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Novina Göhlsdorf: Der Rhythmus meines Vaters

Für Laura und Anne, denen es vermutlich zeitweise auch wie Novina Göhlsdorf gehen wird - wie allen Töchtern auf dieser Welt.
Bedauernswerter sind nur jene Töchter, die wirklich vaterlos aufwachsen müssen. Wenn bei allen Vorbehalten und Einschränkungen eines aus Novina Göhldorfs Text strahlt, dann mit Sicherheit diese Gewissheit!

Und auch ein bisschen für Ann-Christin und Kathrin - den Vater kann niemand ersetzen!

Die goldfarben unterlegten Begriffe bzw. Passagen kann man anklicken!

Novina Göhldorfs Vater ist 74 und Stammgast im Techno-Club. Als seine Tochter das erste Mal mitgeht, versteht sie nicht nur ihn besser, sondern auch sich selbst. So wird Novina Göhlsdorf Essay eingeleitet, mit dem mehr repräsentiert wird als der gemeinsame Besuch von Vater und Tochter in einem Berliner Club. Ich habe den Beitrag zwei Mal gelesen; das zweite Mal mit vier verschiedenfarbigen Textmarkern in der Hand - dazu noch einen rotfarbigen PILOT G-2 07 Stift. Nun gibt es auf den sechs Seiten im ZEIT-Magazin (Nr. 50 vom 27.11.2025) kaum noch unmarkierte, unkommentierte Passagen. Warum - um Gottes Willen - diese Aufmerksamkeit, diese Akribie? In einem Vierteljahr bin ich selbst 74. Ich bin Vater zweier Töchter - und: was im Verlauf der Auseinandersetzung mit diesem Text noch eine entscheidende Rolle spielen wird, Großvater von inzwischen vier Enkelkindern. Aber der Reihe nach:

  • Was man über den Vater Novina Göhldorfs - neben der Tatsache, dass er 74 Jahre alt ist - erfährt, bezieht sich zum einen auf den aktuellen Kontext, der Vater und Tochter in einem Berliner Club - Kater Blau ,pardon, es ist der Club Sisyphos - zusammenführt. Nach einem längeren Zögern nimmt die Tochter die Einladung in den Club an. Novina Göhlsdorfs Text wird latent und subtil getragen von dem Motiv, herauszufinden, was Vater und Tochter verbindet. Dazu wird es höchst bedeutsame und berührende Einblicke in Kindheit, Jugend und die Prozesse der Loslösung vom Elternhaus geben. Zunächst aber einmal zum Status quo: "Mein Vater hat sein immergleiches Club-Outfit an: ein silbergraues Shirt mit verblasstem Aufdruck zur dünnen hellgrauen Leinenhose; er ist barfuß in grau-beigen Birkenstock-Sandalen, die gerade nur zufällig alle anhaben."
  • Novina Göhlsdorf erzählt, dass ihr Vater mit 61 auf die Musik stieß, zu der er abtanzen konnte – so nannte er es irgendwann: „Allmählich wurde das Tanzen zum eigentlichen Grund, aus der westfälischen Kleinstadt, in der meine Eltern leben, nach Berlin zu fahren, wo mein Bruder und ich wohnen. Im Sommer kommt mein Vater fast jeden Monat einmal her. Am liebsten geht er ins Sisyphos, eine ehemalige Hundekuchenfabrik. Hier kann man von Freitag bis Sonntag durchgehend tanzen, in der warmen Jahreszeit auch draußen. Seine Berlin-Besuche hat mein Vater mehr und mehr auf den Sisyphos-Kalender abgestimmt, er verbringt lange Wochenenden von vormittags bis Mitternacht auf der Tanzfläche, kehrt nur zum Schlafen zurück in die Wohnung meines Bruders.“ Diese längere Passage gebe ich hier wieder, um den Vater – aus dem Blickwinkel seiner Tochter - in einem aktuell bedeutsamen zentralen identitätsstiftenden Moment seiner Gegenwartspersönlichkeit greifbar zu machen.
  • Ein weiteres Zitat soll Vorstellungen relativieren, die vielleicht mit der Phantasie des einsamen Wolfes spielen, der nicht alt werden kann/will: "Mein Vater ist so zäh wie zappelig, vermutlich der hibbeligste 74-Jährige, den es gibt. Wenn er nicht schläft ist er meist auf den Beinen oder auf dem Tandem, hintendrauf meine Mutter, mit der er, sooft es geht, durchs westfälische Land tourt - ein geeignetes gemeinsames Hobby, das es ihr inzwischen schwerfällt, lange zu laufen oder viele Treppen zu steigen, und er am liebsten dauernd in Bewegung ist. Er ist, was man >jung geblieben< nennt. Seine Energiereserve scheint endlos, sein Geist unverändert wach und schnell."
  • Er ist ein Vater, den die Kinder – nachdem er eine Stelle in der Technologiebranche fand – nur abends oder an Wochenenden sahen: „Doch wann immer er konnte, wickelte und fütterte er uns, ging mit uns auf den Spielplatz oder ins Schwimmbad. Trotz seiner klassischen Rolle des Familienversorgers war er kein klassisches Familienoberhaupt, im Gegenteil: Er war nahbar  und wollte keine Autorität für uns sein.“ Wenn man so will ist hier die unverbrüchliche Wurzel gelegt, die ein intensives Bindungs-, Zugehörigkeits- und Geborgenheitsfluidum verbürgt. Vermutlich hätte sich Novina Göhlsdorf auf den Versuch einer neuerlichen Annäherung gar nicht erst eingelassen. Ich werde auf ihr Vaterbild intensiv eingehen, kann aber bereits an dieser Stelle etwas aufgreifen und verdeutlichen, was die intensive Aua-Phase im Loslösungs- und Menschwerdungsgeschehen anbelangt:
  • Novina Göhlsdorf bekennt: „In meiner Kindheit habe ich es genossen, dass er sich mir gegenüber nicht wie ein Erziehungsberechtigter verhalten hat, mit mir gespielt hat, als wäre er ein Kind, und mit mir gesprochen, als wäre ich erwachsen. Doch spätestens in meiner Teenagerzeit wollte ich ihn nicht mehr zum Freund, sondern zum Vater, der er nie sein wollte oder jedenfalls nie war: jemand, von dem ich mich absetzen konnte.“ Novina Göhlsdorf schildert nun die fatale Verweigerung – in diesem Falle zumindest des Vaters – die Elternrolle anzunehmen; verkürzt gesagt, das „Beste-Freundin/Bester-Freund-Syndrom, mit dem Kinder im extremsten Fall in die Rollenumkehrung – in die Parentifizierung - getrieben werden: „Seitdem ich 14 war, wurden mein Vater und ich einander fremd. Erst laut, dann allmählich leiser. Und nachdem ich bei meinen Eltern ausgezogen war, nahmen wir selten mehr als die Oberfläche des Lebens wahr, das der andere führte. Unsere Entfremdung dauert nun schon mehr als mein halbes Leben. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die mich seine Einladung, ins Sisyphos mitzukommen am Ende doch hat annehmen lassen.“

Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Ein Beitrag zur Theorie der Diktatur

1974 im Oktober begann ich mein Studium an der seinerzeitigen Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abteilung Koblenz (heute: Uni Koblenz). Ich stieß sehr früh auf den Politikwissenschaftler Heino Kaack, der - vollkommen ungewöhnlich und überraschend für den Standort - ein großes DfG-gefördertes Forschungsprojekt nach Koblenz holte: Parteiensystem und Legitimation des Politischen Systems - kurz PALEPS.

Mir persönlich gestattete die Mitarbeit in diesem, bis 1984 in die Forschungs-, Lehr- und Qualifizierungsstruktur der Hochschule integrierten Projekt eine - ich möchte behaupten - lebenslaufbestimmende Weichenstellung. Mir wurde ermöglicht nach dem Ersten Staatsexamen für das Lehramt ein Diplomstudium anzuschließen und schließlich als einer der ersten auf der Grundlage der vor allem von Heino Kaack betriebenen Implementierung einer Promotionsordnung auch zu promovieren (siehe hier und etwas lesbarer hier die in APuZ erschienene Zusammenfassung - zur Veröffentlichung der Dissertation in Langfassung).

Karl Ove Knausgard - Vom Lesen und Schreiben

Na klar, es lohnt sich einmal wieder ZEIT-Abonnent zu sein: Literatur – 10 Seiten Bücher – Ein Spezial zu Weihnachten (früh genug, dass auch die Buchhandlungen noch etwas davon haben: ZEIT 49/25, Seite 56ff.)

Karl Ove Knausgard eröffnet: Rilke und ich – Der Dichter wurde vor 150 Jahren geboren, im nächsten Jahr ist sein 100. Todestag. Er hat mich mein Leben lang begleitet – und zum Schriftsteller gemacht

Die erste Spalte besteht aus von Knausgard ausgewählten Passagen und Sätzen aus dem Werk Rainer Maria Rilkes. Er kommentiert das mit dem Hinweis:

„Diese Zitate sind kleine Streiflichter in etwas unendlich viel Größerem, Rilkes Werk, und mein Problem ist, dass ich mich stets in seinem Inneren befunden habe wie in einem Wald und nie, kein einziges Mal, versucht habe, es von außen zu sehen, es zu analysieren, es festzuhalten.“

Karl Otto Hondrich - ein Weiser aus dem Abendland

Wie beginnt man die Auseinandersetzung mit einem Text, von dem man die dumpfe Ahnung hat, dass er den eigenen Horizont auf eine Weise weitet, dass sich da noch einmal etwas Originelles, etwas Überraschendes ereignet? Karl Otto Hondrichs Aufsatz: Der genoptimierte Mensch – und sein soziales Erbe umfasst 15 überschaubare Seiten (in: Karl Otto Hondrich, Der Neue Mensch, Suhrkamp, Frankfurt 2001, Seite 163-178). Hondrich, geboren 1937 in Andernach, schreibt ja nicht mehr. Er kann in dieser Welt nicht mehr schreiben. Er ist im Alter von nicht einmal 70 Jahren 2007 gestorben. Beim Lesen des erwähnten Aufsatzes aus dem Jahre 2000 habe ich den Eindruck, dass die vergangenen 25 Jahre mit Blick auf die Genoptimierung uns noch einmal einen enormen Schub von Innovationen beobachten lassen:

GEO Dezember 2025: Die letzten Tage - Ein gutes Ende: Sterben lernen: Was in unseren letzten Tagen das Leben leichter macht

Auch für Hilla

In einem Geo-Themenheft würde einen - angesichts der sich beschleunigenden Klimakrise - ein Titel wie: Die letzten Tage der Menschheit nicht überraschen. Der Themenschwerpunkt im Dezemberheft befasst sich hingegen mit dem individuellen Ende, dem niemand von uns entgehen wird. Die letzten Tage - Lebensende werden eingeleitet mit der Anmerkung:

"Die meisten von uns wollen es, den wenigsten gelingt es: dem Tod zu Hause begegnen, in vertrauter Umgebung. Fotografin Nora Klein zeigt, wie Menschen diesen letzten Weg erleben. GEO-Autorin Katharina von Ruschkowski ergründet, wie besseres Sterben gelingen kann. Und warum es höchste Zeit ist, darüber zu sprechen."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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