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Theodor W. Adorno - Ein harter Hund?
Für Rudi Krawitz (11.12.1943 - 01.09.2025)
Erscheint Theodor W. Adorno im vorangegangenen Beitrag noch als jemand, der das mors certa - hora incerta in all seiner konkreten Mächtigkeit in unsere Empfindungwelt rückt und darin spiegelt, erweist er sich in seiner einhundertundsechsten Auslassung seiner Aphorismensammlung Minima Moralia - Die Blümlein alle - (Seite 218-219) als brutaler und erbarmungsloser Bilanzbuchhalter gescheiterter Lebensläufe. Denen droht er sozusagen in desaströser Bilanzierung:
"Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst."
Und allen, die in der Illusion leben, Erinnerungen seien der einzige Besitz, den niemand uns nehmen könne, ruft er zu:
"Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht
unauflöslich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen."
Und die gegen Verdinglichung gewandte Konzeption Bergsons und Prousts, derzufolge das Gegenwärtige, die Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnis sich konstituiere, die Wechselwirkung von Jetzt und Damals, habe darum nicht nur den rettenden, sondern auch den infernalischen Aspekt:
"Wie kein früheres Erlebnis wirklich ist, das nicht durch unwillkürliches Eingedenken aus der Totenstarre seines isolierten Daseins gelöst ward, so ist umgekehrt keine Erinnerung garantiert, an sich seiend, indifferent gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; kein Vergangenes durch den Übergang in die bloße Vorstellung gefeit vorm Fluch der empirischen Gegenwart. Die seligste Erinnerung an einen Menschen kann ihrer Substanz nach widerrufen werden durch spätere Erfahrung."
Zu Rudis Vermächtnis gehört die Denkende Betrachtung (Selbstverlag - Koblenz 2022, 80 Seiten). Er greift Hegels Hinweis auf, die Philosophie könne zunächst im allgemeinen als denkende Betrachtung der Gegenstände bestimmt werden. Und im Sinne Kants macht er sich die schlichte Erkenntnis zu eigen, dass Gedanken ohne Inhalt leer sind, so wie Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Auf Seite 5 seiner Denkenden Betrachtungen präzisiert Rudi seine Sichtweise, indem er ausführt: "Betrachtung heißt Denken. Der denkende Blick oszilliert zwischen innen und außen: denkende Betrachtung."
Seine kurzen Aphorismen kombiniert Rudi mit eigenen fotografischen Blitzlichtern - im Vorübergehen festgehaltene Schnappschüsse - auf Fotopapier gebannte Impressionen. Seinen Schlüsselbegriff der Betrachtung (Seite 5) kombiniert er mit der Ablichtung einer Tuffstein-Büste (1980) von Rudi Scheuermann (25.09.1929 - 10.03.2016)
Die Pietà in der Liebfrauenkirche in Koblenz unterlegt er mit den beiden Worten: Nachgetragene Liebe (Seite 23) und führt dazu aus: ">Er ist tot.< Ein Satz, der eine Mutter und einen Vater in Leib, Seele und Geist wie ein Blitzschlag trifft. Ich musste ihn zweimal überleben..., diesen Blitzschlagsatz."
"Lieber Jupp,
als einer der wenigen aufmerksamen Beobachter meiner Arbeiten sollst Du die erweiterte Fassung der Denkenden Betrachtung nun auch gedruckt bekommen -
Gruß Rudi"
Der aufmerksame Beobachter kommentiert die Nachgetragene Liebe folgendermaßen:
"Lieber Rudi,
2022 galt diese Einsicht - der Blitzschlagsatz - noch! Am 1. September 2025, als Du Dir den assistierten Suizid gestattet hast, hatte sie sich nochmals um eine gnadenlose Facette erweitert, indem Deine Tochter ein weiteres >Todesurteil< gesprochen hatte - nein, nicht Deines!
Gruß Jupp
Koblenz, den 11.12.2025
Lieber Rudi,
die Denkende Betrachtung vollzieht sich - systemtheoretisch betrachtet - in dem, was wir im Gegensatz zum gelebten Leben (Bios) und dem erzählten Leben (Kommunikation) das erlebte Leben (Gedanken - Denken) nennen können. Du, Rudi lässt uns Anteil nehmen an Facetten - Funken - Deines erlebten Lebens; dies allerdings spärlich - überaus spärlich, indem Du Eindrücken - Deinen Gedanken - Ausdruck verleihst; in Gestalt von Aphorismen - als schlichte, oft spannungsgeladene Anmerkungen, die vorher Anmutung waren!
Deine denkenden Betrachtungen werden mir fehlen. In einer Mail vom 20.07.2018 schriebst Du mir anlässlich des Todes von Wolfgang Fraunholz:
"Habe telefonisch Menke informiert. Er ist ja einer der Wenigen, die noch einem würdigen >Andenken< - auch so ein Heideggerscher Begriff - fähig sind. Heute kam Eure liebe >Ansichtskarte< (Herberts Ritual). Dafür wollte ich >danken< (wieder Heidegger: >Denken ist Danken<). So nun habe ich genug >geraunt<
Gruß Rudi"
Lieber Rudi,
am 11. Mai 2024 um 9.30 Uhr hast Du für Mario (Engel) im Trauer-Portal eine Kerze angezündet: "Gedenkkerze Rudi Krawitz - entzündet am 11.05.2024 um 9.30 Uhr. Nur wer vergessen wird, ist tot."
Ein letztes Mal:
KOMMT -
Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.
Kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.
Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun -
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,
uns schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot -
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.
Gottfried Benn: Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag, Wiesbaden 1960, Seite 320)
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Die Zeit fliegt – aus: Theodor W. Adorno - Minima Moralia (Suhrkamp – Frankfurt, 1969, Seite 105-106
Die fast unlösbare Aufgabe bestehe darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen! Das war offenkundig Theodor W. Adornos Credo. Lasst uns sehen, wie wir uns in diesem Spannungsraum wiederfinden und in ihm sowohl unsere Möglichkeiten finden (und auch nutzen) als auch den Weg aus ihm finden – auf so anständige Weise wie möglich.
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Novina Göhlsdorf: Der Rhythmus meines Vaters
Für Laura und Anne, denen es vermutlich zeitweise auch wie Novina Göhlsdorf gehen wird - wie allen Töchtern auf dieser Welt.
Bedauernswerter sind nur jene Töchter, die wirklich vaterlos aufwachsen müssen. Wenn bei allen Vorbehalten und Einschränkungen eines aus Novina Göhldorfs Text strahlt, dann mit Sicherheit diese Gewissheit!
Und auch ein bisschen für Ann-Christin und Kathrin - den Vater kann niemand ersetzen!
Die goldfarben unterlegten Begriffe bzw. Passagen kann man anklicken!
Novina Göhldorfs Vater ist 74 und Stammgast im Techno-Club. Als seine Tochter das erste Mal mitgeht, versteht sie nicht nur ihn besser, sondern auch sich selbst. So wird Novina Göhlsdorf Essay eingeleitet, mit dem mehr repräsentiert wird als der gemeinsame Besuch von Vater und Tochter in einem Berliner Club. Ich habe den Beitrag zwei Mal gelesen; das zweite Mal mit vier verschiedenfarbigen Textmarkern in der Hand - dazu noch einen rotfarbigen PILOT G-2 07 Stift.Nun gibt es auf den sechs Seiten im ZEIT-Magazin (Nr. 50 vom 27.11.2025) kaum noch unmarkierte, unkommentierte Passagen. Warum - um Gottes Willen - diese Aufmerksamkeit, diese Akribie? In einem Vierteljahr bin ich selbst 74. Ich bin Vater zweier Töchter - und: was im Verlauf der Auseinandersetzung mit diesem Text noch eine entscheidende Rolle spielen wird, Großvater von inzwischen vier Enkelkindern. Aber der Reihe nach:
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Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Ein Beitrag zur Theorie der Diktatur
1974 im Oktober begann ich mein Studium an der seinerzeitigen Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abteilung Koblenz (heute: Uni Koblenz). Ich stieß sehr früh auf den Politikwissenschaftler Heino Kaack, der - vollkommen ungewöhnlich und überraschend für den Standort - ein großes DfG-gefördertes Forschungsprojekt nach Koblenz holte: Parteiensystem und Legitimation des Politischen Systems - kurz PALEPS.
Mir persönlich gestattete die Mitarbeit in diesem, bis 1984 in die Forschungs-, Lehr- und Qualifizierungsstruktur der Hochschule integrierten Projekt eine - ich möchte behaupten - lebenslaufbestimmende Weichenstellung. Mir wurde ermöglicht nach dem Ersten Staatsexamen für das Lehramt ein Diplomstudium anzuschließen und schließlich als einer der ersten auf der Grundlage der vor allem von Heino Kaack betriebenen Implementierung einer Promotionsordnung auch zu promovieren (siehe hier und etwas lesbarer hier die in APuZ erschienene Zusammenfassung - zur Veröffentlichung der Dissertation in Langfassung).
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Karl Ove Knausgard - Vom Lesen und Schreiben
Na klar, es lohnt sich einmal wieder ZEIT-Abonnent zu sein: Literatur – 10 Seiten Bücher – Ein Spezial zu Weihnachten (früh genug, dass auch die Buchhandlungen noch etwas davon haben: ZEIT 49/25, Seite 56ff.)
Karl Ove Knausgard eröffnet: Rilke und ich – Der Dichter wurde vor 150 Jahren geboren, im nächsten Jahr ist sein 100. Todestag. Er hat mich mein Leben lang begleitet – und zum Schriftsteller gemacht
Die erste Spalte besteht aus von Knausgard ausgewählten Passagen und Sätzen aus dem Werk Rainer Maria Rilkes. Er kommentiert das mit dem Hinweis:
„Diese Zitate sind kleine Streiflichter in etwas unendlich viel Größerem, Rilkes Werk, und mein Problem ist, dass ich mich stets in seinem Inneren befunden habe wie in einem Wald und nie, kein einziges Mal, versucht habe, es von außen zu sehen, es zu analysieren, es festzuhalten.“
