<<Zurück

 
 
 
 

Der Tag, an dem (m)ein Leben aufhörte, der Tag an dem mein Leben begann - Ende und Anfang – „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch“

Abschied von Willi

Es gibt Tage, an denen man schon früh spürt, dass sie sich schon im Beginnen erschöpfen, Tage, an denen die Nacht nicht die Frische bringt, aus der man die Kraft und die Zuversicht für den neuen Tag schöpfen kann. Und es gibt Tage, an denen einem die Umstände in die Hände spielen, um früh schon der Erschöpfung nachzugehen, sie umzudeuten zu einer Entdeckung der Langsamkeit. Es gibt Tage, an denen man sich anpasst an die träge, schwüle Stimmung; und wenn einem die Umstände in die Hände spielen, lässt man sich vielleicht umfangen vom Unabwendbaren, man ergibt sich schon früh und wehrt nichts ab. Man lässt sich treiben.

Der 21. Juni 1994 war so ein Tag, ein Tag, an dem die Sonne frühmorgens für kurze Zeit dem beginnenden Tag noch verheißt, eine Perle in der Kette jener Sommertage zu werden, die mit einer trockenen Hitze den Sommer erträglich machen und zu einer stillen Sehnsucht werden, wenn er vorüber ist. Dieser Morgen aber war keine Zäsur. Fast übergangslos war der Abend mit seiner lastenden Schwüle in die Nacht übergegangen und übergab das Staffelholz atemlos dem folgenden Tag. Aber mit Vorsorge und Fürsorglichkeit sollte dies sicher ein schöner Tag werden, für mich. Mit meinen Kindern verheißt mir der Nachmittag Entspannung im kühlen Nass des nahen Schwimmbads. Für meine Schulkinder wird dieser Vormittag schon einige Qualen bedeuten; auf der Laufbahn, bei den Wettkämpfen im Stadion Oberwerth. Diese weihe- und ruhmvolle Stätte zeigt sich am Morgen des 21. Juni von ihrer feinen Seite, eingebettet in den zarten Hauch der mittlerweile voll ergrünten Akazien und in die satteren Grüns an den Ufern des Rheins. Die aufgeregten Kinder mit ihren T-Shirts erscheinen während der Riegen-Einteilung wie ein bunter, tanzender Flohzirkus auf dem fetten Grün des Fußballrasens.

Die Umstände meinen es gut mit mir. Die Riegenführer rekrutieren sich ebenso wie die Wettkampfrichter aus dem Kollegenkreis; hier versehen meist die berufeneren Kolleginnen und Kollegen mit Vereinshintergrund oder Fakultas in Sport die Ämter. Bis zur Siegerehrung bin ich also freigestellt, kann schauen, unterstützen, ermuntern; ich kann mir aber auch eine kleine Zeitnische gönnen und meinen Fantasien nachhängen, ein wenig ruhen, dösen bis uns der Bus mittags wieder zur Schule zurückbringt.

Ich finde ein diskretes Plätzchen abseits der Wettkampfstätten im Schatten einer mächtigen Baumkrone. Inmitten einer grünen Hölle überlasse ich mich dem Farbenspiel eines prächtigen Frühsommertags. Selbst die geschlossenen Augenlider bilden nur eine zarte Membrane, die jene Sonnenstrahlen, die mich durch das Blattwerk erreichen, nur abschwächen. Reibt man sich die geschlossenen Augen, regen die Eindrücke der frischen und kräftigen Sommerfarben, alle Schattierungen von Grün und das intensive Azurblau des Himmels, durchflutet von der grellen Strahlung der Sonne, die verrücktesten Farbkonvulsionen an. Mit geschlossenen Augen tauche ich ein in die lebendige Welt der Farben. Von Ferne nehme ich das sonore Geräusch von Flugmotoren wahr. Es erscheint mir - unter dem Eindruck des Kaiserwetters - unfassbar, dass ich im Alter von 42 Jahren noch niemals geflogen bin. Ich verspüre einen Hauch von Neugier; das wäre ein Tag, um die Welt aus der Vogelperspektive zu genießen. Der Schwüle tief im Rheintal entgehen, schweben wie ein Vogel und ein sattes und fettes Land unter sich:

Aufsteigen vielleicht in der Frühe des Morgens in der Nähe von Koblenz, auf einem kleinen Flugplatz; langsam an Höhe gewinnen, die Landskrone voraus, Ort früher Kindheitserinnerungen, unkalkulierbarer Kletterwagnisse; an diesem beeindruckenden Kegelberg, hinter dem sich das Ahrtal hin zum Rhein öffnet. Jetzt lassen wir ihn mühelos hinter uns und ein einzigartiges Panorama öffnet sich vor unseren Augen. Die Sonne steht noch tief im Osten. Bereits auf einer Höhe von drei- bis vierhundert Metern zieht die Maschine in einer weiten Schleife nach rechts. Der Rhein und jenseits die dicht bewaldeten Höhen des Westerwaldes kommen in den Blick. In die Höhenzüge des rheinischen Schiefergebirges hat der Rhein sein Bett gegraben. Das schon gleißende Silberband wird uns die ersten 150 km Orientierung geben. Jetzt im Juni wirkt dieser Graben irgendwie unwirklich. Das kräftige Grün der Plateaus zu beiden Seiten, hoch über dem Rhein geht auf der rechten Rheinseite in ein zartes Grün über, mit dem die gerade den Knospen entwachsenen Weinblätter das Rheinufer malen. Die „Höhenzüge“ von Eifel und Westerwald erscheinen uns von hier oben wie ein lebendiges Legoland. Vertrautes Terrain aus einer fremden, für drei der „Flieger“ ebenso angsteinflößenden wie faszinierenden Perspektive. Gen Süden geht es, zuerst Andernach - zur Rechten - dann Neuwied - zur Linken - ziehen vorbei. Jetzt öffnet sich das Neuwieder Becken und Koblenz, der Knotenpunkt, an dem der Rhein, Mosel und Lahn aufnimmt, lässt sich erahnen. Monoton und sonor brummt der Motor und in Vertrauen erweckender Weise zeichnet der Propeller einen präzisen Kreis in die klare Morgenluft. Die Anspannung ist gewichen und langsam gewinnt eine gleichermaßen angeregte wie euphorische Gemütsverfassung die Oberhand; Vorfreude auf vier schöne Tage in Österreich. Voraus, im enger werdenden Rheintal, regt das hochaufragende Brauhaus der Königsbacher Brauerei zu mancherlei Sehnsüchten und Scherzen an. Vorgelagert das über die Region hinweg bekannte Stadion Oberwerth, Kampfstätte der legendären TUS-Mannschaft der frühen 50er Jahre. Die Sonne steht jetzt schon höher. Im Westen bleibt der Sendeturm auf dem Kühkopf zurück, Hunsrück zur Rechten und Taunus zur Linken. Der Pilot weist auf den Loreley-Felsen hin und verströmt gleichermaßen gute Laune wie unbegrenzte Vertrauenswürdigkeit. 30 Jahre Erfahrung als Pilot, Fluglehrer und zuletzt Bordoffizier auf der Maschine der Bundesluftwaffe, die alle wichtigen Auslandsflüge des Auswärtigen Amts realisiert. Wer Genscher und Kinkel über die Ozeane trägt, dem muss der Flug nach Zell am See in Österreich vorkommen, wie der Ausflug eines Grashüpfers von einer Wiesenscholle zur nächsten. So wirkt die Stimmung gleichermaßen gelassen wie ausgelassen; vier Urlaubstage bei Kaiserwetter, optimale Flugbedingungen, Mainz und Wiesbaden voraus.

Der Pilot erklärt eine Kursänderung, Süd-Südost. Im Norden lassen sich die Bankentürme von Frankfurt erahnen, während jetzt der Main ein Stück weit die Richtung weist. Zwischen Odenwald und Spessart hindurch schlüpft die einmotorige Jodel DR-400 und nimmt Kurs auf Würzburg, das man nordöstlich liegen lässt, immer noch Kurs Süd-Südost. Im gleißenden Sonnenlicht verändert sich die Landschaft; nein nicht so sehr die Landschaft, sondern das, was die Menschen hinzugefügt haben. Die Dörfer haben jetzt rote Mützen und es überwiegen weite, ausgedehnte Getreidefelder. Erst südwestlich von Nürnberg werden die Felder wieder von ausgedehnten Wäldern unterbrochen. Hier wird Hopfen angebaut und weite Kartoffelfelder reichen bis zum Altmühltal. Schon kündigt sich das Donaumoos an. Jetzt sind es vielleicht noch ein bis 1 1/2 Stunden Flug. Dieser Morgen mit einer vielversprechenden Großwetterlage löst ungeahnte Glücksgefühle aus.

Vom Rheinischen Schiefergebirge bis zur Fränkischen Alb eine Tour d’Horizon über deutsche Landschaften. Deutschland ist schön, Bayern ist schön. Es ist, als entdecke man die Welt neu, als bringe man Sonne übers Land. Alle Sorgen und Nöte verblassen. Dies ist ein unglaublich kraftvolles Motiv. Mit den sphärischen Klängen von V’Angelis’ „1492" entschwebt man in eine andere Welt. Im Dahingleiten des leichten Viersitzers verliert sich das monotone Geräusch des Motors zu einem elementaren Daseinsmoment, nur entfernt, eher körperlich in leichten Vibrationen wahrnehmbar. Der Schwebezustand der Jodel (ver)führt bei den Sphärenklängen der Musik fast zu einem Verschmelzen von Körper, Geist und Maschine. Die Landschaft des Voralpenlandes wirkt wie eine riesige Puppenstube. Dies scheint nahezu das Erhabenste, zu dem sich Menschen mit Maschinenkraft aufschwingen können; einem Vogel gleich - und doch so verschieden - als Wesen, das seine Erlebnisfähigkeit zu orgiastischen Gefühls-Konvulsionen zu steigern vermag, in denen sich Fühlen und Denken undifferenziert zu endlosen Implosionen verströmen. Die Ruhe des Schwebens im hellen, unbegrenzten Raum, das Zittern und Beben in einem anderen Daseinszustand geben eine Ahnung davon, wie leicht und unbeschwert, wie losgelöst das Leben sein könnte; die Ungebundenheit bald hier, bald dort zu sein, über sich und die Umstände machtvoll und spielerisch verfügen zu können, hebt einen hinaus aus der Routine und den Beschwernissen des Alltags.

 

Was ich zuerst erinnere war eine Ungläubigkeit, bei aller Realitätsmacht; die deutliche Haltung, dies alles sei ein Irrtum, die Tatbestände, das Geschehen, die darin verwickelten Personen unklar - alles klärt sich auf im Sinne eines tragischen Irrtums. Es sind die Umstände der ersten Berührung mit einer Tatsache, die man nicht zulassen kann, die Traumata bestätigen und mobilisieren, atavistische, ahnungsvolle Motive, die sich im neuzeitlichen Lebensalltag erhalten: Dies kann das nächtliche Telefonklingeln sein, zu einer Zeit, wo nur „Ungewöhnliches“ und Tragisches, Schlimmes mitteilungswürdig sind. Alles andere kann warten. Es waren der weiße Passat und Claudias Gegenwart an einem ungewohnten Ort zu einer ungewohnten Zeit: „Was willst du hier und jetzt, was kannst du mir mitteilen wollen, was nicht per Telefon mitteilungsfähig wäre? Ich habe mein eigenes Auto hier, hier an meinem Arbeitsplatz, und ich wäre eine halbe Stunde später zu Hause gewesen, an einem normalen, nein, an einem ungewöhnlich schönen, heißen Frühsommertag, an einem 21. Juni des Jahres 1994. Also sag, was willst du? Ich bin noch nicht dem Bus entstiegen, ich muss noch meine Kinder abliefern, 200 Meter weiter, in der Willi-Graf-Schule!“

Auch schon hier, wo mit mir noch nichts geschieht, was Irritation schon bestätigen würde, zeigt sich, wie Vorstellungskosmen sich impulsiv ergießen, auch Drüsentätigkeit in Gang setzen, Adrenalin ausschütten, schon aversive, abwehrende körpersprachliche Signale mobilisieren, Gedankenströme in einer synchronen Vielfalt freisetzen: „Ist etwas geschehen? Mit unseren Kindern, mit meiner Mutter, mit anderen mir nahestehenden Menschen?“

Deine Sensoren, deine Schemata deuten Haltung, Mimik, Gestik - und dann ---- stilles Entsetzen, kontrollierte Hilflosigkeit, ängstliches Bemühen, zweihundert Meter Zeit gewinnen - andere Menschen, Kolleginnen einbeziehen in diese Abartigkeit, in dieses sich auftuende Höllental menschlicher Nöte. Wenigstens für eine halbe Stunde in der Gegenwart schockierter, betroffener, vielleicht auch peinlich berührter, überforderter Menschen Haltung und „contenence“ bewahren können. Langsames Eintrimmen der Denk-Fühlwelt auf etwas Unfassbares, suchende, unsichere, panische, flackernde Augenkontakte, geschäftiges Regeln von Belanglosem, vorbereiten auf den Gang nach Nirwana, Luftholen für einen langen, endlosen Tauchgang. Seit dem 21.6.1994 lief der Zeitzünder einer Bombe; der Säurezünder ungeklärter Beziehungen frisst sich in den Schutzmantel. Die Karten werden neu gemischt.

Ich sitze im Passat, werde die B9 entlang gefahren und höre im Radio die Meldung über den Absturz einer viersitzigen Sportmaschine in der Nähe von Landshut. Alle vier Insassen sind tot, tot, tot... Was nun geschieht ist die Zuspitzung und Beschleunigung, aber auch die neu konditionierte Atomisierung eines Familienkomplexes: Elementarteilchen - drohendes, sich erfüllendes Menetekel und Aufbruch zur Menschwerdung zugleich. Im Familienkeller stehen viele Fässer: Guter, alter Wein, in Gärung befindlicher Federweißer, Essig, Verdorbenes. Die Erschütterung lässt viele Fässer zerbersten, manche bekommen Risse, laufen langsam aus - alles vermischt sich zu einer undefinierbaren Brühe. Ein mühsamer, aber auch klärender Prozess kündigt sich an, dies auseinander zu destillieren und den eigenen, unverwechselbaren Charakter zu (re)konstruieren: Und immer auch ein Prozess der Dekonstruktion: Viele Mythen werden von nun an in ihrer Brüchigkeit deutlich, die alten Erzählungen tragen nicht mehr.

Im Gedenken an meinen Bruder Willi

(12.11.1955-21.6.1994)

Als mir einmal in einem Gedicht Jakob van Hoddis begegnete

(übrigens geboren 1887 als Hans Davidsohn, früh sich schizophren zeigend, und am 30. April 1942 aus der Heilanstalt Bendorf-Sayn, abtransportiert, um, man weiß nicht wo, wann und wie, vernichtet zu werden – biographische Angaben aus der „menschheitsdämmerung“, ein dokument es expressionismus, berlin 1920, von kurt pinthus 1959 neu herausgegeben – an Jakob van Hoddis ist just an diesem Ort, der ehemaligen Heilanstalt Bendorf-Sayn, auf der Koblenz-Olper-Straße – unweit des Ortes, an dem unserer Wohngemeinschaft in den siebziger Jahren gelebt hat - im September 2001 mit einer beeindruckenden Ausstellung erinnert worden)

 

Ich bin träge,
Schatten-Schwüle.
Und ich wäge
Die Gedanken-Mühle

Welt verglimmt,
ein endlos Flimmern,
Blut gerinnt,
Konturen schimmern.

Welten-Rauschen
Kinderstimmen.
Hilflos lauschen,
Sinne trimmen.

Sinne schwinden,
schwerer Schlaf.
Ruhe finden –
Schlafes-Schlaf.

Fernes Dröhnen,
Flug-Motoren,
Sinne stöhnen,
Seins-Verloren.

Bin ich wach,
in welchem Raum?
Ist das Krach
In meinem Traum?

Kommt Wirklichkeit
mir wirklich nah?
Vergangenheit,
was auch geschah?

Am Amazonas
Fällt ein Baum!
Ach was!? Und was
ist Deutungsraum?!

Dem Bürger fliegt
Vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es
Wie Geschrei.
Ein Flug-Gerät stürzt ab
und geht entzwei,
und in den Köpfen
- spürt man -
steigt die Flut.
Und die Gezeiten wechseln
Wut-Mut-Wut.
Der Sturm ist da,
die wilden Meere hupfen.
Und die Seele schwillt,
um Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen weinen,
wie bei Schnupfen
und stehn am Abgrund;
suchen Brücken.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund