Hanna Schmitz und Franz Streit - Bernhard Schlink (Mediation) und Michael (Berg)
Dieser Beitrag hat den Rahmen des BLOGS schon lange gesprengt. Die Fiktion mäandere um die Realität herum, meint Stefan Slupetzky. Den Kick, dann doch noch einmal der Fiktion den Vorrang zu geben, resultiert einerseits aus Slupetzkys Der Letzte Große Trost und zum anderen aus Achim Landwehrs Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Ich werde also noch einmal von vorne beginnen - vielleicht nimmt dann die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit so sehr Gestalt an, dass ihre Anwesenheit greifbar wird. Achim Landwehr ermuntert mich in seinem fulminanten Buch zu einer solchen Anstrengung mit folgender Impression (ein wenig deutet sich bereits an im 9. Kapitel dieses Beitrags):
"Wenn ich über einen Friedhof spaziere und dort meinen eigenen Grabstein imaginiere, wenn ich ein Foto meines verstorbenen Vaters ansehe, zu einer Zeit, als ich noch überhaupt nicht geboren war, dann ist dies nicht viel mehr als eine leise Andeutung der chronoferentiellen Ketten, mit denen diverse Zeiten in einem Hier und Jetzt zusammengezogen werden können. Der Tod erweist sich nicht nur als das Ende des Lebens, sondern auch als möglicher Dreh- und Angelpunkt von Chronoferenzen." (165)
Erstes Kapitel
Hanna Schmitz ist am 21. Oktober 1922 bei Hermannstadt geboren worden. Sie steht vor Gericht: "Es war nicht der erste KZ-Prozess und keiner der großen." (86) Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Bernhard Schlink, Der Vorleser (Diogenes-Taschenbuchausgabe), Zürich 1997.
Michael Berg ist 15 - Hanna nimmt ihn für 17 -, als er sich in Hanna Schmitz verliebt. Er sieht sie Jahre später als Student der Rechtswissenschaft vor Gericht wieder. Sein Professor, "einer der wenigen, die damals über die Nazi-Vergangenheit und die einschlägigen Gerichtsverfahren arbeiteten" (86), hatte seinen Studenten mit auf den Weg gegeben:
"Sehen Sie sich die Angeklagten an - Sie werden keinen finden, der wirklich meint, er habe damals morden dürfen." (87)
Das Seminar - so erinnert sich Michael - begann im Winter, die Gerichtsverhandlung im Frühjahr. Es wurde von montags bis donnerstags Protokoll geführt und freitags war Seminarsitzung. Die Ereignisse der vergangenen Woche wurden aufgearbeitet:
"Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich den Staub aufwirbelte, den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der Vergangnheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür, dass man atmen und sehen konnte. Auch wir setzten nicht auf juristische Gelehrsamkeit. Dass verurteilt werden müsse, stand für uns fest. Ebenso fest stand für uns, dass es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder jenes KZ-Wächters und -Schergen ging. Die Generation, die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht gehindert oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte, als sie sie nach 1945 hätte ausstoßen können, stand vor Gericht, und wir verurteilten sie in einem Verfahren der Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham." (87)
Scham und Schuld werden zu bestimmenden Motiven einer abgründigen Liebesgeschichte, in deren Verlauf sich Hanna und Michael hoffnungslos verstricken - weit über den schließlichen Tod Hannas hinaus. Das "Jungchen" - wie sie ihn nennt - darf Hanna ficken. Eine solche - aufs Wesentliche - reduzierte Sprachwelt verbietet sich Bernhard Schlink. Für die Pendelbewegung zwischen - ich nenne sie die beiden großen Vs - bedient er sich einerseits einer nüchternen, fast sachlichen Sprache. Andererseits erwächst der Mythos dieser Begegnung aus dem Versuch, ihre abseitige und archaische Dimension ins Schicksalhafte zu entrücken. Vögeln und Vorlesen bilden die beiden Pole, zwischen denen sich Hanna und ihr "Jungchen" verlieren und wiederfinden werden.
Michael, der sich bei Hanna für ihre Fürsorge bedanken will, beschmutzt sich, als er ihr zwei Schütten Koks in die Wohnung trägt. Er fügt sich Hanna, die ihm ein Bad bereitet:
"Ich wusch mich. Das Wasser in der Wanne war schmutzig, und ich ließ frisches Wasser zulaufen, um unter dem Strahl Kopf und Gesicht sauberzuspülen. Dann lag ich da, hörte den Badeofen bullern, spürte im Gesicht die kühle Luft, die durch die spaltoffene Küchentür kam, und am Körper das warme Wasser. Mir war behaglich. Es war ein erregendes Behagen, und mein Geschlecht wurde steif. Ich sah nicht auf, als sie in die Küche kam, erst als sie vor der Wanne stand. Mit ausgebreiteten Armen hielt sie ein großes Tuch. 'Komm!' Ich wandte ihr den Rücken zu, als sie mich aufrichtete und aus der Wanne stieg. Sie hüllte mich von hinten in das Tuch, von Kopf bis Fuß, und rieb mich trocken. Dann ließ sie das Tuch auf den Boden fallen. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Sie trat so nahe an mich heran, dass ich ihre Brüste an meinem Rücken und ihre Bauch an meinem Po spürte. Auch sie war nackt. Sie legte die Arme um mich, die eine Hand auf meine Brust und die andere auf mein steifes Geschlecht. 'Darum bist du doch hier!'." (26)
Über Monate entwickeln und pflegen Hanna und Michael dieses Ritual zwischen den beiden großen Vs. Wie bei ihrer ersten intimen Begegnung beschränken sich beide bei ihrer letzten Begegnung auf's Wesentliche und Hanna weist jedes Vorlesen zurück. Alle Leichtigkeit geht dahin und weicht einer zukunftsschwangeren Schwere -"und am nächsten Tag war sie weg" (79):
"Es war nicht die sommerliche Schwüle, die sich beim Betreten der Küche wie ein schweres Gewebe auf mich gelegt hatte. Hanna hatte den Badeofen angemacht. Sie ließ das Wasser einlaufen, gab ein paar Tropfen Lavendel dazu und wusch mich. Die blaßblaue, geblümte Kittelschürze, unter der sie keine Wäsche trug, klebte in der heißen, feuchten Luft an ihrem schwitzenden Körper. Sie erregte mich sehr. Als wir uns liebten, hatte ich das Gefühl, sie wolle mich zu Empfindungen jenseits alles bisher Empfundenen treiben, dahin, wo ich's nicht mehr aushalten konnte. Auch ihre Hingabe war einzig. Nicht rückhaltlos; ihren Rückhalt hat sie nie preisgegeben. Aber es war, als wolle sie mit mir zusammen ertrinken." (77)
Am nächsten Tag ist Hanna weg, und Michael berichtet, dass es eine Weile dauert, bis er aufhört, überall nach ihr Ausschau zu halten. Tagelang ist ihm schlecht. Er muss sich übergeben. Sein Körper sehnt sich nach Hanna. Langsam beginnt er seine Lektion zu lernen und lässt eine erste diffuse Bitterkeit in sein Leben. Er empfindet Hannas wortloses, plötzliches Verschwinden als schmerzhafte Demütigung. Er beginnt sich genau an dieser empfindlichsten Stelle zu betäuben. Nie mehr will er sich demütigen lassen, "niemanden mehr so lieben, dass ihn verlieren weh tut". (84) Und nach Jahren der Läuterung, der kontrollierten Intimität beginnt sich Michael zu fragen, warum es ihn immer noch so traurig macht, wenn er an damals zurückdenkt:
"Ist es das, was mich traurig macht? Der Eifer und Glaube, der mich damals erfüllte und dem Leben ein Versprechen entnahm, das es nie und nimmer halten konnte?" (39)
Und dann ergreift ihn erstmals ein Motiv, dass sich über die Jahre auswächst zu einer lebensbestimmenden Haltung. Schon früh - unmittelbar nach Hannas Verschwinden - bekennt er: "Aber schlimmer als die körperliche Sehnsucht war das Gefühl der Schuld." (80)
Wir werden Zeugen eines Kammerspiels, bei dem Hanna und Michael uns Fragen stellen, die wir bis heute nicht beantwortet haben, die bis zum heutigen Tag offen lassen, wie wir die Kriegsgeneration sehen, wie wir die Generation der Kriegskinder sehen und wie wir Nachkriegsgeborenen damit umgehen:
"Zugleich frage ich mich und habe mich schon damals zu fragen begonnen: Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen? Zu welchem Ende? Nicht dass sich er Aufarbeitungs- und Aufklärungseifer, mit dem ich am Seminar teilgenommen hatte, in der Verhandlung einfach verloren hätte. Aber dass einige wenige verurteilt und bestraft und dass wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden - das sollte es sein?" (99f)
Hanna kann keine Kinder empfangen. Sie ist unfruchtbar, obwohl der große Schoß noch fruchtbar ist, aus dem alles kriecht. Ich habe nicht gezählt, wie oft sich Michael in Hanna verliert, in ihr ertrinkt. Er hingegen ist zweifelsfrei zeugungsfähig und zeugt Jahre später - als Referendar - mit Gertrud die gemeinsame Tochter Julia. Auch Gertrud ist Juristin. Sie ist "gescheit, tüchtig und loyal,
und wenn es unser Leben gewesen wäre, einen Bauernhof zu führen mit vielen Knechten und Mägden, vielen Kindern, viel Arbeit und ohne Zeit füreinander, wäre es erfüllt und glücklich geworden. Aber unser Leben war eine Dreizimmerwohnung in einem Neubau in einem Vorort, unsere Tochter Julia und Gertruds und meine Arbeit als Referendare. Ich habe nie aufhören können, das Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein mit Hanna zu vergleichen, und immer wieder hielten Gertrud und ich uns im Arm und hatte ich das Gefühl, dass es nicht stimmt, dass sie nicht stimmt, dass sie sich falsch anfühlt, dass sie falsch riecht und schmeckt. Ichdachte, es würde sich verlieren. Ich hoffte, es würde sich verlieren. Ich wollte von Hanna frei sein. Aber das Gefühl, dass es nicht stimmt, hat sich nie verloren. Als Julia fünf war, haben wir uns scheiden lassen." (164f)
Michael bemerkt, dass er und Gertrud nicht mehr konnten, dass sie ohne Bitterkeit gegangen und in Loyalität verbunden geblieben sind - und er bemerkt:
"Gequält hat mich, dass wir Julia die Geborgenheit verweigerten, die sie sich spürbar wünschte." Denn: "Wenn Gertrud und ich einander vertraut und zugetan waren, schwamm Julia darin wie ein Fisch im Wasser. Sie war in ihrem Element. Wenn sie Spannungen zwischen uns merkte, lief sie von einem zum anderen und versicherte, wir seien lieb und sie habe uns lieb. Sie wünschte sich ein Brüderchen und hätte sich wohl auch über mehr Geschwister gefreut. Sie begriff lange nicht, was Scheidung bedeutet, un wollte, wenn ich zu Besuch kam, dass ich bleibe, und wenn sie mich besuchte, dass Gertrud mitkommt. Wenn ich ging und sie aus dem Fenster sah und ich unter ihrem traurigen Blick ins Auto stieg, brach es mir das Herz. Und ich hatte das Gefühl, dass das, was wir ihr verweigerten, nicht nur ihr Wunsch war, sondern das sie ein Recht darauf hatte." (165)
Zweites Kapitel
Hilde nimmt Franz in sich auf. Hier ist es umgekehrt. Hilde ist 17 und Franz ist 27.
Franz hatte die Pension erreicht, blickte sich kurz nach Hilde um, betrat dann das kleine Foyer und ermunterte Hilde – nachdem er sich des freien, unbehelligten Zugangs versichert hatte – ihm zu folgen. In dem Augenblick, als Hilde aus der gleißenden Mittagssonne in den dunklen Vorraum trat, schlug ihr das Herz zum Halse heraus. Behände und eilig durchquerte sie das Foyer und folgte Franz über die Treppe zum 1. Obergeschoss. Die Tür zu Zimmer 4 stand schon offen, und Hilde zog sie ein wenig erleichtert hinter sich zu.
Unvermittelt schoss ihr das Wasser in die Augen und zwischen Erleichterung und Bangen mischten sich Tränen der Angst mit Freudentränen und erst als Franz sie in seine Arme schloss, beruhigte sich Hilde ein wenig. Sie sah Franz an: „Wo hast du denn deine Brille?“ Mir ist schon am Bahnhof aufgefallen, dass du keine Brille trägst!“ „Ich muss sie nicht mehr tragen, meine Augen sollen sich wieder an die Welt gewöhnen“, antwortete Franz lachend: „Du kannst mir in die Augen schauen. Ich glaube, ohne dich wäre ich schon eine Woche früher auf dem Weg zur Front gewesen. Ich habe da ein wenig nachgeholfen, weißt du!“, sagte er grinsend.
Er setzte Hilde auf den Stuhl neben dem Nachtschränkchen und wandte sich dem kleinen Tisch gegenüber dem Bett zu. Erst jetzt sah Hilde auf dem Tisch eine kleine, vorbereitete Brotzeit, wie sie es von Franz schon kannte. „Es ist schon nach eins“, wies Franz auf seine Uhr. „Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?“, wandte er sich fürsorglich Hilde zu. „Nein, ich konnte gestern schon nichts mehr essen“, antwortete Hilde, „mir ist ein wenig schwindelig vor lauter Aufregung – und überhaupt hab ich gar keinen Appetit.“ „Also jetzt wird zuerst einmal etwas gegessen, sonst fällst du mir ja noch vom Stuhl und du musst hier in diesem Bett bleiben.“ Hilde wechselte die Farbe, wurde bleich und Franz bemerkte sofort, dass er da etwas Dummes gesagt hatte. „Ach Schmarrn“, beschwichtigte er, indem er – wie gewohnt – einige Scheiben von einem Laib Brot abschnitt, Käse in kleine Portionen teilte und auf die Tomaten wies, die er heute Morgen in Remagen in der Nähe des Bahnhofs noch gekauft hatte. „Das wird dir gut tun und dafür sorgen, dass du wieder ein Mensch wirst“. Er zog den Korken von einer Flasche Rotwein, die noch zu ¾ gefüllt war. Er schenkte ein Zahnputzglas voll, das er vom Waschtisch genommen hatte, probierte einen Schluck und meinte: „Verteufelt gut, der Spätburgunder von der Ahr. Aber bevor du etwas trinkst, musst du etwas essen“. Hildes anfängliche Verkrampfung löste sich langsam und – schon fast vergnügt sah sie Franz bei der Vorbereitung der kleinen Brotzeit zu. Sie mochte es, wie er mit dem Messer das Brot teilte, den Käse portionierte und den Eindruck vermittelte, ein Festmahl warte auf sie. Diese Selbstverständlichkeit im Alltäglichen, die fürsorgliche Haltung imponierten ihr, und ihr Vertrauen in das Tun und die Routine seiner Handlungen wuchs nahezu ins Grenzenlose.
Zum ersten Mal seit Tagen biss sie mit Lust herzhaft in das kräftige Roggenbrot, nahm ein Stück Käse und bat Franz die Tomaten zu vierteln. Selbst eine Serviette hatte er bereit gelegt, die der kleinen Brotzeit tatsächlich einen feierlichen Anschein verlieh. Jetzt trank Hilde sogar einen Schluck des lieblichen Rotweins.
Franz sah sie ernst an und sagte dann in ebenso ernstem Ton: „Hilde, wo hast du deine Fahrkarte?“ Hilde kramte in ihrer Tasche und zog die Fahrkarte heraus und legte sie auf den Tisch. „Die brauchst du heute Abend. Mein Zug fährt um 19.14 Uhr ab. Dein Zug nach Neuenahr geht um 18.27 Uhr ab Remagen. Jetzt ist es 14.30 Uhr und wir werden das Zimmer gegen 18.00 Uhr verlassen. Wir gehen gemeinsam zum Bahnhof, dann gehst du auf Bahnsteig 2 und steigst ein. Der Zug steht schon bereit. Ich werde nicht mit auf den Bahnsteig gehen, aber ich werde zurückkommen, in meinem nächsten Urlaub. Und ich werde dir schreiben. Du überlegst bitte, an welche Adresse ich schreiben soll. Du hast meine Feldpostnummer. Es dauert immer drei bis vier Wochen, manchmal auch noch länger bis die Post zu uns nach vorne kommt“. Franz ging auf Hilde zu, zog sie nah an sich heran und gab ihr einen ersten Kuss. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie auf Stirn, Nase und Lippen, schob sie ein wenig von sich weg, schüttelte den Kopf und sagte mit einem sanften zurückhaltenden Lächeln: „Mädchen, weißt du eigentlich, wie schön du bist. Bei uns zu Hause sagt man dazu, der liebe Gott hat eine Träne geweint, wenn so viel Anmut und Schönheit zusammenkommen.“ Auch jetzt noch errötete Hilde, die überhaupt kein Verständnis für ein solches Gerede hatte und die noch viel weniger glauben mochte, dass dies irgendetwas mit ihr zu tun haben sollte. Aber Franz sagte all dies auf eine so merkwürdige Weise, einem Tonfall und einer Färbung in der Stimme, dass all dies wie eine selbstverständliche und in keinster Weise anzweifelbare Offenbarung daher kam. So blieb Hilde nur, ihr Erröten durch ein verlegenes Lächeln zu unterstreichen.
Franz streichelte Hilde zart über Wangen und Haar, berührte mit seinen Lippen immer wieder alle möglichen und unmöglichen Winkel ihres Gesichts. Als er mit seiner Zunge ihre Ohrmuschel streifte und das Ohrläppchen zwischen seinen Lippen liebkoste und dann mit der Zunge hinter ihr Ohr kam, durchfuhr es Hilde wie ein sanfter Stromschlag; ihr ganzer Körper begann zu kribbeln und wieder spürte sie das zarte Beben, das ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte.
Franz streifte seiner Hilde die Jacke ab und löste die Damenkrawatte so geschickt und beiläufig, dass der Eindruck entstand, dass Franz all dies nicht zum ersten Mal und auch nicht zum zweiten Mal machte. Aber solche Gedanken verloren sich in den entfernten Regionen einer Wahrnehmung, in deren Fokus nichts anderes als eine alles und jedes erfassende wohlige bis erregende Konvulsion angenehmer und wellenförmig daherkommender Sinnesturbulenzen rückte.
Franz öffnete den obersten Knopf an Hildes Bluse und lachte sie mit seinem offenen, unwiderstehlichen Gewinnerlachen an. Es gelang ihm, durch Behutsamkeit und die Langsamkeit jemandes, der über alle Zeit dieser Welt gebot, Millimeter für Millimeter Hildes Vertrauen zu gewinnen; ein Vertrauen, dass zum ersten Mal die massiven Einkrümmungen in ein Leben der Schuld und der Scham antastete und die Barrieren einer über alle Gebühr verinnerlichten Keuschheit ins Wanken brachte. Franz gab Hilde das Gefühl, ihm gegenüber keine Scham empfinden zu müssen.
Und die Mutter mit ihrer erbarmungswürdigen Gottesfurcht war für Stunden aus dem Erleben und Erinnern Hildes gewichen. Der zweite und der dritte und alle folgenden Knöpfe an Hildes Bluse öffneten den Raum zu einer fremden Welt, die bislang noch nie in das Bewusstsein einer nun erwachenden Frau eingedrungen war. Wie konnte sie es zulassen, dass Franz sie dort berührte, wo die Keuschheit ihr selbst Zurückhaltung gebot? Aber Hilde fand einen Weg, ihre Scham nicht übermächtig werden zu lassen. Je näher sie sich an Franz drängte, umso größer wurde ihr Gefühl der Geborgenheit, mehr noch der Sicherheit, als könne ihr in den Armen von Franz nichts Böses widerfahren. So ließ sie sich in seinen Armen fallen. Und Franz gab ihr alle Zeit der Welt, streichelte und liebkoste sein Mädchen. Er führte sie langsam, langsam, langsam zu dem breiten Bett, das längsseits, gegenüber des Doppelfensters stand. Hilde hatte ihre Brust gewickelt, so wie die Mutter es ihr beigebracht hatte. Ohne jemals mit Mutter darüber zu reden, hatte Hilde eine leibfeindliche Erziehung, nur durch Gesten und Unterlassung bekräftigt, tief in sich aufgenommen. Der Körper war ein Arbeitsgerät und zu Hause hatte immer schon Hilde mit Vater alle Männerarbeiten erledigt. Und so war es selbstverständlich, alle Attribute des Weiblichen zu verbergen. Sie kannte nichts anderes als das Brusttuch aus Leinen, um die zu ihrer großen Enttäuschung sich üppig entfaltende Weiblichkeit einzudämmen. Dass Franz angesichts der straffen und dennoch üppigen Brüste auf die Knie sank und seine Entzückung in Hildes Schoß verbarg, erschloss sich Hilde nicht im Geringsten. Zum ersten Mal lachte Hilde verschämt und ließ zögerlich eine milde Umkehrung des Kräfteverhältnisses zu. Sie verstand selbst nicht, warum mit Franz die Lähmung von ihr abfiel, warum sie seine Liebkosungen nahezu vorbehaltlos zuerst geschehen ließ und dann immer wieder seine Nähe einforderte, wie in einem Schmelztiegel. Es war warm an diesem 9. September 1941 und die Uhr mochte wohl unterdessen gegen 15 Uhr gehen, als Franz und Hilde auf das Bett zurücksanken. Spätestens jetzt wäre die Hilde von vor knapp vier Wochen aufgesprungen und hätte entsetzt das Weite gesucht. Und Franz spürte die Angst, die erneut von Hilde Besitz ergriff. „Mein Hildchen, es ist alles gut, alles ist richtig, nie war diese Welt besser als jetzt – hab Vertrauen, ich tue dir nicht weh!“ Franz hielt Hilde lange Zeit fest in seinen Armen, bevor er behutsam und langsam in sein Mädchen eindrang. Es ging sehr viel leichter und sanfter als Franz es selbst erwartet hatte. Aber Hilde hatte sich in den vergangenen 1 ½ Stunden so sehr geöffnet und in Franz ergeben, dass Schmerz und Lust für sie gleichermaßen in dieser ersehnten Verschmelzung aufgingen.
Hilde Lahnstein ist am 3. Juli 1924 geboren worden - in Bad Neuenahr. Sie ist 1 3/4 Jahr jünger als Hanna Schmitz und verliebt sich in Franz. Franz Streit ist am 3. September 1914 als Sohn österreichischer Arbeitsmigranten in Oer-Erkenschwick geboren worden und fällt am 23. September 1943 auf den Schlachtfeldern Rußlands. Er zahlt für seine Schuld mit seinem Leben. Er hinterlässt Frau und zwei Söhne, und er hinterlässt Hilde mit Ursula. Ursula wird am 5. Juni 1942 geboren. Sie wird ihren Vater nie kennenlernen. Nach einem langen richtigen Leben im falschen wird sie zu Beginn ihres siebten Lebensjahrzehnts die Söhne ihres Vaters kennenlernen!
Das alles ist nachzulesen in "Hildes Geschichte".
"Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht, durchgesetzt und befolgt werden müsste, wenn alles mit rechten Dingen zuginge?" (86)
"Aber dass einige wenige verurteilt und bestraft und dass wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden - das sollte es sein?" (99f)
Im September 1941 widerfuhr Hilde das große Glück, sich einem Mann hinzugeben, in dessen außerordentlicher Zurückhaltung und Sanftmut sich auch die Erfahrung eines Mannes offenbarte, der zu unterscheiden gelernt hatte zwischen der überlegenen und abgeklärten Art erfahrener Frauen, die selbst das Heft des Handelns in der Hand behielten – und der Ängstlichkeit unerfahrener Frauen, deren Wohl und Wehe in der Hand oft rücksichtloser, nur an der eigenen Lust interessierter Männer lag.
Vom Wohl und Wehe in einem so unendlich viel größeren Zusammenhang als der „kleinen Lust“ hatte auch Franz Streit an diesem Nachmittag des 9. September 1941 nur eine weit entfernte, dumpfe Vorstellung. So überwogen das Wohl und das Wohlergehen in diesen wenigen Stunden über alle Maßen. Die jämmerlichen und klagenden Gespenster der Angst, der Scham und der Schuld hatten sich in die dunklen Ecken des Zimmers verzogen, ohne jedoch ganz zu verschwinden.
Und während Hilde schluchzend in Franz‘ Armen lag, ergossen sich die Gedanken beider in weit auseinander driftende Welten. Und beide hatten keine Ahnung, was den anderen umtrieb. Hilde überkam zeitweise – und je näher die Stunde des Abschieds heranrückte umso stärker – eine überbordende Not, in der sich die Gespenster wieder hervorwagten und gleichzeitig die Angst und die Sorge um Franz, die ihr schon jetzt schier den Atem nahmen.
Franzens Gedanken hingegen schossen wie Granatsplitter durch eine Welt, die ihm aus den Händen geglitten war. Alle Lust, die Ewigkeit will, war jetzt schon bedroht vom bevorstehenden Abschied, und sie war beladen mit der Schuld der Lüge und der Untreue. Sie begann schon jetzt ihren Preis einzufordern. Der Schmerz des Abschieds konnte nicht gemildert werden durch die Gewissheit des Wiedersehens, eines unbefangenen Wiedersehens voller Freude und Hoffnung. Die Hoffnung, in die sich Hilde hinein bewegen würde und die man gemeinhin mit dem Attribut der „guten“ Hoffnung belegte, hätte des legitimen und tatkräftigen männlichen Gegenübers bedurft.
Aber diese Damoklesschwerter schwebten an diesem 9. September 1941 noch weit entfernt und hoch über Hilde und Franz. Und dennoch waren die beiden die letzte Stunde ihres Beisammenseins schon nicht mehr alleine, und nur noch zu zweit. Hilde, die nichts wusste von der Biologie der Zeugung, von Ei- und Samenzelle – und die vor allem nichts wissen musste von der unendlichen Leichtigkeit, mit der neues Leben zu entstehen vermochte, und die nichts wissen konnte von der unendlichen Not, mit der viele Paare um die Segnungen einer Schwangerschaft rangen; diese Hilde hatte an diesem Nachmittag des 9. September 1941 gegen 17.00 Uhr noch keine Ahnung davon, dass sie fortan gebenedeit unter den Weibern sein würde und sich schon guter Hoffnung auf den Weg von Remagen nach Neuenahr machen würde.
Aber Hilde spürte mit einem Mal in ihrer Seele und in ihrem Körper das Wüten der ganzen Welt. Von Weinkrämpfen geschüttelt klammerte sie sich an Franz und ahnte dumpf, dass all ihre Hoffnungen sie trügen würden. Erst nachdem ihr Franz das letzte Glas Wein eingeflößt hatte, sie hielt, sie drückte und liebekoste, wurde sie ruhiger. Sie nahm den Zuber vom Waschtisch, goss die Waschschüssel voll und wusch sich das Blut von den Oberschenkeln, sie wusch ihre Scham und dankte Franz für seine Liebe.
Franz zerriss es Herz und Seele gleichermaßen. Er wollte leben, er wollte da sein für Hilde. Ihm gingen Gert und Gerda durch den Kopf, vor allem Gerda, die das sicherlich nicht verdient hatte. Er dachte an seinen Kameraden Karl, der nicht nur eine Verätzung der Augen erlitten hatte, sondern dem ein Granatsplitter das rechte Bein zertrümmert hatte. Manchmal ertappte er sich bei dem unerträglichen Gedanken, ja bei dem Wunsch, an seiner Stelle zu sein, dass der Krieg und das Töten endlich vorbei sein mochten und das Leben beginnen könnte.
Den Schreiber dieser Zeilen lässt es frösteln und frieren und es gebricht ihm an Vorstellungsvermögen, wie die letzte Stunde des Zusammenseins von Franz und Hilde an diesem 9. September 1941 verronnen sein mag. Franz war wohl abschiedserprobt. Viele Male war er aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft. Aber niemals hatten ihn dabei eine solche innere Not und ungestillte Sehnsucht begleitet.
Er sah seine Hilde nun mit anderen Augen, hatte er sie doch zur Frau gemacht – in einem ganz und gar unabwendbaren Vollzug, der sie beide für etwas Größeres einzunehmen schien.
Auch Franz spürte den Unterschied zu all den leichtfertigen und schon vergessenen Liebeleien oder gar Liebschaften, zu denen es kaum noch Namen oder Gesichter gab. Er sah seine Hilde an und sah dabei in das trotzige, tapfere, schöne, merkwürdig gereifte Gesicht einer Frau, deren Jugend mit einem Mal zu Ende war.
Er würde zurückkommen – bei allem was ihm heilig war.
Hilde schickte sich. Was ihr künftiges Leben prägen würde, deutete sich in ihrem Mienenspiel und ihrer Körpersprache schon an. Sie ordneten das Zimmer soweit es ihnen notwendig erschien. Franz packte seinen Seesack. Hilde kontrollierte ihre Siebensachen, legte die Fahrkarte obenauf. Dann verließen sie das Zimmer und unbemerkt die Pension. Auf den Straßen herrschte bereits reges Treiben und man sah viele Soldaten – und davon viele auch in weiblicher Begleitung. So reihten sich Franz und Hilde in den Strom ein, der wieder an den Zug der Lemminge erinnerte. In der kleinen Bahnhofshalle herrschte schon großes Gedränge und Franz entschloss sich, doch mit auf den Bahnsteig zu gehen. Hilde ging voraus und vergewisserte sich, dass dort niemand wartete, den sie kannte. Sie setzte sich weit links auf eine freie Bank, während Franz weiter rechts von ihr Platz nahm. Franz nahm aus seinem Seesack ein kleines flaches Päckchen und schob es in Hildes Richtung: „Darin ist ein Brief und ein kleines Geschenk, nimm es, denk an mich und sei stark – ich komme zurück!“ Franz sah Hilde an und konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Er stand auf und ging strammen Schrittes davon. In diesem Augenblick krallte sich Hilde mit ihren Nägeln in das Holz der alten Bank. Doch rein äußerlich verriet nichts den Schmerz und die Zerrissenheit, die alles mit sich in einen Strudel rissen, was ihrem Leben bislang Sinn und Richtung gegeben hatte. Erst als sie Franz auf der anderen Seite des Bahnsteigs erblickte, rannen ihr die Tränen über die Wangen, und sie hatte Mühe an sich zu halten. Allmählich füllte sich der Bahnsteig, und Hilde schleppte sich mit Mühe an das Ende des Zuges, dessen Lokomotive schon unter Dampf stand.
Auf der gegenüberliegenden, rückwärtigen Seite mochten wohl weit mehr als hundert, vielleicht gar zwei- oder dreihundert Soldaten mit Marschgepäck stehen und auf die Einfahrt des Zuges warten. Hilde vermied jeden weiteren Blick und stieg, wie schon am Morgen – ganz am Ende des Zuges in den letzten Waggon und setzte sich dort im Einstiegsbereich auf einen Notsitz.
Sie atmete zum ersten Mal tief und lange durch, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Hilde gingen ihre letzten Worte an Franz nicht mehr aus dem Kopf: „Franz, ich habe dich so lieb, so sehr, bitte komm zu mir zurück!“ An diesem Nachmittag und in den wenigen Wochen seit dem 15. August hatte sie die Liebe gefunden. Ihre Zerrissenheit ließ sie eine leuchtende Zukunft am Horizont in der aufgehenden Sonne erblicken, während sich tief im Westen die Sonne anschickte für lange Zeit unterzugehen. Der Klöppel, der die Glocke ihrer jungen Liebe zum Schwingen und Tönen brachte, würde zunehmend Disharmonien erzeugen und der am längsten anhaltende, tiefste Ton würde die Oberhand behalten.
Franz Streit war als junger Mann unter den Einfluss nationalsozialistischer Aktivisten geraten. Dies belegt nicht zuletzt seine Flucht 1934 nach der Ermordung von Engelbert Dollfuß und dem dennoch gescheiterten Juliputsch. Sein Sohn Werner erzählt, dass er wesentliche und prägende Anteile seiner Kindheit und Jugend bei den Großeltern im Kärntner Lavanttal verbracht hast. Bei Christian Klösch (Des Führers heimliche Vasallen), einem 1969 in Wolfsberg/Kärnten geborenen Historiker kann man nachlesen, dass es den Nazis im Zuge des Juli-Putsches 1934 gelang, im Kärntner Lavanttal für kurze Zeit die Macht an sich zu reißen. Klösch schreibt, die Unterstützung für die Putschisten sei so groß gewesen, „dass wohl jene kritische psychologische Masse erreicht worden war, so dass sich auch Mitläufer anschlossen." Er erwähnt eine noch weitgehend patriarchalische Gesellschaftsstruktur im Tal: „Bauern befahlen ihren Söhnen und Knechten am Putsch teilzunehmen, und Gewerbetreibende und Industrielle stellten ihre Angestellten und Arbeiter für den Putsch ab und drohten ‚Verrätern' mit Entlassungen." Schließlich resümiert er, dass sich im Lavanttal eine „radikale Minderheit", offenbar mit stillschweigender Billigung einer relativen Mehrheit der Bevölkerung für die „Anschluss-Option" entschieden habe: „Insbesondere für die Jugendlichen des Tales, die durch Schule, Vereinswesen und regionale Medien seit jeher im ‚großdeutschen' Sinne indoktriniert worden waren, erschien die Zukunftsperspektive des ‚Dritten Reiches' verlockend."
"Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit!" (Schlink 87) Schlink lässt seinen Protagonisten - Michael - sich selbst die Frage stellen: "Wie kam ich dazu, ihn (den Vater, Verf.) zu Scham zu verurteilen?" Und weiter: "Aber ich tat es. Wir alle verurteilten unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet zu haben." (ebd. 88)
Drittes Kapitel
Wolfgang Klafki (Hrsg.): Verführung, Distanzierung, Ernüchterung - Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Weinheim und Basel 1988 (Beltz-Verlag).
Ein knapper Exkurs in die Erziehungswissenschaft
Wolfgang Klafki wurde 1927 in Angerburg/Ostpreußen geboren und wuchs bis zu seinem 16. Lebensjahr dort auf. Er wird zu einem einjährigen Luftwaffenhelfereinsatz in Nordwestdeutschland verpflichtet und gerät nach Arbeits- und Wehrdienst und nach einer schweren Verwundung in amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Als Herausgeber der weiter oben angegebenen Publikation betont Klafki in der Einleitung zu diesem Sammelband,
dass er sich an einer "bestimmten Akzentuierung der Forschung über den Nationalsozialismus" orientiere, vor allem "unter der Perspektive, wie das nationalsozialistische Herrschaftssystem im Alltag der Menschen, die innerhalb dieses Systems lebten, wirkte, wie Personen unterschiedlicher Altersstufen, unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen, Schichten, Gruppen, sozialgeografischer Räume, politischer, kultureller und religös-weltanschaulicher Traditionen den Nationalsozialismus rezipiert, verarbeitet, sich mit ihm identifiziert, sich in ihm arrangiert haben, ihn mitgetragen, sich innerlich oder praktisch handelnd von ihm mehr oder minder konsequent distanziert oder ihn bekämpft haben." (a.a.O., 7)
Wolfgang Klafki gehört zu den prägenden und einflussreichsten Figuren der deutschen Schulpädagogik - der Allgemeinen Didaktik im engeren Sinne. Auch ich betrachte ihn für mich - im Hinblick auf meine disziplinäre Sozialisation - als prägende und richtungsweisende Figur. In dem hier vorliegenden Gesamtkontext,
- in dem Hanna Schmitz vor Gericht steht und verurteilt wird;
- in dem Franz Streit, zwar nicht vor Gericht steht, aber zur Verantwortung gezogen wird, einer Verantwortung, der er sich wiederum durch faktischen Vollzug der Höchststrafe - bei Verlust von Leib und Leben - entzieht;
soll uns Wolfgang Klafki am eigenen Fall wenigstens ein paar Hinweise geben, wie ein Überlebender sich auf seine Sozialistation besinnt, neu aufstellt und mit der Schuldfrage umgeht: Unter Kapitel III seiner Ausführungen "Politische Identitätsbildung: Zwischen Führerglauben und Distanzierung" (a.a.O., S. 143-170) bekennt Wolfgang Klafki:
- das wichtigste, identifikatorische Moment seines politischen Bewusstseins als Kind und Jugendlicher sei "die idealisierte Vorstellung vom 'großen Führer'" gewesen, das "erst im Zweiten Weltkrieg - meiner Erinnerung nach beginnend mit der Stalingrad-Katasrophe - erste Erschütterungen erfuhr." (a.a.O., S. 151)
- dass die "soziale" Komponente des Nationalsozialismus bzw. seiner Programmatik, "die ja - sozialgeschichtlich gesehen - nicht ohne jeden Realitätsgehalt war", für ihn "emotional und moralisch eine hohes Gewicht" hatte. (vgl. ebd., S. 154)
Wolfgang Klafki betont bei alledem,
- dass - soweit er sich erinnern könne - "spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut" in der familiären Erziehung durch seine Eltern nirgends eine nennenswerte Rolle gespielt habe. (vgl. ebd., S. 144)
- dass er zwar während seiner gesamten Grundschulzeit einem autoritären Erziehungsstil ausgesetzt gewesen sei - unter der Knute eines Klassenlehrers, "der sich häufig der Prügelstrafe bediente", dass er aber seine Oberschule in Angerburg zwischen 1937 und 1943/44 nicht als 'nationalsozialistische Schule' erlebt habe. "Sie war aber selbstverständlich 'Schule im Nationalsozialismus'".
Im Rückblick auf seine biographische Rekonstruktion seiner politischen Identitätsbildung als Kind und Jugendlicher stellt sich Wolfgang Klafki vor allem die Frage, wie er "innerlich mit der Spannung zwischen den identifikatorischen und den im Laufe der Zeit immer zahlreicher werdenden Distanzierungs- und Zweifelsmomenten" fertiggeworden ist. Klafki führt aus, dass es vor allem die "Realerfahrungen und Beobachtungen" waren, die es ihm jedenfalls - "wie etlichen anderen Altersgenossen" erlaubte, sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes vom Nationalsozialismus abzukehren. Diese "Abkehr" vollzieht sich zwar auf dem Hintergrund schockierender Erfahrungen und Enthüllungen, denn:
- "Über die Judenverfolgungen haben weder meine Eltern mit uns Kindern, jedenfalls nicht mit mir, gesprochen, noch hat es im Schulunterricht, den ich erlebte, entsprechende Hinweise, geschweige denn ausführlichere Gespräche gegeben." (ebd. 163)
- "Von der systematischen Ausrottung der Juden habe ich erst nach dem Kriege mit Erschütterung erfahren. Was ich von der nazistischen Judenpolitik, ohne die Herkunftsquelle genauer benennen zu können, wusste, war, dass man Juden, ihrer angeblichen staats- und volksschädlichen Machenschaften wegen, aus allen anspruchsvollen Funktionen und Berufen entfernt hatte." (ebd.)
Wolfgang Klafki berichtet unter anderem von einer konkreten Beobachtung im Umgang mit russischen Kriegsgefangenen: "Mich erschreckte die Brutalität des deutschen Wachmannes zutiefst, die Beobachtung beschäftigte mich in der Vorstellung tagelang." Sein nachfolgendes Eingeständnis macht deutlich, warum wir Goldhagens These von "Hitlers willigen Vollstreckern" substanziell und strukturell nicht wirklich ignorieren können:
- "Dass ich in diesem und in vergleichbaren, wenngleich weniger extremen Fällen aus Angst nicht protestiert, nicht in irgendeiner Form - sonst ein zum Fragen und auch zu offener Kritik bereiter Junge -, wie kindlich und ohne Aussicht auf Erfolg auch immer, mit anderen Menschen, meinen Eltern zumal, gesprochen, sie gefragt, Widerspruch gewagt habe, gehört zu jenen Schulderfahrungen, von denen ich mich auch unter Hinweis auf mein damaliges Alter nicht freisprechen kann und will." (ebd. 164)
Viertes Kapitel
"Ich habe... ich meine... Was hätten Sie denn gemacht?" (107) Der Richter bemüht das "zivilisatorische Minimum": "Es gibt Sachen, auf die man sich nicht einlassen darf und von denen man sich, wenn es einen nicht Leib und Leben kostet, absetzen muss." (ebd.) Michael bemerkt dazu:
"Die Antwort des Richters wirkte hilflos, kläglich. Alle empfanden es. Sie reagierten mit enttäuschtem Aufatmen und schauten verwundert auf Hanna, die den Wortwechsel gewissermaßen gewonnen hatte." (107f)
Michael bekennt, dass er nicht mehr weiß, wann er Hanna erstmals verleugnet hat. Aber er spürt früh, dass das Gefühl der Schuld "schlimmer als die körperliche Sehnsucht war". (80) Die mächtige, für ihn unauflösliche Verstrickung treibt ihn von den großen Vs hinein in die Pendelbewegung zwischen den beiden großen S - Schuld und Scham. Michael lädt Schuld auf sich, weil er - ohne jeden Befehlsnotstand - Hannas Scham über ihr Analphabetentum wie eine Monstranz vor sich her trägt und ihre Selbstbezichtigung mit dramatischen Folgen für den Prozessverlauf und das ihr auferlegte Strafmaß geschehen lässt. Er schämt sich, weil er - ex post factum - keinen Weg findet, einer aus seiner Sicht schuldhaften Verstrickung zu entgehen
"Seltsam berührte mich die Diskrepanz zwischen dem, was Hanna beim Verlassen meiner Heimatstadt beschäftigt haben musste, und dem, was ich mir damals vorgestellt und ausgemalt hatte. Ich war sicher gewesen, sie vertrieben, weil verraten und verleugnet zu haben, und tatsächlich hatte sie sich einfach einer Bloßstellung bei der Straßenbahn entzogen. Allerdings änderte der Umstand, dass ich sie nicht vertrieben hatte, nichts daran, dass ich sie verraten hatte. Also blieb ich schuldig. Und wenn ich nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich eine Verbrecherin geliebt hatte." (129) Und "das schlimmste waren die Träume, in denen mich die harte, herrische, grausame Hanna sexuell erregte und von denen ich in Sehnsucht, Scham und Empörung aufwachte. Und in der Angst, wer ich eigentlich sei." (142)
Diese Frage treibt ihn auf eine gewisse Weise um. Er beginnt die unzumutbaren Anteile in sich abzuspalten: "Wer hatte mir die Spritze gegeben? ich mir selbst, weil ich es ohne Betäubung nicht ausgehalten hätte?" (97) Michael erfährt an sich selbst, was Götz Aly mit der emotionalen Vereisung einer ganzen Generation meint. Die Betäubung erlaubt ihm, Hanna zu erleben, als sei es ein anderer, der sie geliebt und begehrt hatte - "jemand, den ich gut kannte, der aber nicht ich war". Erst gut 60 Seiten später gestattet sich Michael Genesung über einen Fieberschub, mit dessen Krisis sich auch die anhaltende Betäubung auflöst.
Berhard Schlink schenkt Michael mit dieser Genesung eine Läuterung, die so sehr das Dilemma offenbart, in dem sich die Kriegskinder und die Nachgeborenen bewegen, ohne dass es auch nur wenigen zu Bewusstsein käme. Michael unterzieht sich in der folgenden Passage einer bemerkenswerten Selbstanalyse:
"Als ich das Studium beendet und das Referendariat begonnen hatte, kam der Sommer der Studentenbewegung. Ich interessierte mich für Geschichte und Soziologie und war als Referendar noch genug in der Universität, um alles mitzukriegen. Mitkriegen heißt nicht mitmachen - Hochschule und Hochschulreform waren mir letztlich ebenso gleichgültig wie Vietkong und Amerikaner. Was das dritte eigentliche Thema der Studentenbewegung anging, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, spürte ich eine solche Distanz zu den anderen Studenten, dass ich nicht mit ihnen agitieren und demonstrieren konnte. Manchmal denke ich, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht der Grund, sondern nur der Ausdruck des Generationenkonflikts war, der als treibende Kraft der Studentenbewegung zu spüren war. Die Erwartungen der Eltern, von denen sich jede Generation befreien muss, waren damit, dass diese Eltern im Dritten Reich oder spätestens nach dessen Ende versagt hatten, einfach erledigt. Wie sollten die, die die nationalsozialistischen Verbrechen begangen oder bei ihnen zugesehen oder von ihnen weggesehen oder die nach 1945 die Verbrecher unter sich toleriert oder sogar akzeptiert hatten, ihren Kindern etwas zu sagen haben. Aber andererseits war die nationalsozialistische Vergangenheit ein Thema auch für die Kinder, die ihren Eltern nichts vorwerfen konnten oder wollten. Für sie war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht die Gestalt eines Generationenkonflikts, sondern das eigentliche Problem.
Was immer es mit Kollektivschuld moralisch oder juristisch auf sich haben oder nicht auf sich haben mag - für meine Studentengeneration war sie eine erlebte Realität. Sie galt nicht nur dem, was im Dritten Reich geschehen war. Dass jüdische Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert wurden, dass so viele alte Nazis bei den Gerichten, in der Verwaltung und an den Universitäten Karriere gemacht hatten, dass die Bundesrepublik den Staat Israel nicht anerkannte, dass Emigration und Widerstand weniger überliefert wurden als das Leben in der Anpassung - das alles erfüllte uns mit Scham, selbst wenn wir mit dem Finger auf die Schuldigen zeigen konnten. Der Fingerzeig auf die Schuldigen befreite nicht von der Scham. Aber er überwand das Leiden an ihr. Er setzte das passive Leiden an der Scham in Energie, Aktivität, Aggression um. Und die Auseinandersetzung mit schuldigen Eltern war besonders energiegeladen.
Ich konnte auf niemanden mit dem Finger zeigen. Auf meine Eltern schon darum nicht, weil ich ihnen nichts vorwerfen konnte. Der aufklärerische Eifer, in dem ich seinerzeit als Teilnehmer des KZ-Seminars meinen Vater zu Scham verurteilt hatte, war mir vergangen, peinlich geworden. Das aber, was andere aus meinem sozialen Umfeld getan hatten und womit sie schuldig geworden waren, war allemal weniger schlimm, als was Hanna getan hatte. Ich musste eigentlich auf Hanna zeigen. Aber der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte sie geliebt. Ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie gewählt. Ich habe versucht mir zu sagen, dass ich, als ich Hanna wählte, nichts von dem wusste, was sie getan hatte. Ich habe versucht mich damit in den Zustand der Unschuld zu reden, in dem Kinder ihre Eltern lieben. Aber die Liebe zu den Eltern ist die einzige Liebe, für die man nicht verantwortlich ist.
Und vielleicht ist man sogar für die Liebe zu den Eltern verantwortlich. Damals habe ich die anderen Studenten beneidet, die sich von ihren Eltern und damit von der ganzen Generation der Täter, Zu- und Wegseher, Tolerierer und Akzeptierer absetzten und dadurch wenn nicht ihre Scham, dann doch ihr Leiden an der Scham überwanden. Aber woher kam die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit, die mir bei ihnen oft begegnete? Wie kann man Schuld und Scham empfinden und zugleich selbstgerecht auftrumpfen? War die Absetzung von den Eltern nur Rhetorik, Geräusch, Lärm, die übertönen sollten, dass mit der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld unwiderruflich eingetreten war?
Das sind spätere Gedanken. Auch später waren sie kein Trost. Wie sollte es ein Trost sein, dass man mein Leiden an meiner Liebe zu Hanna in gewisser Weise das Schicksal meiner Generation, das deutsche Schicksal war, dem ich mich nur schleichter entziehen, das ich nur schlechter überspielen konnte als die anderen." (160ff)
Aber woher kam die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit, die mir bei ihnen oft begegnete?
Fünftes Kapitel
Mit dieser Frage, die ich von Michael übernehme, werde ich mir selbst verdächtig. Sascha Feuchert und Lars Hofmann, die den "Vorleser" 2005 erstemals für den "Reclam-Lektüreschlüssel" didaktisch aufbereiten (ich beziehe mich auf die aktuelle Auflage, Stuttgart 2016) kommen im ersten Kapitel "Erstinformation zum Werk" zu dem Resümee, dass "die Erzählung letztendlich deutlich einem Ziel dient:
der Entlastung des Ich-Erzählers von seiner eigenen Schuld, eine SS-Täterin geliebt zu haben." (6)
Allerdings - betonen Feuchert/Hofmann - seien damit jedoch die generellen Fragen der Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Schuld und Täterschaft verbunden, die allesamt auf der Ebene des Romans - und natürlich weit darüber hinaus - beantwortet werden müssten. Ein weiterer Hinweis bezieht sich auf die Kontroverse, die den Dissens offenbart, der sich in diametral entgegengesetzten Bewertungen äußert: Einmal durch die "Interpreten der 'ersten Generation'", die den "Vorleser" überschwänglich feiern und zum anderen durch die "Interpreten der 'zweiten Generation'", die den Roman als "Holo-Kitsch" attackieren und mehr noch : beklagen: "Es wirft ein trauriges Schlaglicht auf unsere verkehrte Welt, dass diesen Schundroman ausgerechnet ein deutscher Richter ausgebrütet hat." (Jeremy Adler zitiert nach Feuchert/Hofmann, S. 69)
Versuchen wir es einmal unter Hinzunahme einer weiteren Kontroverse, die im Kontext der Geschichtswissenschaft durch die Betonung des "Referenzrahmens" durch Sönke Neitzel und Harald Welzer eingeleitet wird:
Das programmatisch-theoretische Einführungskapitel in „Soldaten" (Sönke Neitzel und Harald Welzer, Frankfurt 2011) ist überschrieben mit dem Titel: „Der Referenzrahmen des ‚Dritten Reiches'". Beide gehen davon aus, dass die Sozial- und Kulturgeschichte des ‚Dritten Reiches' gut dokumentiert ist. Hinsichtlich des sich entwickelnden Referenzrahmens des ‚Dritten Reiches' heben sie zwei besondere Aspekte hervor: „Der erste Aspekt ist die sich mit der ‚Judenfrage' sukzessiv etablierende Vorstellung, Menschen seien kategorial ungleich (a.a.O, S. 48)." Der zweite Aspekt resultiert nach Neitzel/Welzer aus dem nationalsozialistischen Alltag: „Die Forschung neigt dazu, die symbolischen Formen gesellschaftlicher Praxis – also etwa ‚Ideologien', ‚Weltanschauungen', ‚Programmatik' zu untersuchen und dabei zu übersehen, dass die sozialen Praktiken des Alltags eine weit stärkere formative Wirkung haben – unter anderem deswegen, weil sie nicht reflexiv zugänglich sind.
Diese formative Kraft des Faktischen bildet einen wesentlichen Aspekt des Referenzrahmens des ‚Dritten Reiches' (ebd., S. 49)." Solche Überlegungen fließen auch ein in mein "Gespräch mit Franz Streit" (Vater meiner Schwester und Angehöriger der 9. Panzerdivision).
Neitzel/Welzer übertragen diesen Erklärungsansatz gleichermaßen auf den "Krieg gegen die Sowjetunion und die Verbrechen an Kriegsgefangenen" (in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6/2011). Die Autoren bezweifeln, "dass die Soldaten, die am frühen Morgen des 22. Juni 1941 ihre Anordnungen erhielten, begriffen, welch ein Krieg ihnen bevorstehen würde" (Blätter, S. 112). Jede Vergleichbarkeit mit den raschen Offensivkriegen in Polen, Frankreich oder auf dem Balkan erwies sich als trügerisch und unzureichend. Dass man es bis in die Hauptkampflinie mit einem "Vernichtungskrieg mit bislang beispielloser Härte" zu tun haben würde, war zweifellos den allermeisten Soldaten nicht klar; vor allem "dass im Rahmen dieses Krieges systematisch Personengruppen vernichtet werden würden, sah der 'Referenrahmen Krieg' bis dahin nämlich nicht vor" (ebd.).
Andererseits gehen Neitzel/Welzer davon aus, dass die Umwandlung einer 100 000 Mann starken Reichswehr ab 1933 zu der 1939 bereits 2,6 Millionen Männer zählenden Wehrmacht nicht nur auf einer materiellen Anstrengung beruhte. Vielmehr wurde die Aufrüstung begleitet "von der Ausbildung eines Referenzrahmens, in dem das Militärische in einer zeit- und nationaltypischen Signatur positiv konnotiert war" (ebd.). Zahllose Parteiorganisationen von der HJ über RAD, SA und SS sorgten nach Neitzel/Welzer dafür, die "Wehrhaftmachung" des deutschen Volkes voranzutreiben und militärische Werte im Referenzrahmenm der Deutschen zu verankern. Im Verlauf des gesamten Krieges führte dies immerhin dazu, dass 17 Millionen Männer (!) problemlos in die Wehrmacht integriert werden konnten. Neitzel/Welzer übernehmen darüber hinaus Argumentationsfiguren wie den von Norbert Elias geprägten Begriff des "Gestaltwandels", indem genuin militärische Werte, aber auch Grundeinstellungen zu Fragen der Ehre, der Ungleichheit von Menschen und der Satisfaktionsfähigkeit von Nation und Volk eine zunehmend größere Bedeutung zukam. Im klaren Gegensatz zu den Idealen der Aufklärung und des Humanismus - mit dem Postulat der Gleichheit aller Menschen - wurde eine "klare Ordnung des Befehlens und Gehorchens" mentalitätstypisch. Dem entsprechen ein ausgeprägter Sozialdarwinismus, ein rassisch begründeter Nationalismus ausmündend in die Idee eines radikalen Volkskrieges über Sein oder Nichtsein: Dulce et decorum est pro patria mori, das Ideal vom Heldentod wird das alles überstrahlende Motiv, in dem "Manneszucht und Mannestugenden" aufgehen und sich erfüllen.
Neitzel/Welzer zeigen, dass die positive Konnotation des Militärs und des Kampfes fast alle gesellschaftlichen Gruppen eint. Selbst das "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" oder der "Rotfrontkämpferbund" waren dem Wehrgedanken nicht grundsätzlich abgeneigt (vgl. Blätter, S. 115). Der "Hass gegen den äußeren Feind" sowie der "Kampf gegen alles Undeutsche" bildete die Plattform für den übergroßen Teil der Gesellschaft. Es dauerte keine 10 Jahre bis die Ausbildung stabiler rassischer und völkischer Mentalitäten und Motive im Zuge des Überfalls auf die Sowjetunion zum größten Verbrechen der Wehrmacht führte:
"So war das größte Verbrechen der Wehrmacht der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen. Von den rund 5,3 bis 5,7 Millionen Rotarmisten in deutschem Gewahrsam sind 2,5 bis 3,3 Millionen umgekommen - das sind 45 bis 57 Prozent (Blätter, S. 116)."
Um diese exorbitanten Zahlen zu verstehen, muss man das Kalkül der Heeresleitung zur Kenntnis nehmen. Dieses Kalkül lässt keinen Zweifel an der Angemessenheit der von Neitzel/Welzer gewählten Sprachregelung des "größten Verbrechens der Wehrmacht". Dieses Kalkül bestand nämlich darin, "die Gefangenen ihrem Schicksal zu überlassen und keine Vorsorge für deren Ernährung zu treffen" (Blätter S.116f.). Bei jeder Gelegenheit - so Neitzel/Welzer - wurde den eigenen Soldaten vermittelt, gegen eine "feindliche Rasse" und "Kulturträger minderer Art" zu kämpfen. Dies sollte ein "gesundes Gefühl des Hasses" legitimieren, was jeglicher "Gefühlsduselei und Gnade" den Boden entziehen sollte.
Neitzel/Welzer (Blätter, S. 118) zitieren General Gotthart Heinrici (siehe auch die Rezension zur Veröffentlichung der Briefe und Tagebücher Heinricis durch Johannes Hürter), der bereits bereits Anfang 1941 an seine Familie schreibt:
"Teilweise wurde überhaupt kein Pardon mehr gegeben. Der Russe benahm sich viehisch gegen unsere Verwundeten. Nun schlugen und schossen unsere Leute alles tot, was in brauner Uniform umherlief. So steigern sich beide Parteien gegenseitig empor, mit der Folge, dass Hekatomben von Menschenopfern gebracht werden."
Entscheidend im gesamten Argumtentationszusammenhang von Neitzel/Welzer bleibt das Beharren auf der These, dass das Verhalten der Soldaten gegenüber den Rotarmisten in der eigenen Optik kein Verbrechen war, obwohl die völkerrechtliche Lage eindeutig dagegen spricht:
"Das, was man aus der heutigen Sicht als 'humanes' oder 'menschliches' Verhalten bewerten würde, spielte kommunikativ so gut wie keine Rolle [...] Wo das Töten allgemeine Praxis und soziales Gebot ist, ist prosoziales Verhalten gegenüber Juden, russischen Kriegsgefangenen und anderen als minderwertig apostrophierten Gruppen ein Normverstoß (Blätter, S. 120, Hervorhebung, Verf.)."
Möglicherweise überzeugt an dieser Stelle der Hinweis Neitzels/Welzers, dass es selbst in der Nachkriegszeit viele Jahre gedauert habe, bis solche Motive normativ höher bewertet wurden. Der Referenzrahmen des Dritten Reiches - so Neitzel/Welzer - sah so etwas wie Empathie gar nicht vor.
Neitzel/Welzer weisen darauf hin, dass das Verfahren der Referenzrahmenanalyse auf die Überlegung zurückgeht, dass man die Deutungen und Handlungen von Menschen nicht verstehen könne, wenn man nich rekonstruiere, was sie "gesehen" haben - innerhalb welcher Deutungsmuster, Vorstellungen, Beziehungen sie Situationen wahrgenommen und wie sie diese Wahrnehmungen interpretiert haben. Und man möchte hinzufügen, dass der Referenzrahmen, der jeweils durch geltendes Recht gesetzt ist, hier eine gewichtige, wenn nicht entscheidende Rolle spielt.
Knapper Exkurs zu rechtspolitischen Aspekten
In diesem spezifischen Sinne zeigen sich vergleichbare Überlegungen im Kontext einer "rechtspolitischen Konzeption", wie sie ganz offenkundig auch von Bernhard Schlink vertreten wird: Sie basiert auf Artikel 103 (2) GG und geht zunächst einmal davon aus, dass eine Tat nur bestraft werden könne, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
Dieter Kampmeyer führt dazu in seinen Traumakonfigurationen (Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2014) aus, dass die staatliche Verfolgung und Verurteilung von Taten, die im Dritten Reich ausgeführt und die nicht verfolgt und verurteilt wurden, wie zum Beispiel die "Ergreifung, Festsetzung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung", in Deutschland verfassungsrechtlich problematisch sei: "Die Täter konnten damals sicher sein, sich mit ihrem Verhalten nicht strafbar zu machen." (ebd., S. 75) Solange deutsche Gerichte mit konventionellen strafrechtlichen Kategorien arbeiteten, wurden die Täter allein schon dadurch erheblich entlastet, dass von der Geltung nationalsozialistischer Gesetzgebung ausgegangen wurde. Um Handlungen, die insofern im Geltungsbereich entsprechender Gesetzgebung legal waren, als Straftaten verfolgen zu können, wurde das oben erwähnte strafrechtliche Rückwirkungsverbot mit einer Forderung Gustav Radbruchs ("Radbruchsche Formel") kombiniert. Dazu führt Dieter Kampmeyer in einer Anmerkung folgendes aus:
"Gustav Radbruch, der von 1878 bis 1949 gelebt hat, war Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Heidelberg, Königsberg und Kiel später Reichstagsabgeordneter und Justizminister in der Weimarer Republik. 1933 wurde er als erster Professor aus seinem Amt in Kiel entlassen. Er zog sich ins Privatleben zurück und distanzierte sich in seinen Tagebüchern vom Nationalsozialismus. Nach dem Krieg setzten ihn die Alliierten wieder in eine Professur in Heidelberg ein. Radbruch definierte die Menschenrechte des GG als subjektives Naturrecht. Gemäß der 'Radbruchschen Formel' muss die mit einem Gesetz gegebene Rechtssicherheit der Gerechtigkeit weichen, wenn die damit gegebene Wirklichkeit in unerträglichem Maße zu dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden in Widerspruch steht. In diesem Falle soll an die Stelle des gesetzlichen Unrechts das Naturrecht als übergesetzliches Recht treten." (ebd., S. 76)
Bernhard Schlinks Argumentation hingegen betont, dass mit der Inventarisierung des Rückwirkungsverbots, was durch Artikel 103 (2) GG geltendes Recht sei,
"an einem entscheidenden Punkt Verlässlichkeit der Lebenswelt gewährleistet ist. Soweit es um das Betrafen eines Verhaltens geht, soll man sich auf das Recht so verlassen können, wie es zur Zeit des Verhaltens galt. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot heißt nicht, dass das Verhalten moralisch richtig war, und schließt weder spätere soziale oder ökonomische Sanktionen noch negative Folgen für Beruf und Karriere aus. Es heißt nur, dass an die vergangene Lebenswelt strafrechtlich nicht mehr gerührt werden darf [...] Die Frage der rückwirkenden Bestrafung wäre nicht von der Rechtsprechung, sondern vom Gesetzgeber zu beantworten gewesen - mit der politischen Diskussion und Publizität, die verfassungsändernde Gesetzgebung genießt." (Bernhard Schlink, zitiert nach Kampmeyer, a.a.O., S. 78)
Bernhard Schlink vertritt also durchaus die Auffassung, dass es bei so schwerwiegenden Rechtsverletzungen, wie sie hier zur Rede stehen, sein kann, dass einer Gesellschaft der Rechtfertigungsgrund fehlt, sie mit dem Hinweis auf das Rückwirkungsverbot gesellschaftlich zu integrieren. Für diese Fälle sei dann das Parlament legitimiert und aufgefordert, das Rückwirkungsverbot mit einer verfassungsändernden Mehrheit zwar nicht grundsätzlich aufzuheben, aber zu modifizieren. Bernhard Schlink dringe damit auf eine öffentliche, politische Auseinandersetzung und Entscheidung. (siehe zu diesem Argumentationszusammenhang Kampmeyer, ebd.)
Sechstes Kapitel
Was fangen wir nun damit an?
Wir werden in der Regel sprachlos, wir verstummen, wo wir miteinander reden müssten. Willi Winkler wirft Bernhard Schlink in der Süddeutschen Zeitung vom 30./31.3./1.4.2002 vor:
"Zwar ist der Vorleser um größtmögliche Kunstlosigkeit bemüht, der Roman ist aber gleichzeitig eine strenge Predigt gegen jede Form der Vergangenheitsbeschreibung, die nicht individuell am besten gleich ganz persönlich ist. Der Verzicht auf Stil hat im Verein mit der 'Titanic-haften' Liebesgeschichte einerseits den Welterfolg ermöglicht und andererseits den deutschen Propagandisten einer realistischen und vermeintlich amerikanischen Literatur den ersehnten Gegenstand der Selbstfeier geliefert. Allerdings will das Buch nebenbei ziemlich treudeutsch mit der Vergangenheit aufräumen, die sonst womöglich gar nicht vergehen würde."
Ich bin ein wenig jünger als Bernhard Schlink. Und ich habe alle Phasen der Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Vergangenheit erlebt - und auch mit ausgelebt. Allerdings und sozusagen "mit gebremstem Schaum". Auch ich hatte - vermeintlich - meinen Eltern nichts vorzuwerfen. Auch für mich und die nachfolgenden Generationen stellt sich die Frage, inwieweit Hilde, Franz und Hildes zweiter Mann, Theo, Schuld auf sich geladen haben, sowohl durch ihre Handlungen, als auch durch die für sie - im Vollzug und in der Wirkung - kaum durchschaubaren Verstrickungen, in die sie durch ihr Handeln einbezogen waren.
Hilde, die 1952 auch meine Mutter werden sollte, erliegt im August/September 1941 dem Charme und dem Werben eines 27jährigen österreichstämmigen Unteroffiziers - oder war es vielleicht doch umgekehrt (schaut in Hildes Geschichte) - und bringt am 5. Juni 1942 in einem Entbindungsheim der NSV (in Flammersfeld/WW) die gemeinsame Tochter, Ursula, zur Welt. Im August 1941 ist sie tatsächlich so alt, wie Hanna es im Missbrauch von Michael, von ihrem "Jungchen" annimmt. Und fast 80 Jahre später ist dies alles noch nicht zu Ende.
Nein, es ist weitergegangen!!! Der Enkel unserer Mutter, Ursulas, meiner und Wilfrieds Mutter - der Sohn Ursulas, Michael - ist der Resonanzkörper, der so vieles zum Klingen bringt:
- Er lässt 1962 - 20 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter - das Herz seiner Großmutter höher schlagen; vom ersten Schrei, von der ersten beschissenen Windel an erfüllen sich die Sehnsüchte dieser guten Mutter und Großmutter, dieser warmherzigen und weltoffenen Frau auf wunderbare Weise. Ich möchte nicht bestreiten, dass Hilde alle Spuren ihres 20 Jahre zuvor begangenen Sündenfalls getilgt hat; jedes Foto, jeder Brief war von ihr dem reißenden Strom der Geschichte übereignet worden. Aber damit waren nicht jene Erinnerungen, all die Spuren ausgelöscht, die nun in diesem Enkel Gestalt annahmen. Dass sie ihn - ja wen(?) - geliebt, umsorgt, verwöhnt hat, wird niemand bestreiten, der Zeitzeuge heute noch ist; weder seine Mutter, weder sein Vater, weder seine Onkel (von denen mütterlicherseits in meiner Person nur noch einer lebt) noch die Tochter seiner Großtante! Michaels Großmutter ist 2003 gestorben.
- Er, Michael, ihr Enkel, bewahrt ihr ein ehrendes und liebevolles Andenken. Man darf nichts böses über sie sagen - nicht in seiner Gegenwart. Michael bleibt bis heute ein einzigartiger Resonanzkörper der Liebe, die über die Generationen hinweg das Leben trägt und weitertreibt - bis hin zu Karla, Hildes Urenkelin, die leider ein Jahr zu spät geboren worden ist, als dass Hilde sie noch hätte kennenlernen dürfen.
- Aber das wunderbare, edle Holz dieses Klangkörpers hat Risse bekommen. Es ist trocken und dürstet nach Pflege und Balsam. Die Töne, die ihm zu entlocken sind, klingen teils merkwürdig schräg und bekommen keine Tiefe mehr, weil der Klangkörper irgendwann begonnen hat, stellvertretend jener Schuld und jener Scham Ausdruck zu verleihen, die ihm eigentlich nicht gemäß sind.
Der andere Michael - Bernhard Schlinks Michael - musste "eigentlich" auf Hanna zeigen: "Aber der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte sie geliebt. ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie gewählt. Ich habe versucht, mir zu sagen, dass ich, als ich Hanna wählte, nichts von dem wusste, was sie getan hatte. Ich habe versucht mich in den Zustand der Unschuld zu reden, in dem Kinder ihre Eltern lieben. Aber die Liebe zu den Eltern ist die einzige Liebe, für die man nicht verantwortlich ist." (162)
Es mag einer Ironie des Schicksals gleichkommen, dass unsere Hilde möglicherweise niemals an diesen Punkt einer mörderischen Selbstreflexion gelangt ist. Und dass vor allem und vor jeder Erwägung hier die Feststellung zu treffen ist, dass Franz Streit nicht auf einer Augenhöhe mit Hanna Schmitz agiert. Diese These bedarf einer Begründung:
- Franz Streits Weg ist dokumentiert. Franz Streit wird 1936 Berufssoldat und gehört durchweg der kämpfenden Truppe an. Dies ist kein Freibrief, und es liegt mir fern, die von Neitzel/Welzer und vielen anderen angesprochene Rolle der Deutschen Wehrmacht zu relativieren. Aber es ist ein Beleg dafür, dass - wenn überhaupt - der Begriff der kämpfenden Truppe etwas aussagt, die Panzerregimenter das tun, was sich sozusagen im Endergebnis im dynamischen Prozess der sich verschiebenden Frontlinien widerspiegelt - von der größten Ausdehnung großdeutscher Blut- und Bodenideologie bis hin zum totalen Zusammenbruch jeden militärischen Widerstands am 8. Mai 1945 auf deutschem Boden. Aber da war Franz Streit bereits seit 1 3/4 Jahren tot.
- Franz Streit war Nationalsozialist. Es ist nirgendwo belegt, dass er Mitglied der NSDAP war. Aber er hat vermutlich - als 20jähriger - 1934 am Juli-Putsch der Nazis in Österreich (konkret im Lavanttal) teilgenommen. Er ist im Zuge der Niederschlagung dieses Putsches - genauso vermutlich - über Jugoslawien nach Deutschland geflohen und ist wiederum dort am 29.10.1936 (als 22jähriger) vereidigt worden und hat seine Ausbildung zum Gebirgsjäger im Gebirgsjägerregiment 99 in Sonthofen begonnen.
- Der von Sönke Neitzel und Harald Welzer erforschte bzw. beschriebene Referenzrahmen des Dritten Reiches war von Kindheit und Jugend an der sozialisationsbestimmende Kontext, in dem sich Weltbild, Persönlichkeit und das soldatische Selbstbild des Franz Streit ausgebildet haben (siehe weiter oben die Auslassungen Wolfgang Klafkis in einem wissenschaftlich legitimierten Kontext).
- Im Sinne der kritischen Vorhaltungen von Willi Winkler (siehe weiter oben) kommen wir nicht umhin, die Persönlichkeit Franz Streits in den Blick zu nehmen, "individuell und am besten gleich ganz persönlich" zu werden, weil er der erste Mann von Hilde geworden ist. Auch mir (dem Verfasser) blieb keine Alternative zur Erfindung einer "Titanic-haften" Liebesgeschichte, weil Franz Hildes erste große, abgründige Liebe war (und dass jeder Leser dieser Zeilen eindeutig wissen wird, was eine "Titanic-hafte" Liebesgeschichte ist, verdanken wir im übrigen einem - wenn auch noch so fragwürdigen - gemeinsamen kulturellen Referenzrahmen).
- Und schließlich und endlich: Franz Streit hat für seinen Irrtum, seine historisch belegte Verirrung (im Sinne der Position auch Bernhard Schlinks) - aber ganz gewiss wider besseres Wissen - mit seinem Leben bezahlt. Er hat - wie viele andere - den Höchstpreis entrichtet. Und vor allem: Er hatte danach - aufgrund des finalen Ausgangs seiner ganz und gar individuellen Lebensgeschichte - nicht die geringste Chance der Besinnung in einem vollkommen und mit zunehmender Rasanz sich verändernden historischen Referenzrahmen. Was im Zuge einer langen Besinnung und Auseinandersetzung geschehen kann, dafür sollen hier Wolfgang Klafki und auch andere Zeugnis ablegen; so meinetwegen der 1918 geborene und jüngst verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt (siehe eines seiner letzten Interviews mit Sandra Maischberger).
- Franz Streit hätte sich vor der Staatsmacht - repräsentiert durch die österreichischen Austrofaschisten im Geiste eines Engelbert Dollfuß - für seine Beteiligung am Juli-Putsch 1934 verantworten müssen (siehe dazu: Robert Menasse: Das war Österreich, Frankfurt 2005 (Suhrkamp-Verlag), S. 421ff.) Ansonsten wäre er als Berufssoldat und Angehöriger der Pz.Rgt.33 der 9. Panzerdivision - auch ohne die Geltung des Rückwirkungsverbots ganz sicher strafrechtlich nicht zu belangen gewesen.
Es mag verständlich sein, ganz sicher hingegen ist es überaus aufschlussreich, wenn mein Neffe, Michael, in seinen Anstrengungen - und leider versiegenden - Bemühungen, Licht in seine Herkunft zu bringen - im Übrigen mit der ehrenwerten Absicht, den ihm Nachfolgenden (s)einen Einblick zu gewähren - just an dieser empfindlichen Stelle sich zu der Feststellung entschließt:
"Die Suche nach den 'eigenen Wurzeln' erscheint mir zudem einigermaßen fragwürdig, sobald sie über das unmittelbar erlebte Umfeld hinausreicht, etwa um angeblich bestehende familiäre Kontinuitäten nachzuweisen. Trotz aller Vorbehalte und nicht ohne ein wenig Vergnügen will ich mich dann doch etwas an den unteren Halbkreisen meiner eigenen Ahnentafel entlang hangeln und von den Menschen meiner Familie, ihrer und damit eben auch meiner Herkunft und Heimat berichten, vor allem damit meine Kinder irgendwann nachlesen können, was mir Wert erscheint, nicht vergessen zu werden.
Verzichten will ich aberf auf die Suche nach Erinnerungen an Menschen, die mir niemals begegnet sind, und über deren Leben ich nur etwas vom Hörensagen berichten könnte. Mir fehlen Überzeugung und Glaube daran, dass diesen Abstammungslinien eine wichtige Bedeutung für mich und meine Kinder zukommt. Meine Wurzeln, wenn man es so nennen mag, liegen mit einer Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, offen zutage. Und etwas Geheimnisvolles ist an dem, wovon ich nun erzählen möchte, auch nicht."
Warum irritiert mich dies? Will ich mich gemein machen mit Nazis? Will ich - wie der Brite Jeremy Adler es Bernhard Schlink vorwirft - den Nationalsozialismus verharmlosen und banalisieren; ein Vorwurf den man im Übrigen schon der Jüdin Hannah Arendt in der Kommentierung des Eichmann-Prozesse hinsichtlich ihrer These von der "Banalität des Bösen" gemacht hat???
Das ganze Gegenteil ist der Fall. Mein Neffe Michael hat mir gegenüber einmal geäußert, sein eigentlicher Berufswunsch sei es früh schon gewesen, Geschichtslehrer zu werden. Seine Handbibliothek legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Damit hätte sich natürlich eine Geschichtsvergessenheit, wie sie seinen weiter oben farbig unterlegten Auffassungen zu entnehmen ist, ganz sicher nicht vertragen. Um den Irritationen Sprache zu geben, sie in einer reflexiven Haltung zu überdenken, benötigen wir allerdings ein weiteres Kapitel.
Siebtes Kapitel
Mein Neffe Michael konnte sich bei den - wie gesagt - leider versiegenden Rekonstruktionen seiner Ahnentafel offenkundig auf Vorarbeiten eines seiner Vorfahren stützen. So ist es ihm möglich, auch seine Urgroßeltern in den Blick zu nehmen. Da aber die Ahnenforschung im Zuge der nationalsozialistischen Rassenideologie - insbesondere verbunden mit dem Begriff der "Rassenhygiene" vollkommen desavouiert erschien, kommt Michael zu einer interessanten Schlussfolgerung, die man sich in all ihren Nuancen auf der Zunge zergehen lassen muss:
"Wenn ich selbst nur bis zu besagtem Heinrich Josten, meinem Urgroßvater, vordringe, befinden sich aber bereits auf dessen Ebene, also seinem Halbkreis, sieben (!) weitere Urgroßelternteile. Ob sich dem Autor meiner 'Genealogie' denn auch einmal die Frage nach der Bedeutung d i e s e r sieben Urgroßelternteile gestellt hat, obwohl sich darunter kein 'Namensträger befindet? Schon dieser Einwand macht den ganzen Unsinn einer Familienforschung auf der Grundlage von Abstammungslinien deutlich. Außerdem finde ich es reichlich vermessen, den Blick über mehrere Generationen hinweg zu richten, dabei die anscheinend unwichtigen Vorfahren, das sind übgrigends zumeist die weiblichen, weitgehend auszublenden, und dann darauf abzustellen, man sei ein Nachfahre von dem und dem."
Es ist sicher nicht die Überzeugung von Alexander Kluge allein, wenn er in einem Interview mit Denis Scheck dazu anregt, einmal die acht Urgroßeltern in den Blick zu nehmen, denn "unter denen werden wir nicht geboren sein". Und es ist eben dieser Alexander Kluge, der dazu rät, sich in bewegten Zeiten zu verankern, nach naheliegenden Möglichkeiten der Verankerung suchen. Alexander Kluge versucht dies durch einen "Akt der Revitalisierung":
"Durch Revitalisierung - eigentlich dadurch, dass sie gewissermaßen Empathie auch auf sie (hier sind die toten Eltern Alexander Kluges gemeint) anwenden. Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern, in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen." (Auch darum ist "Hildes Geschichte" entstanden!)
Das Bild des Krieges - eines internen Bürgerkrieges - hat einiges für sich, wenn man davon ausgeht, dass man im Blick allein schon auf die Eltern oder die Großeltern auf Dissonanzen stößt, auf etwas, von dem wir meinen, dass es uns zerreisst, dass sie uns zerreisen - unsere Vorfahren, weil wir den einen ablehnen, verurteilen, ausgrenzen, so wie wir den anderen überhöhen und idealisieren. Was aber nun, wenn wir nur sind, weil die, denen wir uns verdanken, sich vereinigt haben, um in ihren Kindern und Kindeskindern wieder zusammenzukommen; was ist, wenn die eigene Mutter ein Kind der Liebe ist - zweifelsfrei und von der Großmutter verbürgt - und der Mann, den sie dazu auserkoren hat, in der Folge nicht nur das Schicksal eines früh, allzufrüh Verstorbenen verkörpert, sondern zudem auch noch das Schicksal eines Ausgegrenzten, eines Totgeschwiegenen annehmen muss?
Nicht alles, was unser Leben bestimmt - ich würde eher annehmen nur das Wenigste - unterliegt unserer Wahl oder gar unserem der Ratio geschuldeten Einfluss. Ich folge hier unbedingt der These Odo Marquardts, wonach wir weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind. Wir mögen den Verlust von Kontrolle oder Einfluss beklagen. Im Hinblick auf unsere Herkunft ist er allzu sinnfällig und offenkundig. Wenn dies schon so ist - wir unsere Eltern und Großeltern nicht wählen können -, so obliegt uns doch schon im eigenen Interesse hinzuschauen und in der Schau anzuerkennen, was ist. In der Wissenschaft wie im Leben stehen wir auf den Schultern derer, die vor uns waren. Im besten Fall können wir aus deren Irrtümern und Versäumnissen lernen, so wie wir nur hoffen können, dass diejenigen, die nach uns kommen, aus unseren Versäumnissen und Irrtümern lernen.
Kluge Geschichtswissenschaftler lehren uns dabei, den/die Referenzrahmen zu sehen, innerhalb dessen/derer das Handeln von Menschen Sinn macht. Wolfgang Klafki verkörpert in Profession und Haltung den Prototypen des jungen (noch) Kriegsteilnehmers, der erkennt, dass uns Deutschen die Demokratie geschenkt wird und der sein Leben lang innerhalb dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung - innerhalb dieses neuen, ihm geschenkten Referenzrahmens - nicht müde geworden ist, diesen zu verteidigen, zu verfeinern, zu vermitteln und als höchstes gemeinschaftliches Gut zu achten. Erst auf diese Weise mag es gelingen, die eigene Zerrissenheit, die eigenen - in sich nicht vereinbaren Dissonanzen - zu begreifen und sich zu versöhnen auch mit der eigenen Herkunft:
1. "Die Sippschaft
Zusammen mit unseren Eltern und unseren Geschwistern bilden wir die Schicksalsgemeinschaft einer Familie. Als Familie gehören wir aber auch zu einer Sippschaft, in der sich beide Sippen der Eltern zu einem größeren System von Menschen verbinden, die wir vielleicht nicht aller kennen und die trotzdem bedeutsam für uns sind. In der Regel gehören zur Sippe, unabhängig davon, ob sie noch leben oder schon gestorben sind:
- das Kind und seine Geschwister;
- die Eltern und ihre Geschwister;
- die Großeltern;
- manchmal noch der eine oder andere der Urgroßeltern;
- alle, die für andere im System Platz gemacht haben...
2. Bedingungen für das Gedeihen der Sippschaft
Während in den persönlichen Beziehungen drei Bedingungen für das Gelingen erfüllt sein müssen: die Bindung, der Ausgleich von Nehmen und Geben und die Ordnung, wirken in der Sippe noch weitere Gesetze:
a. Das Recht auf Zugehörigkeit
Jeder, der zu einer Sippe gehört, hat gleiches Recht dazuzugehören, und niemand kann und darf ihm diesen Platz verweigern. Sobald einer in einem System auftritt und sagt: 'Ich habe mehr Recht, in diesem System dazuzugehören, als du', verletzt er die Ordnung und das System ist gestört. Vergißt zum Beispiel jemand eine früh gestorbene Schwester oder einen totgeborenen Bruder und nimmt jemand ganz selbstveständlich den Platz eines früheren Ehepartners ein und geht er oder sie naiv davon aus, er oder sie habe jetzt mehr Recht dazuzugehören als der, der Platz gemacht hat, dann verstößt er gegen die Ordnung. Das wirkt sich dann oft so aus, dass in einer späteren Generation jemand, ohne dass er es merkt, das Schicksal der Person, der die Zugehörigkeit abgesprochen wird, nachahmt.
Das ist die Hauptschuld eines Systems, dass es jemand ausklammert, obwohl er das Recht auf Zugehörigkeit hat, und ein Recht auf Zugehörigkeit haben alle diejenigen, die im vorigen Kapitel aufgeführt sind.
b. Das Gesetz der vollen Zahl
Der einzelne in einem System fühlt sich ganz und vollständig, wenn alle Personen, die zu seinem System, seiner Sippschaft gehören, in seiner Seele und in seinem Herzen einen guten und ehrenvollen Platz haben und ihre volle Würde. Sie müssen alle dasein. Wer sich nur um sein Ich und sein enges individuelles Glück kümmert, fühlt sich nicht vollständig...
c. Das Gesetz des Vorrangs der Früheren
Das Sein wird durch die Zeit qualifiziert. Es bekommt einen Rang und wird strukturiert durch die Zeit. Wer zuerst in einem System da ist, hat Vorrang vor dem, der später kommt. In gewachsenen Beziehungen herrscht also eine Rangordnung, die sich in erster Linie am vorher und nachher orientiert, das heißt, wer früher kommt, ist vorgeordnet, wer später kommt, ist nachgeordnet. Diese Ordnungsprinzip nenne ich die Ursprungsordnung. Daher kommen die Eltern vor den Kindern und der Erstgeborene vor dem Zweitgeborenen.
Mischt sich ein Nachgeordneter in den Bereich des Vorgeordneten, versucht zum Beispiel der Sohn die Schuld des Vaters zu sühnen oder der bessere Ehemann der Mutter zu sein, dann maßt er sich etwas an, was er nicht darf, und auf eine solche Anmaßung reagiert die Person oft unbewusst mit dem Bedürfnis nach Scheitern oder Untergang. Weil es meistens aus Liebe gschieht, wird es uns als Schuld nicht bewusst. Wo immer es ein schlimmes Ende gibt, zum Beispiel das jemand verrückt wird oder Selbstmord verübt, spielen solche Zusammenhänge eine Rolle.
Der Ordnung ist es egal, wie ich mich verhalte
Nehmen wir einmal an, ein Mann und eine Frau haben ihre ersten Partner verloren und beide haben Kinder, und jetzt heiraten sie und bringen ihre Kinder mit in die neue Ehe. Dann kann die Liebe des Mannes zu seinen Kindern nicht über die neue Frau gehen, und die Liebe der Frau zu ihren Kindern kann nicht über diesen Mann gehen. Dann hat die Liebe zum eigenen Kind aus der früheren Beziehung Vorrang vor der Liebe zum Partner. Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz...
Die rechte Ordnung ist schwer greifbar, und man kann sie nicht verkünden. Das ist wetas anderes als eine Spielregel, die man verändern kann. Die Ordnungen sind jedoch nicht verrückbar. Der Ordnung ist es völlig egal, wie ich mich verhalte. Sie steht immer da. Ich kann sie nicht brechen, ich kann nur mich brechen. Sie setzt sich auf kurz oder lang durch, und es ist ein sehr demütiger Vollzug, sich der Ordnung zu fügen, und das Sich-einer-Ordnung-Fügen hat etwas Lebendiges. Das ist keine Einengung. Es ist, wie wenn jemand in einen Fluss steigt, der ihn trägt. Dann gibt es immer noch bestimmte Spielräume. Das ist etwas anderes, als wenn eine Ordnung verkündet wird...
4. Das Sippengewissen
... Das Sippengewissen bleibt uns unbewusst, so wie uns auch die Ordnung, der es dient, im wesentlichen unzugänglich bleibt. Am ehesten erkennen wir sie noch am Leid, das ihre Nichtbeachtung über uns und andere, vor allem über die Kinder bringt. Das Sippengewissen ist eine Teilhabegewissen. Ich vergleiche es mit dem Vogelflug. Es ist nicht der einzelne Vogel, der sich wendet, sondern der ganze Schwarm...
Diese Sippengewissen nimmt sich der Menschen an, die wir aus unserer Seele und aus unserem Bewusstsein ausgeschlossen haben, sei es, dass wir sie fürchten oder verdammen, sei es, dass wir ihrem Schicksal trotzen wollen, sei es, dass andere in der Familie oder Sippe ihnen gegenüber schuldig wurden, ohne das die Schuld benannt, geschweige denn angenommen und gesühnt worden ist, sei es, dass sie behzahlen mussten für das, was wir genommen und bekommen haben, ohne dass wir es ihnen gedankt oder sie dafür gewürdigt hätten."
Und noch einmal:
"Das verborgene Gewissen wirkt wie ein Ordnungs- und Gleichgewichtssinn für alle Mitglieder einer Sippe, der jedes Unrecht an Vorgeordneten später an Nachgeordneten ahndet und ausgleicht, auch wenn diese nichts von den Vorgeordneten wissen und unschuldig sind. Es nimmt sich jener Menschen an, die wir aus unserer Seele und aus unserem Bewusstsein ausgeschlossen haben, und lässt uns keine Ruhe, bis auch sie in unserem Herzen Platz und Stimme haben. Wen dieser Sinn noch berücksichtigt und auf wen er noch wirkt, der gehört auch zur Sippschaft. Daher lässt sich an seiner Reichweite ablesen, wer als Mitglied zu einer Sipschaft gehört.
Bei dem vordergründigen, persönlichen Gewissen erfahren wir uns als Handelnde und frei. Dem verborgenen Gewissen gegenüber sind wir unfrei, denn es verfügt über unser Wohl und Wehe im Interesse der Sippe, so wie das Ganze über einen Teil verfügt."
(aus: Gunthard Weber, Hrsg.: Zweierlei Glück - Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers, Heidelberg 1997, S. 145-151)
Achtes Kapitel
Dieter Kampmeyer hat 2014 unter anderem zu Bernhard Schlinks "Vorleser" seine "Trauma-Konfigurationen" vorgelegt (Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014, S. 31-82). Er weist darauf hin, dass Michael Berg, der Ich-Erzähler, erst 10 Jahre nach Hannas Tod in der Lage scheint, seine Geschichte aufzuschreiben. Und trotz dieser doch beträchtlichen Zeitspanne kommt Kampmeyer zu der Auffassung, dass es Michael Berg durch seine Bilanzierung nicht gelinge, eine "Lösung seiner Verknotung mit Hanna" zu erreichen. Die G e s c h i c h t e ist nicht zu Ende. Dieter Kampmeyer belegt diese These mit einem Traum, den Michael selbst auf die Zeit unmittelbar nach Hannas Tod - während seiner anschließenden Amerikareise - datiert:
"Als ich vom Rollen der Räder und Schaukeln der Wagens müde wurde, träumte ich von Hanna und mir in einem Haus in den herbstbunten Hügeln, durch die der Zug fuhr. Hanna war älter, als ich sie kennengelernt, und jünger als ich sie wiedergetroffen hatte, älter als ich, schöner als früher, mit dem Alter noch gelassener in ihren Bewegungen und in ihrem Körper noch mehr zu Hause. Ich sah sie aus dem Auto steigen und Einkaufstüten auf die Arme nehmen, sah sie durch den Garten ins Haus gehen, sah sie die Einkaufstüten abstellen und vor mir die Treppe hinaufsteigen. Die Sehnsucht nach Hanna wurde so stark, dass sie wehtat. Ich wehrte mich gegen die Sehnsucht, hielt ihr entgegen, sie gehe an Hannas und meiner Realität völlig vorbei, an der Realität unseres Alters, unserer Lebensumstände. Wie sollte Hanna, die nicht englisch sprach, in Amerika leben? Und Auto fahren konnte sie auch nicht." (Schlink, a.a.O., S. 199f.)
Dieter Kampmeyer geht es um den Nachweis dessen, was er "Verknotung" nennt. Ich orientiere mich eher am Begriff der "Verstrickung" aus Bert Hellingers systemischer Psychotherapie (siehe weiter oben, Kapitel 7). Dazu stellt Kampmeyer fest, dass die "Sehnsuchst des Einundfünfzigjährigen" in diesem Traum "metonymisch" zu Wort komme. Der im Alter von 16 Jahren erlittene Verlust durch Hannas Verschwinden habe in seiner Psyche einen "Riss" erzeugt, der nicht überwunden - geheilt - sei:
"Der einundfünfzigjährige Professor und Schriftsteller bekennt sich neben seiner sexuellen auch zu seiner schriftstellerischen Abhängigkeit von Hanna... Er gesteht psychisch schwer verletzt worden zu sein, indem Hanna, nachdem sie ihn von sich abhängig gemacht habe, aus seinem Leben verschwunden sei. Die traumatische Wirkung, die den 'Riss' in seiner Psyche verursacht hat, kann er nicht erinnern. Die Erinnerungen bleiben in der Nähe von Hanna, wiederholen das Zusammensein, vermitteln Bilder ihres Körpers in verschiedenen Lagen und Positionen. Es handelt sich um Erinnerungen, die den 'Riss' in seiner Psyche, der die Verknotung mit Hanna herbeigeführt hat, verdecken. Es kann dem Einundfünfzigjährigen bei der Verschriftlichung seiner Geschichte mit Hanna immer nur um Ereignisse gehen, niemals aber um seine traumatische Verknotung. Und seine Geschichte mit Hanna ist nur eine 'Deckgeschichte', bestehend aus 'false memories', die ihn nicht von Hanna befreien, sondern seinen status quo festigen." (Kampmeyer, S. 44)
Hilde, die Mutter von Ursula und die Großmutter von Michael und die Urgroßmutter von Karla, ist 79 Jahre alt geworden. Sie hat ihre Erinnerungen für sich behalten. Sie hat sie weder aufgeschrieben - insofern hinterlassen - noch hat sie sie in freimütigen Erzählungen preisgegeben. Preisgegeben hat sie spät - fast zu spät - den Namen des Mannes, der Ursulas Vater, Michaels Großvater und Karlas Urgroßvater ist. Sie ist belohnt worden durch eine späte Versöhnung mit ihrer Tochter, die ihr Andenken in Ehren hält. Und sie hat sogar das Glück erlebt, die Brüder ihrer Tochter, die Söhne ihres Geliebten noch kennenzulernen. Erst vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass Werner, der jüngere Bruder meiner Schwester, unsere Mutter danach gefragt habe, wie ihr denn sein und Ursulas Vater sprachlich begegnet sei, ob er gewienert habe? Sie hat das offensichtlich verneint bzw. gemeint, sie erinnere nur einen milden Akzent.
Wie hat Hilde die Verknotung mit Franz gelöst? Sie war ja als Siebzehnjährige nicht nur durch ihre erste große Liebe mit Franz verbunden, sondern sie war verstrickt bzw. verknotet durch die Frucht ihrer Liebe, ihre gemeinsame Tochter Ursula. Hier müssten nun meine Erinnerungen zur Sprache kommen. Und ich will dies auch zu einem späteren Zeitpunkt als Herausforderung annehmen. Zuvor möchte ich aber wenigstens die Frage in den Raum stellen, wie Hilde - ganz in einer ähnlichen Situation wie Michael Berg - das abrupte, von ihr offenkundig auch radikal geforderte Verschwinden Franz Streits aus ihrem Leben erlebt, verkraftet und verarbeitet hat.
Der Fragen habe ich bereits viele und gewichtige gestellt. Es sind sicherlich mehr als rhetorische Fragen. Sie werden also nie mehr in einer authentischen Weise zu beantworten sein:
Aber es gab ja damals nur dein Leben in deiner Familie mit Mutter, Vater und Schwester, weniger behütet als von Erwartungen, Bedrängnissen und Enttäuschungen geprägt:
- Wann bist du „nach Hause“ gekommen? Wann musstest du wieder das harte Brot essen und die schwere Luft atmen, aus der sich Atmosphäre, Klima und Ordnung nährten, in der du fortan mit deiner Tochter den Weg in ein neues, ein anderes Leben gehen konntest?
- Wie viele Chancen hast du liegen lassen in all den Jahren durch den Krieg und nach dem Krieg hinein in die betäubte junge Republik der 50er Jahre, hinein in die Zeit des Wirtschaftswunders und das Heranwachsen Deiner Kinder?
Ja, neben und zu Ursula wuchsen zwei weitere Kinder aus dir in diese Welt, (47) in die Welt der Revolte, in die Welt, in der wir alle kämpften in dieser Familie und um diese Familie; die Familie, die eine große, schier unerschöpfliche Integrationsmaschine zu sein schien, diese Familie, in der sich alle Familien erkennen lassen, sofern es in ihnen Menschen gibt, die Verantwortung dafür übernehmen, wie Menschen in diese Welt kommen, einen Weg in ihr finden – und wie sie sterben.
- Wie viele Chancen hast du liegen gelassen, nein nicht wider besseres Wissen, sondern vielmehr, weil du es nicht besser wusstest?!
- Wie viele Chancen blieben ungenutzt, deiner Tochter das Menschenrecht auf das Wissen um die eigene Herkunft und Ursprung zuzugestehen? Damals, als Ulla verstört und verbittert nach Hause kam, weil die Mitschülerinnen sie ausgelacht hatten, bloß weil deine Tochter unbedarft und naiv auf die Frage des Schulrats nach ihrem Namen geantwortet hatte: „Ursula Witsch, geborene Lahnstein“!
- Damals, als deine Tochter Ursula begann, sich auffällig zu zeigen, auffällig im Sinne von aufsässig, renitent, nicht mehr zu bändigen in ihrer Wildheit, kein sanftes Bärchen, sondern ein lebendiges, quirliges aus sich selbst herauslaufendes, - springendes, tobendes Kind, das mit einsetzender Pubertät keine Ordnung, keine Autorität und keine Regeln mehr respektierte, zu spät nach Haus kam, sich „rumtrieb“ – „schlechten Umgang“ hatte!?
- Damals als die Not groß war und der Weg nach Bensberg (48) in die Klosterschule unausweichlich, „alternativlos“ wurde? Für ein halbes Jahr – dem Terror der Zwangsschwesternschaft ausgesetzt, gedemütigt, zur Ordnung geprügelt und diszipliniert – von Frauen, denen man das Frau-Sein und das Frauliche genommen hatte. Und die deshalb die unleugbaren und unvermeidbaren Reste ihres Frauen-Schicksals, blutige, stinkende Binden den besonders schwer Erziehbaren, so wie deiner Tochter, zur nachhaltigen Reinigung im Waschzuber überließen?
- Damals, als deine Tochter – vor der Zeit in unruhiger, maßloser Erwartung dein eigenes Schicksal bestätigte und erfüllte und sich schwängern ließ – vor ihrem 18. Geburtstag mit 17!!! Und dir dann den Enkel gebar, an dem du deine Mutterinstinkte erneut im Übermaß ausleben durftest und den du zutiefst berührt und geprägt hast, und der dich zur Mutter begehrte?
- Damals, als unser aller sozialer- und im Falle von Willi und mir auch biologischer Vater, das Vatertier, den späten Tod des früh Versehrten starb und Ulla ihre Bemühungen um Licht in ihre Herkunft erneut verstärkte?
- Damals, als du bereitwillig und konsequent der Empfehlung deines Schwiegersohns folgen konntest, der – dir ergeben und treu wie ein Vasall – seine Frau immer gezügelt hat mit dem Verweis, dass all diese Bemühungen ein Schlag ins Gesicht des besten Vaters bedeute, den man sich nur wünschen und vorstellen könne?
- Damals, als deine Jungs begannen an der Überbehütung deines Enkels ihren starken Anteil zu nehmen? Als die Habenichtse begannen aus dem Wenigen das Viele zu schöpfen, um jene Schuld abzutragen, die seit Jahrzehnten im System wie eine Goldmonstranz stand, wie ein Monolith, den jeder sehen, den aber niemand antasten durfte?
- Damals, als eine Ehe nach der anderen deiner Tochter scheiterte und das Begehren des Enkels nach der falschen Mutter begann sich zu verwandeln in eine Haltung, die eigenen Eltern zu maßregeln und die gleichermaßen die unselige Kraft entfaltete, die eigene körperliche und seelische Unversehrtheit anzutasten und zu beschädigen.
- Wie konntest du unsere Mutter werden?
- Wie konntest du uns zu Prinzen machen, zu diesen Generatoren sozialer Integration und beharrlicher und liebevoller Kugellager, die selbst im erdbebenerschütterten Mienenfeld familialer Beziehungswüsten beharrlich und mit verbundenen Augen Wege suchen, auf denen das galaktische Unterfangen der Versöhnung immer noch seinen Lauf nimmt?
- Warum entsteht hier das merkwürdige Motiv, einer „Selbstbezichtigung“, indem die, die da noch kommen sollten, sich irgendwann beginnen als „Prinzen“ zu verstehen?
Unsere Schwester war auf unverhoffte Weise in dieses Leben gekommen und trug die Hypothek der ihr zugeschriebenen „Vaterlosigkeit“ („Vater unbekannt“) bis ins hohe Erwachsenenalter. In ihren Brüdern erfüllte sich eine kaum noch für möglich gehaltene Hoffnung, eine unerfüllte Sehnsucht. Während sich in ihnen eine vorwärtstreibende, kraftvolle Sinngebung manifestierte, blieb Ursula die ewig präsente, sich entfaltende Mahnung einer rückwärtsgewandten Verleugnung. In dem Maß, wie sie begann, ihr väterliches Erbe zu verkörpern, wuchsen innerer Druck und Zwang in dir, ihren Ursprung und eine damit verbundene Erweckung zu verleugnen. Über Deine Schande sollte Gras wachsen und die Erosion des Vergessens und Verdrängens den Humus bilden, aus dem ein neues, unbelastetes Leben wachsen konnte.
Der erste dünne Firn wuchs ja noch in den Jahren nach
der Heimkehr. Vermutlich bist du ja schon Mitte/Ende Juni 1942 von Flammersfeld nach Bad Neuenahr zurückgekehrt, mit bangem Herzen und beraubt um die Liebe deines Lebens.
- Hat deine Tochter dir das Leben gerettet?
- Hast du nach dem „Liebestod“ von Franz, nach der Enthüllung des anderen Franz, der dir damals schon eine brutale Variante des: „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ vermittelte, hast du irgendwann nicht mehr leben wollen?
- Hast du aufgehört zu essen und zu trinken, hast du Löcher in deine zerstörte, um jegliche Hoffnung beraubte Welt gestarrt?
- Hast du auf deine Weise die sanfte, der Erholung dem Aufbruch dienende Melancholie der Wöchnerin zur ausweglosen Depression anwachsen lassen?
- Haben dir die besorgten Schwestern, die von dir verehrte und geschätzte Hebamme in Sorge um dein Baby wieder so viel Pflicht- und Ehrgefühl vermittelt, dass es weiterging?
- Hast du stillen können?
- Hast du deine, nein – eure Ursula annehmen können?
- Hat dir die reine Wonne – eine gesunde, kräftige Tochter – aufgeholfen?
- Wann bist du aus der Betäubung des Schlags, den Franz dir beigebracht hat, erwacht?
- Vielmehr, wann hast du begonnen, die selbst gewählte moralische Haltung, das Ausreißen und Ausmerzen deiner Mensch- und Frauwerdung zu begreifen?
- Und wie hat sich das angefühlt?
- Ist daraus eine dich einhüllende Glocke geworden, die dir immer nur getönt hat, von der Sünde, die sich nun rächt? – über die du selbst zur Verkörperung der Ursünde geworden bist?
- Und wer hat dich aus der Knechtschaft erlöst und den Bannstrahl von dir genommen, die das dumpfe Christentum gegen dich und den mit dir im Bunde stehenden Teufel verhängt hatte?
Neuntes Kapitel
Wie gesagt, es sind rhetorische Fragen, deren Beantwortung aus der Komplexität unseres eigenen Denk- und Fühlsystems nur eigensinnig erfolgen können - gewissermaßen auf der Grundlage all der Erfahrungen, die wir - jeder für sich - in dieser Familie gemacht haben. Mir scheint es oft so, dass allenfalls die Spitze eines Eisbergs die Zugänge zu einem ansonsten vollkommen unserer Anschauung entzogenen Organismus in Erscheinung tritt. Wir verfügen weder über die Zugänge noch über die Instrumente, um diesen Organismus zu erforschen. Wir selbst sind ja untrennbar in diesen Gesamtorganismus eingewoben.
Die heute - am 30.1.2017 - einleitend platzierten Bemerkungen nehmen u.a. Bezug auf Achim Landwehrs Idee der "Chronoferenz":
"Die Frage nach den Chronoferenzen als einer Theorie historischer Zeiten kann ihr Potential erst dann wirklich entfalten, wenn die letztlich endlosen Relationierungen noch deutlich weiter getrieben werden, um die multipolaren zeitlichen Kausalitäten aufzuzeigen, die in einer Gegenwart zusammentreffen können." (161)
Die gegenwärtige Gegenwart wird durch das Jahr 2017 markiert, den 30.1.2017, um genau zu sein. Vor mir liegen sechs Postkarten und ein Prospekt des Luftkurortes Flammersfeld im rhein. Westerwald. Zwei Karten datieren vom 20.7.1960, zwei weitere vom 21.7.1960, eine trägt den Poststempel vom 22.7.1960; die letzte ist abgestempelt am 23.7.1960. Der 20. Juli 1960 war ein Mittwoch. Die Wetteraufzeichnung bestätigen die postalischen Vermerke, dass es kühl und fast ausschließlich regnerisch war (Durchschnittstemperatur: 16,4 Grad im Juli!!!). Ich vermute, dass wir - mein Bruder und meine Mutter - montags nach Flammersfeld gefahren sind. Da wir noch kein eigenes Auto hatten, hat uns ein Freund meines Vaters, Wolfgang Theisen, Taxiunternehmer in Bad Neuenahr, dort hin gefahren. Er kam wenige Jahre später bei einem tragischen Unfall ums Leben. Samstags hat er uns abgeholt. Wir sind gemeinsam mit meinem Vater dann weitergefahren nach Frankfurt in den Zoo. Von den Beteiligten bin ich der einzige Überlebende. Gibt es irgendeinen chronoferentiellen Sinn für diese Erinnerungen? Oder anders gefragt: Gibt es Hinweise auf Relationierungen, die zeitliche Kausalitäten aufzuzeigen vermögen und die in irgendeiner Gegenwart oder Zukunft zusammentreffen? Ja, natürlich gibt es diese Hinweise!
- Flammersfeld ist der Geburtsort meiner Schwester - sie ist dort am 5. Juni 1942 zur Welt gekommen. Zur Welt kommen - zur Sprache kommen?
- Flammersfeld war zu dieser Zeit Standort eines NSV-Entbindungsheimes - indbesondere für ledige Mütter. Im Gegensatz zu den Kirchen gewähren die Nazis gefallenen Mädchen Schutz und Fürsorge. Sie konnten ihre Kinder unter ärztlicher und in Anspruchnahme der Hebammenkunst gebären - und ein Kindelein ward uns geboren!
- Dort - in Flammersfeld - hat Franz Streit seine Tochter Ursula womöglich im Arm gehalten und der Mutter gestanden, dass er bereits verheiratet war und einen Sohn hatte. Vermutlich wusste er im Juni 1942 auch schon, dass der zweite Sohn auf dem Weg war, gezeugt ein halbes Jahr nach seiner Schwester Ursula.
- Franz Streit und erst recht Hilde - mors certa, hora incerta - konnten zu diesem Zeitpunkt vieles fürchten, aber eben nicht wissen, dass Franz bereits ein gutes Jahr später, am 23.9.1943 von der Seite der Täter auf die Seite der Opfer wechseln würde. Hilde hat von Franzens Tod und den näheren Umständen erst nahezu 60 Jahre später erfahren!
Warum fährt Hilde nun um Gottes Willen im verregneten Juli 1960 mit ihren beiden Söhnen, Franz-Josef und Wilfried, für eine knappe Woche dorthin - nach Flammersfeld??? Die Geburt ihrer Tochter Ursula hat sich am 5.6.1960 eben zum achtzehnten Male gejährt. Das "braune Haus", das Entbindungsheim der NSV steht noch.
Redundanzen lassen sich nicht vermeiden - hier geht vieles durcheinander. Ich verweise auf sparring partner als meinen letzten Versuch hinter die Dynamiken meiner Auseinandersetzung mit diesem familiendynamischen Moloch zu gelangen:
Franz war 27 als Hilde ihn kennen und lieben lernte, und er war 29, als er gefallen ist. Hilde ist ihm nicht aus dem Weg gegangen. Sie hat Franz gehen lassen, sie hat ihn weggeschickt. Sie war alleine - in Flammersfeld, in einem Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Paradoxerweise war sie dort in einem geschützten Raum. Im Zuge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde bürgerliche Moral pragmatisch wie programmatisch suspendiert. Auch gefallene Mädchen wurden für würdig befunden, dem Führer Kinder zu schenken. Was in der verpissten und vermieften konservativ-erzkatholischen Heimat auf sie wartete, war davon deutlich unterschieden. Sie hatte schon erfahren und würde weiterhin erfahren, was es bedeutet, einen Bastard in die Welt zu setzen. Die Hilde, die ich später und sehr viel später als meine Mutter kennen gelernt habe, trug in sich die Ambivalenz dieser Erfahrungen. Sie war genauso stark, eigensinnig, bockig und unversöhnlich wie sie liebevoll, geduldig und geradezu unendlich tolerant und empfindsam sein konnte. Sie war eine wunderbare Frau, die einen wunderbaren Mann hatte, der die Ambivalenz geheiratet und gehegt hat. Dieser Mann, der unser aller (Groß-)Vater war - ganz gleich, ob wir aus ihm hervorgegangen sind oder nicht. Ihm erweise ich an dieser Stelle meinen Respekt und die Ehre in liebevoller Erinnerung.
Ich gestatte mir an dieser Stelle einen knappen Exkurs. Inhaltliche Splitter finden sich bereits in den ausufernden Auseinandersetzungen mit den familiendynamischen Konsequenzen aus all diesen Verstrickungen:
Vor mir liegen - wie weiter oben erwähnt - sechs Postkarten aus dem Juli 1960. Hilde befindet sich mit ihren beiden Söhnen, Franz Josef (8) und Wilfried (5) zu einem Kurzurlaub in Flammersfeld - dort wo sie ihre Tochter Ursula am 5.6.1942 zur Welt gebracht hat. Auf einer dieser Postkarten an Theo, ihren Mann, und Ursula, ihre Tochter, vermerkt Hilde am Rande - kaum leserlich und in Kleinstschrift: "Der Herr mit Auto ist mir auch schon begegnet, war mir sehr peinlich." Da sich auf den anderen Postkarten kein weiterer Hinweis befindet, erschließt sich dem unbefangenen Leser nicht der geringste Sinn oder Kontext, in dem diese Randbemerkung wohl stehen mag. 57 Jahre später wird mir zumindest umfassend klar, dass die Prämissen und das Wissen, mit denen ich Hildes Geschichte aufgeschrieben habe, sich nicht annähernd decken mit den Lebensumständen, unter denen Hilde seinerzeit gelebt hat, und die sich erst mit der Zeit relativiert haben mögen - mit der Zeit, in der die Erinnerung an den Vater ihrer Tochter so sehr verblasste und ins Dunkel absank, dass all dies, was mit Franz Streit und somit mit der Herkunft seiner Tochter zu tun hatte, unserem Familienalltag vollständig entzogen war; solange bis die Tochter Licht in dieses Dunkel tragen wollte. Die ersten Nachkriegsjahre, die ersten Jahre ihrer Ehe - auch der Urlaub in Flammersfeld - standen unter dem Vorbehalt jederzeit damit rechnen zu müssen, dass da irgendwann plötzlich ein Mann auf der Bildfläche erscheinen könnte, der sich als Vater der Tochter zu erkennen geben würde. Was latent und erinnerungsträchtig im Verborgenen wirkt - z.B. diese irrsinnige, abgründige Liebe, mit der sich eine Siebzehnjährige einem vollkommen fremden Mann hingibt und schwanger wird - vermittelt (mir) im Nachhinein und immer noch einen existentiellen Schwindel; vielleicht erst heute auch die Vorstellung, dass meine, dass unsere Mutter ständig in der Erwartung gelebt hat, dieser Mann, dem sie als junge Frau erlegen war, könnte plötzlich vor ihr stehen. Zugegeben, dies mag sich zunehmend abgeschwächt haben. Aber auch für Hilde war der Blick erst klar, als ihre Tochter die Identität ihres Vaters unter dem Schutt der Vergangenheit und all der Verleugnung und Beschämung freilegte!
Die Eindrücke, die ich in der Folge wiedergebe, kosten mich ein Stück Überwindung. Sie gehen einher mit der Warnung Hartmut von Hentigs, dass das, was mit bezwingenden Bildern und Klängen in unsere Seele eingehe, sie nicht beherrschen dürfe. Daher zwinge ich mich zur Reflexion. Aber zuvor lasse ich etwas zu, was von frühester Jugend an, mein Bild der Vätergeneration eben auch beeinflusst hat: In meiner ausgehenden Kindheit habe ich Landser-Heftchen gelesen. Ja, dabei handelt es sich um nichts anderes als kriegsverherrlichende Trivialliteratur. Als in den 60er Jahren die ersten langen Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg ausgestrahlt wurden, habe ich sie zum Teil mit meinem Vater gemeinsam angesehen. Mein Vater gehörte zweifellos zu jenen - tief von der Erfahrung des Krieges Geprägten und Gezeichneten -, die ihren Kindern gegenüber allenfalls ihre Betroffenheit über das Erlittene und das zu Verantwortende nur rudimentär und eher still zum Ausdruck gebracht haben. Mein Engagement in KDV-Antragsverfahren hat vor allem auch die (selbst-)kritische und defensive Haltung meines Vaters zum Hintergrund. Die intensive Auseinandersetzung mit aktueller Literatur und (nachgelassenen) Dokumenten im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg drückt sich unter anderem in der anhaltenden Aufarbeitung des Diskurses zur Frage des Referenzrahmens aus (zuletzt anlässlich des Letzten großen Trostes von Stefan Slupetzky).
In der Auseinandersetzung mit Zeitzeugen, insbesondere mit den von mir akribisch aufgearbeiteten, Authentizität eher verbürgenden Nachlässen (z.B.Willy Peter Reeses oder auch Heinrich Gerlachs) nehme ich (auch in mir) unübersehbare Ambivalenzen und Widersprüche wahr. Ich habe z.B. Heinz Otto Fausten ein Jahr vor seinem Tod in Sinzig besucht. Er ist als einer der letzten Zeitzeugen 2014 im Alter von 94 Jahren verstorben. Er hat mir erklärt, wie er als 18jähriger die Panzertransporte auf der Rheinstrecke beobachtet hat. Für ihn war klar, dass er sich freiwillig zum Kriegsdienst melden würde - allein schon, um die Zugehörigkeit zur Waffengattung bestimmen zu können. Heinz Otto Fausten war Mitglied der 1. Panzerdivision und hat den Rußlandfeldzug bis zu seiner schweren Verwundung und dem Verlust eines seiner Beine mit erlebt. Seinem Sohn gegenüber versucht er die Verstrickungen seiner Generation in den Nationalsozialismus begreiflich zu machen. In seinen Schilderungen (Heinz Otto Fausten: "Wir haben uns die Zeit nicht ausgesucht". Schriftenreihe des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., Band 9.) verschweigt er nicht die Faszination, die die Wehrmacht mit ihren Waffengattungen auf pubertierende Jungs ausgeübt hat. Es mag neben den sozialisationsprägenden Gesamteinflüssen, die auf die 20er Jahrgänge einströmten, ein weiterer, bescheidener zeitgeschichtlicher Mosaikstein sein, mit dem sich die anfängliche Begeisterung - oder auch nur das nüchtern-pragmatische Kalkül junger Männer - offenbart. Auch mein Schwiegervater (Jg. 1924) hat mir erklärt, dass er sich 1942 freiwillig zur fliegenden Truppe gemeldet hat, weil ihn die Fliegerei faszinierte und weil aus damaliger Perspektive der Endsieg unmittebar bevorstand. So wirken die Wochenschauberichte siegreicher deutscher Truppen, insbesondere der Panzertruppen und der Flieger auch heute noch als Bestätigung einer unfassbaren Hybris.
Wenn ich allerdings weiter oben schildere, wie sich Paolo Contes Musik 70 Jahre später über diese Bilder legt, die siegesgewisse deutsche Soldaten auf ihren Panzern zeigen - in der offenen Steppe zwischen Wolga und Don -, dann weiß ich, dass alle diese stolzen Soldaten auf ihren Panzern im unendlichen Raum verschwinden werden. Aber sie tun das nicht engelsgleich, sondern sie tun es so, wie Heinrich Gerlach es schildert in: Durchbruch bei Stalingrad. Und sie tun es auch nicht so, wie die alten Elefanten, die in einem tiefen intuitiven Wissen ihre letzten Wege gehen und sich zum Sterben legen. Sie tun es als schuldig gewordene Opfer, die in den Hitze- und Eiswüsten elendig verrecken oder die - wenn sie Glück hatten - im besten Fall, wie Heinz Otto Fausten oder Heinrich Gerlach, die Lehren für ihr künftiges Leben und das ihrer Kinder und Kindeskinder mit nach Haus bringen konnten.
Dies alles gibt keinerlei Raum für irgendwelche Geschichtsklitterungen oder -relativierungen, wie sie kühl kalkulierende, skrupellose Köpfe à la Björn Höcke verbreiten. Ich würde sie gerne der geistigen Verwirrung zeihen. Dies greift aber bei Weitem zu kurz, gerade weil sich die Verführbarkeit einer sich der [kritischen, historischen (Selbst-)Reflexion] verweigernden Gruppe von Menschen in den kühl kalkulierenden demagogischen Haltungen der Populisten widerspiegeln. Und da tröstet die Brechtsche Einsicht wenig, dass sich die nur die dümmsten Kälber ihre Metzger selber wählen. Es hilft halt nur Bildung - und das Erzählen der uns ausmachenden Geschichten!