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Ein Horrortrip ins Niemandsland -

in Erinnerung an Karl Otto Hondrich, den Andernacher Jungen (1937-2007)

Für alle meine Nichten, meinen Neffen, meine Kinder und Kindeskinder – und auch für gute Freunde, die Karl Otto Hondrich im Verlauf seiner Ausführungen zu Recht mit in den Vordergrund rückt.

Der zukunftsgläubige Mensch – und seine Herkunftszwänge

So lautet die Überschrift zu einem Aufsatz, den Karl Otto Hondrich 1998 (!!!) im Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, herausgegeben von Bernhard Schäfers und Wolfgang Zapf, veröffentlicht hat. Ich entnehme ihn dem Suhrkamp-Band: Der neue Mensch, erste Auflage 2001, erschienen bei Suhrkamp, Seite 179-208

Ich habe immer wieder betont, wie sehr auch Karl Otto Hondrich, der leider 2007 im Alter von noch nicht 70 Jahren schon verstorben ist, meine Wahrnehmung von Welt und Gesellschaft – und auch vom Dasein als der eine Teil eines Paares – beeinflusst und prägt. Auch diesen Aufsatz werde ich von hinten aufzäumen, vollkommen verblüfft und erstaunt darüber, wie sehr Karl Otto Hondrich als Beobachter überzeugt. Wenige Jahre vor seinem Tod erschien Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft (Frankfurt 2004). Meine Zusammenstellung Rauft euch zusammen beispielsweise begleitet mich und die von mir beobachtete und verursachte Paardynamik seither und bis heute.

Wie so häufig lese ich mich von hinten nach vorn durch die Thesen Hondrichs, der zunächst einmal mit der frappierenden Behauptung aufwartet, dass Zukunftsvorstellungen für die Zukunft selbst keine Bedeutung haben:

„Denn alles, wir an Voraussagen und politischen Vorschlägen, an Wunsch- und Weheszenarien entwerfen, steht unter dem soziologischen Diktat der unbeabsichtigten Folgen und Gegenbewegungen, kurz: der unergründlichen Macht der Zukunft.“ (S. 206) Mit Nüchternheit und einer gewissen Zuversicht skizziert Hondrich 1998 das Szenario, das gut 25 Jahre später längst unseren Alltag bestimmt:

„Wir mögen die sinkenden Fertilitätsraten in die Zukunft fortschreiben. Wir mögen uns die individuellen und kollektiven Folgen ausmalen: von der Vereinsamung der Alten über die Belastung der Jungen, von der Entdynamisierung einer Greisengesellschaft bis hin zu ihrem Untergang, wenn die jugendlichen Träger ihrer aufklärerischen Werte gegenüber der Jugend antiaufklärerischer fundamentalistischer Gesellschaften hoffnungslos in die Minderzahl geraten sind… Doch an jeder Stelle solcher Szenarien sind Umkehrungen und Gegenbewegungen denkbar. Der Geburtenrückgang kann – gerade auch mit Hilfe individualistischer und rationalistischer Kalküle – aufgehalten werden, Produktivitätssteigerungen erlauben einer schrumpfenden aktiven Bevölkerung, immer mehr Alte und Leistungsschwache zu alimentieren, ohne daß der gemeinsame Wohlstand sinkt, Migrationen versorgen reproduktiv erlahmende Gesellschaften nicht nur mit jugendlichen Leistungsträgern, sondern schaffen auch Mittlergruppen zwischen den Kulturen und verwandeln kulturkämpferische Tendenzen in integrative… Die Zukunft bleibt offen.“ (S. 206f.)

Vieles von dem, was Hondrich in Aussicht stellt, müssen wir heute relativieren unter seiner Ausgangsthese, dass Zukunftsvorstellungen für die Zukunft selbst keine Bedeutung haben. Migrationen – 2015 war aus der Sicht von 1998 vermutlich schlicht unvorstellbar – haben eben nicht, oder nur bedingt, zu dem Effekt geführt, dass eine reproduktiv erlahmende Gesellschaft mit jugendlichen Leistungsträgern versorgt wird. Kulturkämpferische Tendenzen gewinnen tendenziell die Überhand gegenüber wirksamen integrativen Haltungen und Bemühungen.

Der Abstand von gut 25 Jahren zum Erscheinungstermin dieses Beitrags gewährt mir persönlich einen geschärften Blick dafür, wie sehr wir alle unter Druck geraten aufgrund einer der zentralen Prämissen, die moderne – meinetwegen spätmoderne – Gesellschaften mehr und mehr prägen; und zwar auf eine irreversible, sozial verheerende Weise. Um diese These zu begründen, greife ich auf Hondrichs Argumentationskern zurück, mit dem er Entwicklungslinien beschreibt, die sich (leider) aus der Sicht von 1998 als überaus zukunftsprägend erwiesen haben – vor allem in ihren toxischen Effekten:

„Individualisierung heißt denn auch das Zauberwort, in das sich heute die Gestaltungsvisionen der Zukunft kleiden, nachdem Sozialismus, Nationalismus und andere kollektive Identitätszuschreibungen verbraucht erscheinen.“ (S. 195) Karl Otto Hondrich würde sich möglicherweise verwundert die Augen reiben, wenn er heute sehen könnte/müsste, wie der Grenznutzen der Individualisierungsthese in manchen sozial prekären (Rand-)Zonen unserer Gesellschaft erreicht ist und durch – in der Regel – rechte bis rechtsextreme kollektive Sehnsuchtsphantasien ersetzt werden. Aber wenden wir uns zunächst einmal der Diagnose Hondrichs zu, einer Diagnose, die das individuelle Driften Einzelner in der postmodernen Gesellschaft gleichermaßen beschreibt als ein Phänomen, bei dem die sozialen Kosten beginnen bei Weitem den sozialen Nutzen zu überwiegen:

Heute, im Zeichen weltweiter ökonomischer und kultureller Vernetzung, erscheint die Option zum Weltbürger nicht nur als eine Entfaltungschance, sondern fast als eine Notwendigkeit: Das Individuum muß in vielen Fällen aus seinen engeren Herkunftsbindungen heraustreten, um in Zukunft bestehen zu können. Illusionär ist allerdings die Annahme, daß Herkunftsbindungen dadurch aufgehoben oder auch nur schwächer würden. Das Gegenteil ist der Fall. Denn nur in nicht selbstgewählten Primärbeziehungen, die gar nichts anderes sein können als Herkunftsbindungen an Familie, Sprach-, Wert- und Gewaltmonopolgemeinschaft, gewinnt das Individuum die Anerkennung und Selbst-Sicherheit, die nötig sind, um selbstgewählte Zukunftsbindungen – noch dazu mit Menschen anderer Sprache und Sozialisation – eingehen zu können.
Herkunftsbindungen im eng begrenzten und sicheren Rahmen sind die Voraussetzungen für erweiterte und selbstbestimmte Zukunftsbindungen. Und diese führen aus den Herkunftsbindungen nicht nur hinaus, sondern auch wieder in sie zurück. Denn alle Beziehungen, die wir den weltweiten Waren-, Arbeits-, Liebes- und Bekanntschaftsmärkten selbst wählen oder bestimmen können, können von uns selbst und – was viel schlimmer ist – von den anderen, also gegen unseren Willen, abgewählt werden. Jeder aktive Wahlakt an jedem Markt hat sein passives Pendant: das Nichtgewähltwerden, das Fallengelassenwerden
. Wohin aber wenden wir uns, Schutz und Halt suchend, wenn wir früher oder später zu denjenigen gehören, die noch nicht oder nicht mehr gewählt werden und neue Wahlbindungen nicht aus dem Ärmel schütteln können? Es bleiben uns die Eltern, Geschwister, eigene Kinder, alte Freunde, der Sozialstaat: alles Herkunftsbindungen, die wir nicht selbst gewählt haben und die uns deshalb auch nicht abwählen und fallen lassen dürfen. Ohne sie wäre der Ausflug in die >reine Zukunft unserer Wahl<, so vielversprechend er zunächst beginnen mag, am Ende ein Horrortrip ins Niemandsland.“ (S. 198f.)

Mit meinen unterdessen mehr als 72 Jahren Lebenszeit bin ich nicht nur Zeitzeuge, sondern ich komme mir vor, wie Karl Otto Hondrichs homunculus – nicht künstlich geschaffen, sondern herangewachsen in der von ihm beschriebenen Welt. Als dieser durfte ich aber auch in jeder Hinsicht begreifen, dass soziales Leben – wie er meint – ohne Herkunftsgebundenheit (und im Übrigen ohne Zukunftsvorstellungen) schlicht unmöglich ist:

„Denn gemeinsame Zukunftsvorstellungen, ebenso wie gemeinsame Herkunft, verbinden Kollektive und grenzen sie gegeneinander ab; dies ist ihre identitätsstiftende Funktion. Sie verknüpfen Wünsche und Voraussagen; dies ist ihre orientierende Funktion. Und sie weisen auf Handlungsmöglichkeiten und Grenzen der Machbarkeit hin; dies ist ihre motivierende Funktion.“ (S. 205f.)

Ich habe Familie, die sich unter Einbezug ihrer jeweils nichtverwandtschaftlichen Linien zur Sippe erweitert, so oft und unverzichtbar als Solidargemeinschaft erlebt – sowohl in ihrer unabwendbaren Abgrenzungsnotwendigkeit als auch in ihren identitätsstiftenden Funktion, dass mir Hondrichs Ausführungen selbst wie ein identitätsverbürgendes Vermächtnis vorkommt. Beim Tod meines Bruders, bei existentiellen Grenzsituationen in der Familie, war Familie da. Sie hat getröstet, organisiert, geholfen, unterstützt und dafür gesorgt, dass niemand ins Bodenlose fallen musste - manchmal unter der profanen Devise: Der Kamin muss am rauchen und die Ärsche am Kacken bleiben! Ich bin mir darüber hinaus mehr als bewusst, dass damit zunächst der eher formale Aspekt von Zugehörigkeit in der Vordergrund rückt, wobei die basalere, unverzichtbarere Dimension von Geborgenheit in vielen Facetten aufscheint.

Karl Otto Hondrichs Appell Rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus – macht endlich Schluss mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder!!! beruht dabei – wie er selbst bemerkt – auf einer Unklarheit:

„Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des Einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise >Ihr schafft es!< darf deshalb die andere >Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!< nicht fehlen.“ (Das Ganze in der Mohnfrau, Seite 25-46 - hier findet man auch die wesentlichen begrifflichen Unterscheidungen, mit denen sich die Begriffe Bindung - Geborgenheit - Entschiedenheit - Zugehörigkeit voneinander abgrenzen lassen).

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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