist: „Das Land ist schön, aber immer, wenn ich mich umgeschaut habe, merkte ich, wie leer die Landschaft bereits ist. Italien vor 500 oder 2000 Jahren sah ganz anders aus. Es gab viel mehr Tiere, Vögel, Insekten. Ich spürte, wie viel Leben schon fehlte.“

Die entscheidende Frage der Stern-RedakteurInnen: „Wenn Moralisieren und individueller Verzicht nichts bringen, was braucht es dann?“

Elisabeth Kolbert: „Es muss eine breite politische Aktion initiiert werden. Weltweit mit allen Ländern. Wir müssen diesen riesigen ökonomischen Motor, der auf fossilen Brennstoffen basiert, komplett umbauen zu einem, der das nicht mehr tut. Es gibt derzeit ein paar Funken der Hoffnung, mehr aber auch nicht.“

Randbemerkung: Bei der UN-Klimakonferenz in Paris (Frankreich) im Dezember 2015 einigten sich 197 Staaten auf ein neues, globales Klimaschutzabkommen. Das Interview mit Elisabeth Kolbert fand im Juni/Juli 2015 statt.

Insofern zündet der Einwand der STERN-RedakteurInnen ansatzweise, dass die G-7-Staaten sich Anfang Juni 2015 zur „Dekarbonisierung“ – zum endgültigen Ausstieg aus dem „Kohlezeitalter“ bekannt haben.

Gleichwohl sollten wir Kolberts lapidaren Einwand ernst nehmen. Wie ernst, das erkennen wir an vollkommen irren Prioritäten in der sowohl auf nationaler wie auf internationalen Ebene. Putins Überfall auf die Ukraine und die Reaktion des Westens darauf verbrennen in der Folge nicht nur fossile Brennstoffe im Übermaß, sondern in Billionenhöhe die Ressourcen, die zur klimapolitischen Wende unentbehrlich sind!

Benennen wir noch kurz den Anlass der Interviews: Den Pulitzer-Preis erhielt Elisabeth Kolbert, die im Übrigen in Deutschland studiert hat, für ihr Buch Das sechste Sterben. Der vorliegende Beitrag wirbt auch für die Lektüre dieses Buches, in dessen Konsequenz Eva von Redeckers Bleibefreiheit noch einmal eine außerordentliche Schubkraft erhält!

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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