Café Hahn – Impressionen (zwischen 1997 und 2003)
Auch Dichter haben ihre Orte. Mein Ort ist (war) das Café Hahn ("Café-Hahn-Lyrik" aus meinem ersten Lyrik-Bändchen: Das Leben - Ein Klang, Koblenz 2003)
Dichter müssen regenerieren. Ich kann mich dort entspannen in einer Clubatmosphäre, die eine Breite und Dichte an Facetten aufweist, die man allenfalls an mehreren Orten vermuten würde. Das hängt schlicht mit der einzigartigen Konzeption zusammen, die Berti Hahn und alle Initiativen, die ihren Beitrag leisten zum Bestand und zur Innovation dieses zwischen Köln und Mainz singulären Ortes, über die Jahre entwickelt haben: Der Förderverein Café Hahn e.V., der Jazz-Club, Bodos Blues-Box, früher die Country-Freunde, heute immer die Koblenz-Touristik haben ein feines Netzwerk gesponnen und sorgen so sicherlich quantitativ und qualitativ für ein einmaliges Angebot an Veranstaltungen. An einem einzigen Wochenende kann es geschehen, das der Club weltstädtisches Flair vermittelt, dass man sich in New York, Chicago oder New Orleans wähnt, wenn beispielsweise Maceo Parkers Funky-Sound ins Publikum übergeht, Bernard Allison den Blues zelebriert. Das Café Hahn bewahrt sich andererseits seinen experimentellen Charakter, indem es immer wieder unbekannten Newcomern ein Forum einräumt.
Diese Zeilen sind vor mehr als zehn Jahren geschrieben worden, als Berti Hahn mit dem Kulturpreis der Stadt Koblenz ausgezeichnet worden ist (2002) und lange bevor das Café Hahn LEA-Club ("Live Entertainment Award") des Jahres 2014 geworden ist. Das Café-Hahn ist inzwischen ein mittelständisches Unternehmen mit über 50 festangestellten Mitarbeitern. Auch wenn im Hintergrund eine hochprofessionelle Unternehmensführung agiert, hat das Café Hahn auf seinem Weg vom "Kaffee-Kult zur Kultur-Pilgerstätte" (Label 56) nichts von seinem Charme eingebüßt, sieht man einmal ab von der rauchgeschwängerten Atmosphäre der ersten zwei Jahrzehnte. Das Motto ist nach wie vor "Life & Lecker" und lässt kaum Wünsche offen.
Dichter benötigen Inspiration. Es gibt an diesem Ort Begegnungen und Berührungen mit musikalischen Stilrichtungen, die eingeschliffene Hörgewohnheiten irritieren. Mir fällt auf, dass es für Veranstaltungen, die eindeutige Erwartungen bedienen, Blues, Funk, Rock, Jazz, Folk, Weltmusik, Country, und für was es sonst noch einen relativ festen Publikumsstamm gibt, wenig Schnittmenge gibt; besonders auffällig bei den Jazz-Anhängern. Insofern kann es außerordentlich anregend sein, quer zu gehen und die Angebote der verschiedenen Stilrichtungen zu erleben, zumal die Mitgliedschaft z.B. im Förderverein und im Jazz-Club eine unglaubliche Vielfalt und Vielzahl von Möglichkeiten bei geringem finanziellem Einsatz eröffnet. Kaum einmal hat mir die Maxime Heinz von Foersters: „Lebe so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst“ eine zutreffendere, wenn auch triviale Botschaft vermittelt.
Dichter haben einen Körper – genauso wie andere Menschen
Move your body – gilt immer, …
zum Beispiel am 12.022003
Heute hört ich Hattler,
gnadenreicher Rattler –
fährt in meine Beine,
schwinge von alleine.
Zarte Stimmen hauchen
gegen harte Drums und Bässe
Spannung, die wir brauchen –
Nach der Beichte kommt die Messe.
Alter Bock macht Hipp-Hopp
Bass, Trompetensoli - Tipp-Topp.
Seht, wie er sich schraubt!
Musik ist Leben
Nährt die Seele und das Haupt!
… wenn nicht gerade Jazz geboten wird. Da kann es ab und an zu Missverständnissen kommen. Bei diesen Konzerten gibt es auch immer eine ausgedehnte Bestuhlung, damit der Hörgenuss nicht kinästhetisch irritiert wird (siehe Gerad Presencer).
Häufig gehe ich mit Freunden ins Café Hahn. Ich habe vermutlich deutlich gemacht, dass hier ein Ort existiert mit ungemein dichter Atmosphäre, in der sich ab und an auch unterschiedliche Gravitationsfelder den Raum streitig machen (siehe die Possesivum-Variationen und Von vorne wie von hinten). An anderer Stelle habe ich deutlich gemacht, dass ich dazu neige, im sozialen Raum mehrere Gravitationsfelder zu unterscheiden: Eros, in dem sich Frau und Mann in ihrer Unterschiedlichkeit und ihrer Eigentlichkeit begegnen – die gegengeschlechtliche Variante besitzt hier keinen Ausschließlichkeitsanspruch, sondern nur ein qualitatives Übergewicht. Philia, in dem sich Menschen einfach nur freundschaftlich verbunden fühlen und schließlich Agape, das Gravitationsfeld, in dem sich die All- und Nächstenliebe -kultivieren.
Das folgende kleine bissige Gedicht, das sich einfach aufdrängte an diesem musikalisch niveauvollen Abend, den ich aber die Neigung hatte, in weiten Teilen mit Mike de Roo - ihm widme ich dieses Gedicht - zu verquatschen, thematisiert die Spannung zwischen introvertierter und extrovertierter Haltung gegenüber akkustischen Irritationen. Bei Frau Patt entschuldige ich mich für die Anleihe, die vermutlich auf einer Fehleinschätzung der Lage beruht. Aber ich danke allen Anwesenden für die vielfältigen und gehaltvollen Inspirationen.
Gerard Presencer (16.03.2003)
Unter der Decke
schweben Köpfe -
unter den Tischen
wird zuweilen auch nachgetreten,
wenn Körper hier,
und Stimmritzen dort
mit der Musik in Schwingung geraten
und den ungeteilten Genuss verstören.
Wie der am Flügelhorn schwitzt
und Regung zeigt –
und erst der an den Trommeln:
Zwei Pfund verloren
und eine Trommel dazu.
Und die da unten sitzen,
manche schlafen - Patt-matt!
Aber im Hahn
bewegen die Leute
immer die Hände,
applaudieren Zustimmung
und Beifallsrufe;
manchmal
– nein oft –
bis zur Hin- und Zugabe.
Wem aber fährt Musik in die Beine,
wo steigt die Seele ans Licht?
So viele Möglichkeiten:
Musica e – Musica u – Musica eu!
Manchmal geraten
nur Luftmassen in Schwingung
und die neuronalen Äquivalente
bleiben ohne Muskeltonus,
Hirnspasmen ohne
körperliche Zuckung.
Aber manchmal
schwingen Körper
hyperaktiv
im blauen Äther
und Stimm
fort
sätze
kreis(ch)en
selig
um ihr glückliches
Selbst.
Von vorne wie von hinten und Possessivum (Variationen)
Diesen Dank möchte ich hier in besonderer Weise an all die Menschen weitergeben, die mich zu diesen und weiteren Wortschöpfungen inspiriert haben. Auch in dieser Hinsicht erweist sich das Café Hahn als nahezu singulärer Ort. An anderer Stelle – mehr als 10 Jahre später – haben sich diese gegengeschlechtlich aufgeladenen Wortschöpfungen noch einmal auf überraschende Weise hervorgewagt und verselbstständigt – leicht, spielerisch – selbtironisch. Dazu gehört an erster Stelle und im Anschluss an die Possesivum-Variationen das Gedicht: „Von vorne wie von hinten“ – eine lyrische Hymne auf die weibliche Form und den männlichen Blick, der sie - die weibliche Form - in ihrer evolutionären Bedeutung erst hervorbringt und ihr unverdrossen huldigt!
Possessivum – Variationen
Zunder I
Sie spürt,
dass meine Augen
ihren Arsch erfinden.
Ich spüre,
dass sie fühlt,
wie ich merke,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
meine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.
Zunder II
Sie spürt,
dass seine Augen
ihren Arsch erfinden.
Er spürt,
dass sie fühlt,
wie er merkt,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
seine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.
Zunder III
Er spürt,
dass ihre Augen
seinen Arsch erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
wie sein Arsch
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.
Zunder IV
Er spürt,
dass ihre Augen
seine Nase erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
wie seine Nase
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.
Zunder V
Jemand spürt,
dass seine Augen
jemdandes Augen erfinden.
Er spürt,
dass er fühlt,
wie er merkt,
dass er spürt,
wie seine Augen
seine Blicke fangen –
wie ein Brennglas,
das Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.
Von vorne wie von hinten
Wenn meine Augen trunken sind
von so viel Weiblichkeit,
sich verlieren
im bestimmten Rund
von vorne wie von hinten –
feuern die Neuronen,
berechnen
die Parabeln
nanosekundenschnell!
Mit absoluter Präzision,
so, als sei das komplexe
Zusammenspiel der Synapsen
simpel
und nur
k
o
m
p
l
i
z
i
e
r
t.
Im Juni 1997 gastierte Abdul Ibrahim im Café Hahn. Mir ging es nicht gut. Ich wusste mal wieder nicht so recht, mit wem in mir ich es denn wieder einmal zu tun hatte. Manchmal ist das Café Hahn auch ein Ort, an dem man sich selbst begegnet. Abdul Ibrahim und dieser warme Frühsommerabend werden mir unvergessen bleiben.
Abdul Ibrahim
Der Mann da vorne –
alleine
und sein Klavier
genügen sich selbst.
Ihn zum Vorbild
verliere ich mich
in Klangwelten
und finde
meine Ichs
- alle miteinander ein Selbst -
verschieden
und Eins,
gesotten in
Geist- und Seelenschmalz,
das meine Übergänge schmiert
beim Durchwandern
der Gegenwelt(en).
Einer der bewegendsten Abende im Café Hahn ist mit dem Namen "Kroke" verbunden. Kroke ist ein Beispiel dafür, wie die gleichermaßen subtilen wie gewaltigen Eindrücke musikalischer Klangwelten - vor allem auch als Ausdruck kultureller Identitäten und zeitgeschichtlicher Dramen - in mir Sprachwelten hervorrufen; im Fall von Kroke kurz und prägnant, aber mit einem tiefen Nachhall, der nicht verklingen mag. Kroke, die wir vor Jahren auch im Rahmen von "Horizonte" mit Nigel Kennedy erleben durften, will eigentlich nicht von vornherein und immer wieder nur mit dem Etikett polnisch-jüdischer Klezmer-Tradition identifiziert werden. Wenn dies hier ansatzweise anklingt, dann sicherlich deshalb, weil Kroke eben die traditionellen Elemente des Klezmer deutlich überschreitet, aber gleichwohl im basso continuo den Tragödien menschlicher Existenz musikalischen Ausdruck verleiht.
Kroke - oder: Homo homini lupus est!
Gestern hört ich Kroke-Klezmer:
Was in meine Ohren drang,
war der Welten Untergang -
alle Höhen, alle Tiefen
folgten einem Zwang,
einem Grundton,
einem tiefen Trauerklang.
Zwischen leisen Tönen,
Schreien, Wimmern, Stöhnen
irrten Höhen voller Überschwang.
Doch im Bass-Kontiunuum
bringt der Mensch den Menschen um.