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Advent 2025 - noch ist nicht Weihnachten!
Elf Jahre sind vergangen seit Richard Linklaters Boyhood, seit Pippo Pollinas L'Appertenenza (siehe nachstehenden Beitrag: Gibt es Elfen, Papa? - "Boyhood" gewinnt einen Golden Globe! aus dem Jahr 2014). In den mörderischen Beobachter meiner Selbst und der mir Nahen war ich da schon lange hineingewachsen. 2001 habe ich dann mit meinen Erzählungen begonnen. Mit Kurz vor Schluss II habe ich dann zwanzig Jahre später einen weiten Bogen gespannt und mich tatsächlich dem Wagnis ausgesetzt, der Drift meines Lebens weiterhin folgen. Dass ich dabei keine wahrheitsfähigen Ausgrabungen geronnener (Individual-)Geschichte vornehmen konnte/wollte, wird am eindrücklichsten durch die - immer wieder eingestreuten lyrischen Absonderungen; sie wirken bis heute, wie Blitzlichter, die teils ein grelles, teils ein schummriges Licht werfen auf empfindliche lebenslaufbezogene seismografische Ausschläge. Entsprechende Erschütterungen ergeben sich meist bei tektonischen Verschiebungen, die Festgefügtes vielfach erschüttern und auch im extremsten Fall einfach hinwegfegen. Bei Karl Otto Hondrich bin ich auf folgende Sätze gestoßen - derselbe Karl Otto Hondrich, dem ich Einblicke in den Horrortrip ins Niemandsland verdanke:
„Genetisch kann aber nie zwischen Personen eingegriffen werden,
sondern immer nur in die Keimbahn des Individuums oder einer Zahl von Individuen.“
Stärker als die Gesetze der Genetik seien die der Soziologie.
"Sie entspringen nicht nur Knappheitsbeziehungen, sondern Beziehungen zwischen den Menschen schlechthin.“ (Seite 173)Der entscheidende Hinweis ist essentiell mit dem zwischen verbunden. Bei keiner meiner Publikationen habe ich verabsäumt mich für mögliche - vielleicht unvermeidbare - Zumutungen zu entschuldigen. (Auf-)Schreiben geschieht unvermeidlicherweise im sozialen Kontext; es ist und bleibt ein relationales Unterfangen, bei dem sich der Chronist in Beziehung setzt: zu sich und zu den (bedeutsamen) anderen. So sind die inzwischen über sechshundert Beiträge in diesem Blog immer und unvermeidbarer Weise eine Repräsentation meiner selbst: meines Denkens, meines Fühlens, meiner Obsessionen, meiner Vorlieben, meiner Abscheu, meiner Unsicherheiten.
Ein wenig von all dem tritt in Boyhood in Erscheinung. Richard Linklater begleitet Mason von seinem sechsten bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr - das Gesicht Masons ist dabei vielleicht mehr und mehr der Spiegel einer Seele, in die wir immer wieder schauen (dürfen/müssen):
Das Gesicht eine Jungen, das seine Offenheit verliert? Ein Gesicht, das düsterer wird und das beginnt sich mit der Idee des Unglücks abzufinden? Ein Gesicht, in dem sich die älteren Jungen spiegeln, die die Brücken zur Erwachsenenwelt bauen. Aber „die Größeren sind widerlich“, und dennoch „ist man auf ihre Infos (zu Drogen, Frauen, Pornografie) angewiesen“. Und was befördern die Linklaters denn sonst noch in den Fokus des mörderischen Beobachters: „Mason wirkt in jeder Szene, als sei er nie ganz da, als warte er schon auf die nächste.“ Und nun kommt auch endlich der Satz, in dem sich die Tücke, ja die Heimtücke des Lebens hineinmeißelt in die düsteren Gesichter aller Masons dieser Erde: „Leben ist das, was vorbeigeht, während man darauf wartet, dass es beginnt.“
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Warum Liebe endet - Eva Illouz: Eine Soziologie negativer Beziehungen verbunden mit der Frage, inwieweit man Kinder davor schützen kann?
Es gibt in Eva Illouz' Buch ein Kapitel, das sie mit dem Titel überschreibt: Die Scheidung und die Position der Frau im emotionalen Feld (S. 279-284). Stellt man den folgenden Kernaussagen zu einer Soziologie negativer Beziehungen Befunde voran, die geschlechtsspezifische Unterschiede im emotionalen Feld betonen, wird vielleicht klarer, was sich doch an gravierenden Veränderungen und Unterschieden zwischen Männern und Frauen beobachten lässt. Eva Illouz spricht von der überragenden Bedeutung emotionaler Prozesse in der Ehe und als Scheidungsursache. Und hier gibt es ganz offenkundig gewaltige Unterschiede zwischen Frauen und Männern:
"Die bisher angeführten Erkenntnisse - dass Frauen eher eine Bindung suchen, eher eine Scheidung einreichen und dies eher aus emotionalen Gründen tun als Männer - legen nahe, dass Frauen so, wie sie sexuelle Verträge anders eingehen als Männer, auch die Ehe anders erleben und eine Scheidung anders in die Wege leiten. Sie bedienen sich dazu in beiden Fällen ihrer Emotionalität, berufen sich auf sie und steuern sie." (S. 281)
Weiterlesen: Warum Liebe endet - Eva Illouz: Eine Soziologie negativer Beziehungen
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Theodor W. Adorno: Tisch und Bett und Karl Otto Hondrich: Rauft euch zusammen!
Umfassendere Verlinkungen und versprochene Ausflüge in das Lyrische Klärwerk werden nachgeliefert!
Ja, hat man einmal angefangen, verliert man sich leicht in Theodor W. Adornos knappen, doch um so eindringlicher daher kommenden Aphorismen. Bedenkt man, dass sie bei Suhrkamp erstmals 1951 erschienen sind, erscheinen einem die - wie mit einem Skalpell vorgenommen - Schnitte in die Wirklichkeit unseres sozialen Lebens tatsächlich wie das gebleckte Gebiss eines harten Hundes. Dies erscheint hier jemandem auf so brutale Weise, der all dies kennt; es erscheint jemandem, der im chaotischen Gewirr der Gleise, auf denen er sich vor mehr als dreißig Jahren bewegte, jene Weiche erwischte, deren richtungsweisende Kurskorrektur ihm dann ein Jahrzehnt später von Karl Otto Hondrich in Gestalt seiner gleichermaßen gewaltigen wie hilflosen Reflexionen in: Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft geschenkt wurde. Seither erscheint Karl Otto Hondrichs in Total-Ambivalenz ausgerufener Appell: "Rauft euch zusammen!" wie ein ewig präsenter Nachhall auf die Irrungen und Wirrungen, denen in der postmodernen Gesellschaft mit ihren Individualisierungschüben und -verheißungen niemand entgeht.
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Theodor W. Adorno - Ein harter Hund?
Für Rudi Krawitz (11.12.1943 - 01.09.2025)
Erscheint Theodor W. Adorno im vorangegangenen Beitrag noch als jemand, der das mors certa - hora incerta in all seiner konkreten Mächtigkeit in unsere Empfindungwelt rückt und darin spiegelt, erweist er sich in seiner einhundertundsechsten Auslassung seiner Aphorismensammlung Minima Moralia - Die Blümlein alle - (Seite 218-219) als brutaler und erbarmungsloser Bilanzbuchhalter gescheiterter Lebensläufe. Denen droht er sozusagen in desaströser Bilanzierung:
"Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst."
Und allen, die in der Illusion leben, Erinnerungen seien der einzige Besitz, den niemand uns nehmen könne, ruft er zu:
"Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht
unauflöslich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen."
Und die gegen Verdinglichung gewandte Konzeption Bergsons und Prousts, derzufolge das Gegenwärtige, die Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnis sich konstituiere, die Wechselwirkung von Jetzt und Damals, habe darum nicht nur den rettenden, sondern auch den infernalischen Aspekt:
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Die Zeit fliegt – aus: Theodor W. Adorno - Minima Moralia
(Suhrkamp – Frankfurt, 1969, Seite 105-106)
Die fast unlösbare Aufgabe bestehe darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen! Das war offenkundig Theodor W. Adornos Credo. Lasst uns sehen, wie wir uns in diesem Spannungsraum wiederfinden und in ihm sowohl unsere Möglichkeiten finden (und auch nutzen) als auch den Weg aus ihm finden – auf so anständige Weise wie möglich.
