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Leben und sterben, wo ich hingehöre

Der folgende Beitrag ist in dieser Form im Rahmen meines Blogs bislang nicht veröffentlicht worden. Er ist vor vier Jahren – 2020 - geschrieben worden, in dem Jahr, in dem meine Schwiegermutter als Letzte aus meiner Elterngeneration verstorben ist. Einiges ist gewissermaßen dem Zeitgeist und der für uns alle seinerzeit sich einstellenden Konfrontation geschuldet, die die Corona-Pandemie mit sich brachte.

Ich stelle den Beitrag heute online, weil mir die darin angesprochene Thematik in Gestalt eines Menschen vor Augen steht, dem ich als Zehnjähriger begegnet bin und der im (wahl-) verwandtschaftlichen Kontext gegenwärtig geblieben ist. Inzwischen, gezeichnet von einem Schlaganfall, wird er zum typischen Pflegefall : Ein Fall, an dem sich exemplarisch aufzeigen lässt, dass die Idee von einem Leben und einem Sterben, dort wo ich hingehöre, schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr beanspruchen kann:

„Das dritte Lebensalter wird für die gesellschaftliche Verwaltung zu einer gewaltigen toten Last. Ein ganzer Teil des gesellschaftlichen Reichtums (Geld und moralische Werte) verpufft, ohne dem Alter einen Sinn geben zu können. So wird ein Drittel der Gesellschaft (2030 könnten es bereits zwei Drittel der Gesellschaft sein) in einen Zustand der Sonderung und des ökonomischen Parasitentums versetzt. Die dem Terrain des Todes abgerungenen Gebiete sind verwüstet (Jean Beaudrillard in SHORT CUTS 7, Frankfurt 2003, S. 91f.).“

Die Verwüstung der dem Terrain des Todes abgerungenen Gebiete steht mir eindrücklich vor Augen. Ich habe E. gestern besucht. Es ist so offenkundig, dass wir – um Verwüstung zu vermeiden – etwas benötigen, was Klaus Dörner mit den vier Sozialräumen meint, die nur im Verein miteinander den gesellschaftlichen Reichtum bewahren bzw. pflegen könnten, der sich in unseren Alten manifestiert (siehe weiter unten). Mit ausreichender Pflege und Versorgung die Wartezonen zum Tod zu flankieren reicht eben nicht aus. Fulbert Steffensky mahnt  uns zwar zu der Einsicht, dass wir alle sind, weil wir uns verdanken. Er will die Schranken für etwas Selbstverständliches absenken bzw. einreißen, nämlich dass Fürsorge und Versorgung nur in einer gepflegten Umgebung, in der die liebevolle Zuwendung zu spüren und zu greifen ist, unseren Alten gerecht werden kann. Man kann dies im Sinne unser aller Würde erwarten bzw. fordern. Man muss aber gleichzeitig sehen, dass die moderne Gesellschaft mit ihrem grenzenlosen Hang zur Kommerzialisierung und zur Individualisierung die Grundlagen für eine vorbehaltlose wechselseitige Berücksichtigung unserer (Ur-)Bedürfnisse zunehmend schädigt bzw. zerstört. Sind es zum einen schlicht gesellschaftliche Rahmenbedingungen bzw. Erwartungen (Mobilität, Flexibilität), die uns allein schon räumlich trennen von den uns nahen Menschen, so ist es auf der anderen Seite ein häufig damit verbundener Wertewandel, den es zum Beispiel mit Barbara Bleisch genauer zu betrachten und einzuordnen gilt. Es lohnt durchaus die These, warum Kinder ihren Eltern nichts schulden differenziert und aufmerksam zu betrachten. Die Gesellschaft als Ganze stößt im Zuge eines demografischen Wandels, der uns von der Zweidrittel- zur Eindrittel-Gesellschaft mutieren lässt. Eine Unterbringung im Pflegeheim kostet inzwischen rund € 4000,- (mit steigender Tendenz). Auch im konzertierten Miteinander von Pflegekasse, Angehörigen und Eigenleistungen ist dies bei zunehmender Anzahl der Pflegebedürftigen nicht nachhaltig zu stemmen (auch hier wird es unumgänglich sein, die Reichen und Superreichen sehr viel stärker in die Pflicht zu nehmen!).

Mors certa – hora incerta – der Tod ist uns gewiss – die Stunde ungewiss

Novembergedanken am Lebensabend zu der Frage, wie Herkunft und Gestaltungswille im Lebenslauf zusammenwirken - das ist immer auch die Frage danach, welche Einflüsse Schicksalszufälliges und Beliebigkeitszufälliges in unserem Leben haben?

Wir Alten – auch wir jungen Alten müssen nachdenken, und soweit es in unserer Gestaltungsmacht liegt, entscheiden, wie wir auf die Umstände und Rahmenbedingungen in den letzten Jahren unseres Lebens Einfluss nehmen wollen. So erzählte mir ein Freund, dass einer seiner nahen Bekannten – noch nicht siebzig Jahre alt sein Haus verkaufe. Er bemühe sich um eine Wohnung in einer Seniorenresidenz mit der Option für Versorgungsleistungen im Rahmen betreuten Wohnens. Marianne, die ich aus Jugend- und Schulzeiten kenne (so alt wie ich, also 72), und die lange in der Nachbarschaft wohnte, sprach mich an, ob ich ihr etwas zum Angebot des betreuten Wohnens in einer Gülser Senioreneinrichtung sagen könne, ich habe doch dort mehrere Jahre ehrenamtlich gearbeitet.

Seit 2019 wohnen wir – Claudia und ich – in Güls auf dem Heyerberg. Von 2017 bis 2019 haben wir ihr Elternhaus saniert und umgebaut. Wir haben altersgerecht saniert und einen Aufzug einbauen lassen. Damals lebte Claudias Mutter, meine Schwiegermutter noch, und wir hatten ursprünglich erwogen, sie vielleicht doch noch einmal in ihr altes Wohnumfeld – sie hat dort genau 50 Jahre gewohnt – zu integrieren. Die Entwicklung hat andere Fakten geschaffen, und wir haben sie 2020 im hohen Alter von fast 97 Jahren zu Grabe getragen. Gegenwärtig entzieht es sich meiner Vorstellungskraft ähnlich lang zu leben. Aber zieht man einmal den weiteren verwandtschaftlichen Genpool zu Rate, ist dies für meine Frau alles andere als ausgeschlossen.

Sina Pousset: „Meine Mutter war Sanftheit. Sie war Wärme, Liebe für alles, was lebt:“

ZEIT 48/24, Seite 64-65

Sina Pousset liefert uns eine kosmische Definition jener Allliebe – vielleicht eine Annäherung an die Vorstellung von Agape, jenseits von Eros und umfassender als Philia?

Die Mutter wird von Sina Pousset auf eine ungewöhnliche Weise – und gegen den Zeitgeist – erhöht zur großen Liebe der Tochter:

„Ich bin Einzelkind. Meine Mutter ist das Fundament, auf das ich meine Welt gebaut habe. Sie war mein Nordstern, meine beste Freundin. Ich glaubte an mich, weil sie an mich geglaubt hat. Mit ihrem Tod verliere ich nicht nur sie, sondern auch mich.“

Sina Poussets Mutter verstirbt mit 60 Jahren an Krebs. Sina Pousset ist 30 Jahre alt und trägt das Enkelkind ihrer Mutter unter ihrem Herzen:

Für Willi - am 12.11.2024

Na klar würden  w i r  heut feiern – 69 – eine Schnapszahl, ineinander verdreht und magisch - für Willi allemal:
Willi hätte gestern vermutlich schon gefeiert, ne Karnevalsjeck am 11.11. – hinein in den 12.11., seinen 69sten Geburtstag.

So aber gibt es nichts zu feiern, und die Erinnerung schmerzt und beglückt gleichermaßen. Sie gilt ja dem, den wir gehabt haben und dem, den wir nicht mehr haben. Will sie uns mahnen?

Sorgt Euch – nicht nur um Euch, vor allem um die, die uns anvertraut sind?

Ach Quatsch: Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?  Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. (Mt 10,29)

Das hätte Willi gefallen! Unser Willi war ja kein Sammler – er war ein Flieger über den Wolken und sein Sturz war bodenlos – hoffentlich nicht ohne seinen Vater?!

Wäre er heute unter uns, so würde er feiern und sich grämen gleichermaßen? Auch für ihn wäre die große Welt in Unordnung und kämpfen würde er für ein bisschen Ordnung in seiner kleinen Welt?!

Familie - Wir sind nicht alleine auf der Welt - ob wir das nun wollen oder nicht

Viele Umarmungen, viele Tränen, viel Wirbel - der Ausdruck von Gefühlen hält die Familie gesund (meint Richard Gere in: Was ich gern früher gewusst hätte (ZEIT-Magazin 47/24)

Vor 25 Jahren habe ich nach dreijähriger Aus-, Fort- und Weiterbildung die IGST (Internationale Gesellschaft für Systemische Therapie) in Heidelberg verlassen – drei Jahre intensiver Therapieerfahrung. Meinem eigenen Leben hat diese therapeutische Selbstexkursion den entscheidenden Wendepunkt vermittelt. Selbstkritische, kreative und sozial-intelligente Potentiale entfalten sich nicht von selbst bzw. man kann sie fördern und entwickeln. In meinem Fall brauchte es den Anstoß durch den fremden, wertschätzenden Blick, der mich ermunterte die Tatsache blinder Flecken im Selbstbild sowie in den sozial relevanten Fremdbildern anzunehmen und allein schon dadurch veränderte Kommunikationsgewohnheiten und -formen auszubilden.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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