Startseite
- Details
Meine Weihnachtsgeschichte 2025
Die Flut der Ereignisse lässt mich lieb gewonnene Gewohnheiten neu ordnen. Beim erneuten Lesen von: Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte ist mir aufgefallen, dass das Urmotiv, das ich mit meinen Kindheitserinnerungen verbinde, in der Vielzahl der Anmerkungen unterzugehen droht. Das ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass auf der einen Seite die Abschiede zahlreicher werden. Auf der anderen Seite wächst unsere Familie. Unser viertes Enkelkind, Lia-Sophie, hat am 10. September 2025 das Licht der Welt erblickt.
Daher habe ich mich entschlossen, zu meinem Urmotiv zurückzukehren und mich auf meine Weihnachtsgeschichte zu beschränken. Da sich mit zunehmenden Alter abschiedliche und aufbrechende Perspektiven immer stärker miteinander verschränken, halte ich die alte Tradition insofern bei, als ich hier einen Link setze, mit dem man das alte Format aufrufen kann. In diesem Format habe ich - in einer Art Chronistenpflicht - all jene Ereignisse festgehalten, die inzwischen den Rahmen meiner Weihnachtsgeschichte sprengen. So können sich alle eingeladen fühlen - je nach Gusto - die ausufernde (und bebilderte) Version unter Weihnachtsgeschichte 2.0 aufzurufen.
Und nun zum Kern meiner (alten) Weihnachtsgeschichte:
Woran lässt sich der Abschied von zu Hause vor 51 Jahren – zu Beginn des Studiums, schon zu Bendorfer Zeiten, und auch noch in Güls - auf exemplarische Weise zeigen? Der erste Heilige Abend, den ich nicht in und mit meiner Herkunftsfamilie verbringen durfte, markiert Abschied und Aufbruch zugleich:
Eines der eindrücklichsten Rituale in meiner Kindheit verbindet sich mit dem Weihnachtsfest.
Mein Vater war seit Beginn der fünfziger Jahre Croupier im Bad Neuenahrer Spielcasino. Damit verband sich ein eigenwilliger Arbeitsrhythmus, bei dem eine Schicht mal um 14.00 Uhr begann und dann gegen 22.00 Uhr zu Ende ging. Dann war mein Vater auch schon früh auf den Beinen. Begann sein Dienst aber erst gegen 20.00 Uhr oder später, kam er erst morgens in der Frühe nach Hause und schlief lange. Wir mussten leise sein und Rücksicht auf ihn nehmen. Weihnachten – am Heiligen Abend und am ersten Weihnachtstag – ruhte aber auch im Casino der Spielbetrieb. Und bei uns zählte der Heilige Abend:
Dies war bei weitem keine Idylle – auch bei uns gab es die üblichen Streitereien und Aufgeregtheiten wegen des Christbaumes oder anderer Kleinigkeiten; die Atmosphäre war von erwartungsvoller Spannung erfüllt. Dies alles verlief nach einem festen Grundmuster – ein alljährlich wiederkehrendes Ritual: Der Glasausschnitt in der Türe zum Wohnzimmer war mit einer Decke verhangen, und alles Leben spielte sich in der Küche ab. Dort herrschte schon Wochen vorher reger Backbetrieb – wie in einer Weihnachtsbäckerei. Und am Heiligen Abend war der Tag der Sülze und der Pute. Die Sülze war Papas Hoheitsterrain. Neben der vorzüglichen Brühe, die dabei entstand, konzentrierte er sich auf das sorgfältige Abfegen der Knochen. Kein Fitzelchen Fleisch entging seiner Bestimmung. Einige Behältnisse füllten sich mit der nach und nach gelierenden Brühe, reichlich mit Fleisch und Gewürzen versehen. Ich mochte nur das Gelee – und das soll ja wohl gut für die Konsistenz und Widerstandsfähigkeit der Knochen sein. Und dann der Puter; der wurde von Jahr zu Jahr größer. An unserem Weihnachtstisch versammelten sich ja schließlich auch von Jahr zu Jahr mehr Esser, zumindest bis 1968, als unsere Oma nicht mehr dabei war. Das Weihnachtsessen fand in der „großen Familie“ statt. Nach der Bescherung - am frühen Abend - fanden sich alle bei uns im Wohnzimmer ein. Das war kein Problem, da wir ja Hausbacke an Hausbacke nebeneinander wohnten: Oma, Opa, Mama, Papa, Ulla (später Ernst), Willi, Tante Annemie, Gaby und ich; für zwei oder drei Jahre war ab 1962 auch noch Michael, Ullas und Ernstens Sohn, dabei.
Waren schon die Tage vor dem Heiligen Abend von gespannter Erwartung erfüllt, so geriet der 24. Dezember selbst manchmal zu einem unvergleichlichen Höhepunkt. Von da an eröffnete sich eine Nische, in der man unsichtbar wurde für die Schule und den Rest der Welt. Manchmal sind wir – Papa, Willi, Gaby (Gaby ist unsere Cousine) und ich – für zwei Stunden verschwunden, um dem Christkind Gelegenheit für die letzten Vorbereitungen zu geben.
In besonders lebendiger Erinnerung ist mir ein Heiliger Abend in den frühen sechsziger Jahren, an dem es schon um die Mittagszeit heftig zu schneien begonnen hatte. Nach allem, was - teils unter unserer Mithilfe – noch zu tun war, machte sich unser Papa mit uns auf den Weg. Die Erinnerung ist deshalb vielleicht so eindrücklich, weil wir auf den Friedhof wanderten. Man braucht von der Kreuzstraße zum Friedhof am Fuße des Neuenahrer Berges – je nach Tempo – eine halbe bis dreiviertel Stunde. Ich kann mich an keine andere Gelegenheit erinnern – außer der einen oder anderen Beerdigung –, zu der mein Vater mit uns auf den Friedhof gegangen wäre. Dort waren seine Eltern – meine Großeltern – beerdigt. Wir Kinder, bis auf meine Schwester, Ulla, haben sie nicht mehr kennen gelernt. Meine Oma ist im August 1948 und mein Opa Anfang der 50er Jahre gestorben.
Dieser hier mit Mittelpunkt stehende Heilige Abend war ein besonderer, weil er uns die immer heiß ersehnte weiße Weihnacht bescherte.
Kleinen Zwergen gleich zogen wir frische Spuren durch den Neuschnee und fühlten uns wohlbehütet, geborgen in der Aufmerksamkeit und Fürsorge der Erwachsenen. Wie auf einer Postkarte hat sich mir dieser Spaziergang eingeprägt – eingerahmt von einer allseits ersehnten weißen Weihnacht, erfüllt von einer eigentümlichen Spannung. Den Heiligen Abend und die Bescherung vor Augen wanderten wir durch die schneeerfüllte Luft hinein in die Dämmerung; hinein ins Dunkel, in die Friedhofsruhe – immer in der beruhigenden Gewissheit, dort ein wenig zu verweilen, das Leben zu fühlen, innerlich jauchzend schon in der Vorfreude auf das, was uns erwartete; im sicheren Wissen, dass wir zurückkehren würden in die warme, strahlende Stube, wo das Christkind alles gerichtet hat, und wo sich alles nur um uns drehen würde.
Während ich so phantasiere, spüre ich wieder die Kälte, eingemummelt in warme Kleider und sehe vor mir das weihnachtliche Motiv einer weißen Friedhofslandschaft. Wir stehen am Grab meiner Großeltern. Unser warmer Atem malt helle Schleier in die kühle Schneeluft. Mein Vater zündet eine Kerze an; auf fast allen Gräbern flackern die schwachen, zarten Lichter der Erinnerung. Und so oft ich später an sein Grab kam, jemand war schon vor mir da. Auf jenem Grab, in dem auch seine Eltern begraben sind, brannte eine Kerze für ihn. Nur fünf Meter und eine Gräberreihe trennen ihn heute von seinem Sohn, Willi (meinem jüngeren Bruder), und Gabys Vater liegt zwei Gräberreihen entfernt, alle ganz nahe beieinander. Und 2003 bzw. 2004 haben dort, im großelterlichen Grab mütterlicherseits meine Mutter und meine Tante, Gabys Mutter, ihre letzte Ruhe gefunden. Von meiner Herkunftsfamilie leben nur noch meine Schwester und ich – und meine Cousine Gaby gehört wie eh und je dazu. So sind wir heute in der Unterzahl und es gibt nicht mehr so viele, die eine Kerze entzünden (in diesem Jahr - 2025 - haben wir die Belegungsfrist um weitere 30 Jahre verlängert)
Aber damals, an diesem besonderen Heiligen Abend, wird uns der Rückweg ein Fest: Die menschenleeren Straßen und die Parks vermitteln eine behagliche Stille, alles geschäftige Leben ist erstorben. Doch in uns brennt die Fackel erblühenden Lebens. Im schwachen Licht der Straßenlaternen tänzeln und glitzern die feinen Schneekristalle wie pulverisiertes Lametta. Der Schnee hüllt Dächer und Straßen, Bäume und Plätze in ein festliches Weiß. Alles deckt er zu und weckt in mir eine Art beharrlichen Gleichmuts, der wie ein basso continuo mich in meinem Leben immer wieder besänftigen und ermuntern sollte. Jeder Schritt im weichen, frischen Schnee führte uns damals hinein in ein Leben, das uns an diesem Tag herrlich und endlos erschien. Wir gehören zusammen, fühlen uns verbunden, und so tauchen wir ein in die festliche Stimmung – immer noch Vorfreude. Und niemand ist allein! Alle Fenster leuchten, manche hell wie der Weihnachtsstern, andere heimlicher und flackernd wie ferne Gestirne. Aber alle verheißen das Weihnachtsfest. Und alle Menschen kommen zusammen, die zusammengehören. Alle?
Erst jetzt im Nacherleben dieser glücksseligen Stimmung stellt sich mir wieder die Frage, wie Gaby das alles wohl erlebt haben mag. Gaby, die damals noch kein wirkliches Bewusstsein davon hatte, ein Scheidungskind zu sein, die zu uns gehörte, die wir in unserem bescheidenen Wortschatz noch keinen Begriff für den Fall ausgebildet hatten, dass Eltern getrennte Wege gehen. Ob wir durch die große Familie und unsere Gemeinsamkeit das Fehlen von Onkel Fred, ihrem Vater, ein wenig gemildert haben?
Gaby schrieb mir gestern unter anderem: "Ich habe bedingt durch die Familienweihnachtsfeier bei euch nichts vermisst. Mein Vater hat täglich mit mir telefoniert - so war er immer nah. Sicherlich gab es Momente, wo er gefehlt hat - aber Weihnachten war für mich nicht das Problem."
- Details
Sabine Bode: Ein Abend in Maria Laach - Nachgetragene Reflexionen und Anregungen
Es ist der Vortag zum 24. Dezember 2025. Ich arbeite eigentlich an meiner alljährlichen erneuerten Weihnachstgeschichte Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte, für die ich mich in diesem Jahr wieder auf das Wesentliche besinnen möchte. Häufiger habe ich schon darauf hingewiesen, dass ein Überblick über die mehr als 600 Beiträge in diesem Blog kaum mehr möglich ist. Einiges ist ja tatsächlich auch auf Papier gebannt; so wie die 100 Beiträge in Kurz vor Schluss I. Zehn Jahre, nachdem ich den "Abend mit Sabine Bode" tagebuchartig festgehalten und diesen Bericht 2017 in Kurz vor Schluss I integriert habe, dient er mir zur morgendlichen Lektüre - eher einem Zufallsgenerator geschuldet als einer absichts- und planvollen Haltung. Ich blättere halt immer wieder einmal in meinen Aufzeichnungen. Und nur die Tatsache, dass ich mich - wiederum einem Zufallsgenerator geschuldet, den wir im Übrigen Lebenslauf nennen - vor fast sechzig Jahren in der Zehnfingerfertigkeit geübt habe: a s d f - j k l ö erlaubt mir heute überhaupt - gewissermaßen in Affengeschwindigkeit - Texte zu generieren, mit denen ich mir und der Welt versuche hinterherzukommen. Das wäre ja alles nicht weiter berichtens- und bemerkenswert, wenn die Zufallsgeneratoren mir aus der Fülle nachgelassener Bibliotheken nicht immer wieder Kostbarkeiten in die Hände spielen würden.
- Details
Café Hahn-Jahreskalender 2026
Liebe Gäste,
K o b l e n z b l e i b t b u n t
– unter diesem Motto positioniert sich Koblenz – wie die gesamte Republik - seit langem gegen die Versuche von Rechtspopulisten, ihre völkischen Vorstellungen von einem Bio-Deutschtum mehrheitsfähig zu machen. Einer der Leuchttürme in dieser Landschaft ist seit mehr als vierzig Jahren das Café Hahn. Wenn Ihr Café Hahn-Kalender 2026 anklickt, bekommt Ihr auf der einen Seite den Jahreskalender mit den bisher schon feststehenden Veranstaltungsterminen: Auf den Rückseiten gibt es Lyrik aus meiner Feder - unterlegt mit kleinen Informationshäppchen.
- Details
Puh, Patchwork – Wie Familie trotz Trennung gelingen kann (SPIEGEL 52/25, Seite 10-16)
STARK spielt auch eine Rolle (bitte auch unbedingt hier anklicken) - und Andreas Kirchners differenzierter Blick auf Trennungen
Es beginnt mit einer offenen Patchwork-Elterngruppe. Sie soll Raum für ehrlichen Austausch bieten. Dann werden eine Fülle alltäglicher Probleme angerissen – mit dem Resümee:
„Die Elterngruppe könnte überall tagen. Sie steht beispielhaft für Hunderttausende Menschen in Deutschland, Schätzungen zufolge lebt hier in jeder zehnten Familie ein Stiefelternteil. In diesen zusammengewürfelten Familien sind die Eltern geschieden oder getrennt, die Töchter und Söhne wohnen vorwiegend bei einem Elternteil oder pendeln zwischen Mutter und Vater.“
Wir langen an bei dem, was die Soziologie komplexe Stieffamilien nennt. Dem SPIEGEL-Beitrag – das muss man ihm ehrenhalber zugutehalten – geht es nicht um eine euphemistische Glättung von Entwicklungstrends, die selbstredend ihre Tücken in sich bergen:
Weiterlesen: Puh, Patchwork – Wie Familie trotz Trennung gelingen kann
- Details
-
Advent 2025 - noch ist nicht Weihnachten!
Elf Jahre sind vergangen seit Richard Linklaters Boyhood, seit Pippo Pollinas L'Appertenenza (siehe nachstehenden Beitrag: Gibt es Elfen, Papa? - "Boyhood" gewinnt einen Golden Globe! aus dem Jahr 2014). In den mörderischen Beobachter meiner Selbst und der mir Nahen war ich da schon lange hineingewachsen. 2001 habe ich dann mit meinen Erzählungen begonnen. Mit Kurz vor Schluss II habe ich dann zwanzig Jahre später einen weiten Bogen gespannt und mich tatsächlich dem Wagnis ausgesetzt, der Drift meines Lebens weiterhin folgen. Dass ich dabei keine wahrheitsfähigen Ausgrabungen geronnener (Individual-)Geschichte vornehmen konnte/wollte, wird am eindrücklichsten durch die - immer wieder eingestreuten lyrischen Absonderungen; sie wirken bis heute, wie Blitzlichter, die teils ein grelles, teils ein schummriges Licht werfen auf empfindliche lebenslaufbezogene seismografische Ausschläge. Entsprechende Erschütterungen ergeben sich meist bei tektonischen Verschiebungen, die Festgefügtes vielfach erschüttern und auch im extremsten Fall einfach hinwegfegen. Bei Karl Otto Hondrich bin ich auf folgende Sätze gestoßen - derselbe Karl Otto Hondrich, dem ich Einblicke in den Horrortrip ins Niemandsland verdanke:
