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Über den Souverän und andere Illusionen - Wählen (und andere Handlungen) im Affekt (ein erster Entwurf im Rückgriff auf den unterkomplexen Zuschnitt der #metoo-Debatte und andere Kontroversen

Teile der Bevölkerung leben ihren Frust in vorreflexiven Affekten aus: Ich habe Angst, ich bin zornig, wütend und frustriert! Eine affektgesteuerte Haltung legen zu Teilen auch Akteure gleichermaßen auf der nationalen wie der internationalen Bühne politischen Handelns an den Tag.

Das deutsche Strafrecht kennt im Übrigen die Ausübung einer Tat im Affekt (Affekttat), was zu einer Strafmilderung nach § 21 StGB oder, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB, zur Schuldfähigkeit führen kann.

Zugegebenermaßen bemüht der folgende Beitrag Vorstellungen über ein Phänomen wie Affektlogik primär in anderen Zusammenhängen. Es handelt sich bei: Kurvenverläufe und #metoo nämlich um eine Auskopplung aus Kurz vor Schluss II – Mosaiksteine zur Rekonstruktion und Modellierung von Familiendynamiken (Koblenz 2022).

Wenn ich dennoch – wie häufig in meinen letzten Blog-Einträgen – dazu neige, auch Wählerverhalten und politisches Handeln unter affektlogischen Kriterien einzuordnen, dann vor allem aus der Annahme heraus, dass Menschen in der Tat vor allem in Krisen- und Stresssituationen dazu neigen, Handlungen sozusagen im Affekt zu begehen. Affekte wie Zorn, Wut, Hass tauchen z.B. immer häufiger in der Rechtfertigung von Wählern auf, die der Ampel eine Lektion erteilen wollen. Die Annahme, dass man ihnen dabei eine Bewusstseinsstörung attestieren könnte, halte ich für nicht zulässig. Schon eher mag man Jan Phillip von Reemtsmas These vom Unaufhebbaren Nichtbescheidwissen der Mehrheit (München 2005) in Erwägung ziehen. Aber auch dies halte ich nicht wirklich für zulässig – siehe:

Was nicht jeder weiß, aber jeder wissen kann.

Kommen wir zurück zu dem nachstehend erneut platzierten Beitrag aus 2021. Mir wurde erst jetzt - beim erneuten Lesen - bewusst, wie sehr vor allem der Untertitel meines Blog-Beitrags signalisiert, den Begriff der Autobiografie zu umgehen und mit den Begriffen Mosaiksteine, Rekonstruktion und (vor allem) Modellierung Vorstellungen von der einen, wahrheitsgetreuen und alternativlosen Gestalt eines Lebenslaufs im sozialen Kontext von Familie(n) in Frage zu stellen. Gleichwohl enthält gerade Kurz vor Schluss II so viele erinnerungs- und sinnträchtige Mosaik-Steine, dass der Nachwelt ein fröhliches Puzzeln beschert wird (mit Nachwelt ist eben in erster Linie meine Familie gemeint – vielleicht mit Ausstrahlungen in die Sippe).

Der nachfolgende Beitrag bedeutet dabei, dass man nachvollziehen kann, wie ein 1952 geborener, alter, weißer Mann sich in der #metoo-Debatte positioniert. Positionierung unter der Maßgabe nicht ständig einem innerfamiliär (hier habe ich vor allem meine Herkunftsfamilie im Blick) häufig genug diagnostizierten bzw. wirkmächtigen don’t ask – don’t tell zu unterliegen, kann für die Nachgeborenen bedeuten, mit Blick auf die Vorfahren – die Ahnen – nicht ständig und ausschließlich rätseln und im Dunkeln stochern zu müssen, sondern zumindest nachvollziehen zu können, was der Papa, der Opa, der Onkel für Ansichten vertreten hat. Dies gilt für alle möglichen Aspekte einer Positionierung – auch im politischen Feld. Vermutlich ist mir damit vor allem deshalb ein drängendes Motiv gegeben, weil ich mich mein Leben lang (innerfamiliär) vom betäubenden Rauschen eines don’t ask – don’t tell beengt fühl(t)e. Die weiter unten angebotene Unterscheidung von einem vorreflexiven Modus des Driftens in einer undurchschaubaren Welt (der Affekte) einerseits und reflexiven Kratzversuchen an den damit gegebenen diffusen Wirklichkeitsfassaden andererseits, gewinnt auf diese Weise eine gewisse Plausibilität. Dabei pendele ich ständig hin und her zwischen der Vorstellung, die einen erlägen einem (vorreflexiven) Unmittelbarkeitswahn aller sozialen Wirklichkeit, während sich andere schlicht weigerten, durchaus erkennbare reflexive Anwandlungen auch in eine kommunikativ nachvollziehbare und diskursfähige Sprachform zu bringen.

Dabei geht es bei alledem weniger um eine Entblößung, aber eben auch nicht um eine wie auch immer bemühte und begründete Abdunklung/Abschattung von eigener Weltsicht und der Kreation damit verbundener Handlungsoptionen.

Das Motiv diesen folgenden Beitrag erneut online zu stellen (und damit einer unseligen Debatte aus meiner sehr subjektiven Sicht noch einmal aufzuhelfen) wird durch einen Eintrag Peter Sloterdijks innerhalb seiner Zeilen und Tage – Notizen 2008-2011 (Suhrkamp, Berlin 2012) befördert.

Prämissen:

Zuvor will ich mir aber einen kleinen Ausflug erlauben, der einen Blick auf die von mir in Erwägung gezogenen und weiter oben bereits angedeuteten Prämissen erlaubt. So kennt beispielsweise das deutsche Strafrecht – wie weiter oben bereits erwähnt – die Ausübung einer Tat im Affekt (Affekttat), was zu einer Strafmilderung nach § 21 StGB oder, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB, zur Schuldunfähigkeit führen kann.

Versucht man eine wissenschaftlich begründete Herleitung solch strafrechtlicher Differenzierungen, könnte man Luc Ciompis Affektlogik (Klett-Cotta, 4. Aufl., Stuttgart, 1994) heranziehen. Auf Seite 81ff. führt Ciompi dazu aus, dass affektives und kognitives Erleben als etwas untrennbar Verbundenes betrachtet werden müssen. Gleichwohl betont er Wesensverschiedenheiten in bestimmter Hinsicht:

„Möglicherweise besteht entwicklungsmäßig zwischen ihnen nicht einfach eine Parallelität bzw. Symmetrie, sondern zumindest […] eine charakteristische und sinnvolle Phasenverschiebung […] Ein Hinweis auf die Existenz solcher Phasenverschiebungen mag auch in der Tatsache liegen, das phylogenetisch das >Fühlsystem< viel früher entstanden ist als das >Denksystem< […] Im Hirn sind bezeichnenderweise die Zentren und Bahnen, die mit den Gefühlen in Verbindung stehen, im Hypothalamus und im limbischen System, das heißt in phylogenetisch außerordentlich alten Hirnregionen lokalisiert. Die kognitiven Funktionen dagegen, und besonders der spezifisch menschliche Intellekt (Denken, Sprache, Bewußtsein) gehören, soweit sie sich lokalisieren lassen, eindeutig den entwicklungsmäßig jüngsten Rindengebieten des Noecortex und ganz besonders der linken Großhirnhemisphäre an.“

Ciompi führt zu Beginn (Seite 81) aus, dass die von ihm vertretene Auffassung der Affektlogik gewissermaßen eine Art Doppelsystem bilde. Es stellt für ihn ein Instrumentarium dar,

mittels welchem wir mit der begegnenden Umwelt umgehen, das heißt sie wahrnehmen (=perzipieren) und uns ihr mit-teilen (=kommunizieren)“.

Mir geht es insbesondere darum, auf eine Differenz hinzuweisen, die eine affektgeladene Perzeption (Wahrnehmung) als ein vor-reflexives Geschehen begreift, dessen Auslöser im limbischen System verankert sind. In einer zivilisierten Welt, die sich an wertebasierten Regeln (Zehn Gebote, BGB, Strafrecht…) orientiert, muss die perzeptive Impulswelt – bevor sie u. U. handlungsmächtig wird – einer reflexiven Rückkopplung unterzogen werden; Freud würde nun das ÜBER-ICH bemühen, das triebbasierte Impulse des ES einer kontrollierten Überprüfung unterzieht, bevor diese vom ICH in angemessene Kommunikation/Handlung übersetzt werden. Geschieht dies nicht in hinreichender, angemessener Weise, kann es zu Affekthandlungen (oder Kurzschlusshandlungen) kommen, deren Ablauf vom Ausführenden nicht beherrscht bzw. kontrolliert wird und die durch intensiv empfundene und meist relativ kurz andauernde Gemütserregungen (Affekte) motiviert ist. Dies können Regungen des Zornes, der Wut, der Angst, des Ärgers, der Eifersucht aber auch solche der Freude, der Begeisterung, der Verzückung sein.

Einen schmutzigen, verwerflichen Sonderfall politischer Kommunikation stellt die bewusste - insofern eben kalkulierte - strategisch und taktisch verwendete Instrumentalisierung von Affekten im politischen Wettberwerb dar. Mag es auch schwerfallen, sich einen Donald Trump oder einen Wladimir Putin nicht als Inkarnation affektgeladener Ressentiments vorzustellen, so stellen sie meiner Auffassung nach doch  in erster Linie rational skrupellos kalkulierende, machtbessesene Politikertypen dar. Im Falle Putins kommt zur moralischen Verkommenheit noch die Verfügungsgewalt über einen politisch-administrativen Machtapparat hinzu, die den von ihm ausgehenden, angstauslösenden Drohgesten eine brutal-reale Grundlage verleiht.

Noch einmal: Unser aller Alltag - und seine Bewältigung - wird weitgehend durch vorreflexives Verhalten geprägt, durch Routinen und Rituale, die uns vom Zwang permanenter Reflexion entlasten. In keinem Falle jedoch darf dies dazu führen, dass jemand Entschuldigung für eine Kommunikation und ein Handeln mit Blick auf andere erfährt, dass in seinen Konsequenzen nicht wenigstens ansatzweise dem Filter einer wertebasierten Reflexion unterliegt - gewissermaßen dem Regulativ eines zivilisatorischen Minimums!

Auch in dem eher #metoo- bezogenen Beitrag geht es um genau diese Begründung eines zivilisatorischen Minimums, das das Ausspielen machtspezifischer Asymmetrien ausschließt. Das Wissen um den Einfluss vorreflexiver Affekte und deren Rückkopplung im Rahmen einer selbstkritischen, reflexiven Grundhaltung bilden sozusagen die Voraussetzungen für die Orientierung an einem zivilisatorischen Minimum.

 

Unter dem 17. März 2011 findet sich in Sloterdijks Zeilen und Tage 2008-2011 auf Seite 615 nun

folgender Eintrag:

„Roland Barthes hatte recht: die Sprache der Liebe kommt über eine Sammlung von Fragmenten nicht hinaus (siehe dazu meine Veröffentlichung aus dem Jahr 2005). Die ärmste Form der Sammlung ist die Reihe von Eigennamen, die zu früheren Amouren gehören. Aus den Namen werden Anekdoten, aus den Anekdoten Kapitel. Das geht so lange, bis der Name auftaucht, von dem man will, daß er nicht mehr bloß ein Kapitel bedeutet. Die erotische Autobiographie ist unmöglich.“

Kurvenverläufe und #metoo (Kurz vor Schluss II - Kapitel 25)

Frau

Du Frau –
wie füllst du den Raum!
Schneidest messerscharf
Konturen in diesen Kosmos.
Markierst ein Terrain
singulär und einzig.
Meine Gedanken
umkreisen diesen Kosmos;
und mein Sinnesseismograph
zeichnet feinsinnig
und kurvengenau
die Parabeln.
Diese Beweise fallen leicht:
Gedanken- und Körperwelten,
die sinnesmächtig agieren,
und sich manchmal begegnen.

 

Man kann vermuten, dass ich Zeit meines Lebens ein ein Augenmensch war:

Von vorne wie von hinten

Wenn meine Augen trunken sind
von so viel Weiblichkeit,
sich verlieren im bestimmten Rund
– von vorne wie von hinten –
feuern die Neuronen,
berechnen
die Parabeln
nanosekundenschnell!
Mit absoluter Präzision,
so, als sei das komplexe
Zusammenspiel der Synapsen
simpel
und nur
k
o
m
p
l
i
z
i
e
r
t

.

Einleitend habe ich geschrieben, dass die Geschichten, die ich erzähle, vielleicht in ihren Details und in ihrer sprachlichen Form durchaus originell sind; dass es sich aber grundsätzlich immer um Alltagsgeschichten handelt. Die subjektiv einseitige Weltsicht, die damit zum Vorschein kommt, konfrontiert sich andererseits durchweg mit dem, was wir dem sogenannten Zeitgeist und erkennbaren historischen Kontexten zuschreiben. Dem unterliegen zweifellos auch eine geschlechterbetonte Sozialisation mit der daraus folgenden sexuellen Identität – einschließlich ihrer Defizite und Versäumnisse. Mir ist allerdings enorm wichtig zu betonen, dass der Erwerb, die Interpretation und der Umgang mit den Essentials und Facetten eines männlichen Selbstbildes mit Anteilen verknüpft zu sein scheint, denen ich lediglich einen vorreflexiven Status zubillige. Ein vordergründiger Beleg für diese Annahme hängt aus meiner Sicht mit der ungeheuren Vielfalt zusammen, die sich heute in den Identitätskrisen und –konstrukten sowohl von Männern als auch Frauen widerspiegeln. Hinzu kommen gesellschaftliche Marker-Begriffe, wie queer, für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht den heteronormativen Normen entsprechen. Betrachtet man diese Gemengelage, erscheint es andererseits auch wieder leicht, den Anspruch auf eigene Identitätsfacetten offensiver zu vertreten und zu kommunizieren:

Gedichte sind das eine, die Wege dorthin das andere. Sind Gedichte vielleicht eine der ambitioniertesten Formen reflexiver Auseinandersetzung mit individuellen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten bzw. Prozessen, so meine ich eben, dass die Wege dorthin angelegt werden und gedeihen in einem vorreflexiven Sumpf von Wahrnehmungen und der je möglichen Auseinandersetzung mit ihren Auslösern und Wirkungen. Emotionale, kognitive und kontextuelle Affekte und Rahmenbedingungen entscheiden über Differenziertheit und Niveau dieser dann reflexiv motivierten Auseinandersetzungen. Nehmen wir eine weitere Kostprobe sprachlich verdichteter Wahrnehmungsimpulse hinzu, wird vielleicht deutlicher, worum es mir geht (es handelt sich im Übrigen um eine Auswahl von Café-Hahn-Gedichten aus den 90er Jahren - hier der Link dazu):

Possessivum (Variationen)

Zunder I

Sie spürt,
dass meine Augen
ihren Arsch erfinden.
Ich spüre,
dass sie fühlt,
wie ich merke,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
meine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Zunder II

Sie spürt,
dass seine Augen
ihren Arsch erfinden.
Er spürt,
dass sie fühlt,
wie er merkt,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
seine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Zunder III

Er spürt,
dass ihre Augen
seinen Arsch erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
 wie sein Arsch
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder bereit liegt.

Zunder IV

Er spürt,
dass ihre Augen
seine Nase erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
wie seine Nase
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Zunder V

Jemand spürt,
dass seine Augen
jemandes Augen erfinden.
Er spürt,
dass er fühlt,
wie er merkt,
dass er spürt,
wie seine Augen
seine Blicke fangen –
wie ein Brennglas,
das Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Es bleibt mir nicht verborgen, dass die folgenden Ausführungen wohl jetzt aufgeschrieben werden müssen oder nie mehr! Dies hängt primär damit zusammen, dass es – zumindest was mich angeht – immer weniger um die Intensität eines gelebten Lebens geht; dies würde vor allem das intensive Ausleben einer lebendigen, neugierigen, triebhaften Sexualität einschließen – in erster Linie auch als konkreter, handlungsmächtiger Vollzug mit all seinen physischen und psychischen Implikationen. Bei dem gesamten Unterfangen, dem ich mich hier unterziehe und aussetze, geht es eher um die gedankliche Durchdringung, das Nacherleben intensiver Erfahrungen, so dass daraus erzähltes Leben wird, ganz nach der Vorstellung Henry de Montherlants, wenn er meint, ein Bursche von achtzehn Jahren, der über alles erhaben sei, sei ein Tor, und ein Mann von siebzig Jahren, der nicht über alles erhaben sei, sei ebenfalls ein Tor. Montesquieu setzt den Akzent ähnlich, indem er bemerkt, dass wir auch im Alter noch den Genuss begehren. Kosteten wir in der Jugend allerdings den Genuss im Verschwenden aus, so im Alter nur im Bewahren.

Verlassen wir einmal eine eher philosophisch inspirierte Weltsicht. Einen Barcode zu entschlüsseln, ist gleichermaßen trivial wie faszinierend. Mit einem Barcodeleser/Barcodescanner liest man die Breite der gedruckten Balken und den dazwischenliegenden nicht eingefärbten Lücken mit einem Laser oder LED ein. Dies geschieht via Reflektionen der hellen und dunklen Abstände.

Mein persönlicher, singulärer Sinnesseismograph liest - einem Barcodeleser ähnlich - aus der unendlichen Flut von Sinnesreizen jene aus, die im Zusammenspiel zuweilen eine kritische Masse hervorbringen. Wichtig ist mir – wie schon gesagt – zu betonen, dass es sich hierbei um ein absolut vorreflexives Geschehen handelt. Da ich heterosexuell gepolt bin, provoziert das Erscheinungsbild einer Frau in mir Reflexe, deren Qualität eine unendliche Variationsbreite repräsentiert. Von angenommenen hundert, tausend oder meinetwegen zehntausend Frauen erzeugt jede ein singuläres Muster, das sich einem Barcode ähnlich von allen anderen Mustern unterscheidet. Einige Male in meinem Leben war ich offen für das beschriebene Phänomen der kritischen Masse. Zu der außerordentlichen Qualität der aufgenommenen Sinnesreize kommt dann unter Umständen ein Interesse, das das Spiel anstößt, das nur zu zweit geht. Julia Onken bietet eine Metapher an, mit deren Hilfe ich für mich verstehen kann, warum mir/uns mit fast siebzig Jahren ein fürsorgliches Finale winkt. In einem fiktiven Interview hat Adrian, mein Koautor bei Kopfschmerzen und Herzflimmern (Koblenz 2005), die Unterscheidungen von Eros, Philia und Agape mit ihr erörtert:

Adrian: Liebe Julia Onken, ich möchte mit Ihnen eine Passage aus Ihrem Buch „Geliehenes Glück – Ein Bericht aus dem Liebesalltag“ erörtern; eine für mich hochinteressante Passage, in der Sie in die Liebessemantik die Unterscheidung von Eros, Philia und Agape einführen. Warum halten Sie diese Unterscheidung überhaupt für sinnvoll?

Julia Onken: Nun, wir sind als Deutschsprechende in der schwierigen Lage, dass wir nur das eine Wort Liebe für verschiedene Arten von Liebe zur Verfügung haben. Mit Hilfe der griechischen Begriffe Eros, Philia und Agape wird eine differenzierte Sichtweise möglich, welche die Unterschiede deutlicher werden lässt und deshalb mehr Klarheit in die eigene Liebessituation bringt. Diese drei Begriffe lassen sich anschaulich auf das Bild eines Berges übertragen, den es zu besteigen gilt. Am Fuße des Berges steht Eros, der unsere sexuellen Bedürfnisse und Wünsche durch Triebenergie in Bewegung setzt. Im Mittelfeld steht Philia als freundschaftliches, wohlwollendes Zugeneigtsein und auf der Bergspitze als Ziel und Krönung thront Agape: die allumfassende Liebe.

Adrian: Man muss also davon ausgehen, dass sie eine hierarchische Ordnung im Blick haben, die das eine abwertet und das andere aufwertet: Eros am Fuße – kriechend sozusagen – und Agape auf der Bergspitze thronend und dann noch irgendetwas dazwischen, niedriger als Agape, aber höher als Eros.

Julia Onken: Nein, so ist das nicht gemeint. Die sexuelle Energie hat eine eminent wichtige Aufgabe. Sie ist es, die uns aus dem Schoße der Familie aufbrechen lässt, die uns zu außerhalb Suchenden werden lässt. Als sehnende Hälften schwirren wir herum und kommen nicht eher zur Ruhe, bis wir von einer anderen Hälfte magnetisch angezogen werden. Im Zustand der Sehnsucht nach Ergänzung sind wir kaum in der Lage, auf größtmögliche Übereinstimmung zu achten. Spätestens wenn der Sog der Sehnsucht nach kurzer Zeit des Zusammenseins nachlässt, beginnen wir, den anderen in seinen eigentlichen Möglichkeiten zu erleben. Aber ohne sexuellen Antrieb würde die Ablösung aus dem elterlichen Haus, aus der Familie in andere zwischenmenschliche Beziehungen nicht stattfinden.

Adrian: Ein komplementärer Begriff im Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung des Eros ist der Begriff der Vorzugsliebe. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Begriff Ähnliches meint, wie es Peter Fuchs mit der Idee einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz formuliert. Arnold Retzer könnte dies mit seiner Vorstellung von Exklusivität meinen. Was meinen Sie mit Vorzugsliebe?

Julia Onken: Eros spielt sich ausschließlich im Bereich der Vorzugsliebe ab. Der Partner wird aufgrund bestimmter Auswahlkriterien ausgesucht. Eros kann mit dem Getroffenwerden von einem Blitzschlag aus heiterem Himmel verglichen werden.

Adrian: Das hört sich ja mächtig klischeehaft an. Damit bestätigen Sie den von Roland Barthes beschworenen und von den anderen nüchtern beschriebenen Mythos der romantischen Liebe.

Julia Onken: Ja, und ich meine das ausdrücklich so: Es sind Naturgewalten, die da im Menschen losbrechen und die kaum unter Kontrolle zu bringen sind… Im Zustand des Verliebtseins fallen meist sämtliche verstandesmäßigen Überlegungen aus: Sie werden von den ungeheuerlichen Eroskräften einfach hinweggespült, damit wir an das Ziel der sexuellen Vereinigung gelangen als Ausdruck des körperlichen Einsseins mit dem anderen.

Adrian: Das hört sich fast ein wenig funktionalistisch, meinetwegen biologistisch an?

Julia Onken: Ich würde das so nicht sagen. Aber in der erotischen Anziehung verkörpert sich ein höchst sinnvolle Einrichtung. Dass die Triebkräfte eine solch gewaltige Kraft über uns ausüben, gibt uns einen gehörigen Stoß, uns auf den Weg zu machen, um zu Liebenden zu werden.

Adrian: Und um in ihrem Bild zu bleiben, ist Eros…

Julia Onken: …die Anlaufstelle am Fuße des Berges als eine An-Triebs-Kraft, die uns anspornt, die uns auf den Weg schleudert, um den Berganstieg zu bewältigen.

Adrian: Das sind Maschinen-Metaphern – „Eros als Anlasser, um den Motor in Gang zu setzen“!

Julia Onken: Ja, ich meine das so. Die Sprache weist unüberhörbar darauf hin, was sexuelle Betätigung ist: „Liebe machen“, präziser kann es eigentlich nicht mehr ausgedrückt werden, denn diese Formulierung beschreibt genau, um was es sich handelt; die Liebe wird gemacht. „Miteinander schlafen“ beschreibt den Gegensatz zur Wachheit. Miteinander eintauchen in die Dunkelheit, sich den Triebkräften überlassen, die nicht dem wachen Bewusstsein des Menschen entspringen… „Geschlechtsverkehr haben“ heißt nicht mehr und nicht weniger als geschlechtlich verkehren… Der Ort der Geschlechtlichkeit ist die unterste Öffnung unseres Körpers und mit dieser geographischen Verortung ist der Weg auf der Körperlandkarte deutlich vorgegeben. Das soll die Sexualität keineswegs abwerten. Ihr wird lediglich der Platz zugewiesen, der ihr zusteht: Anlaufstelle, Anlasser, vitalisierendes Element, das ungeheure Energien freisetzt, um die Liebesfähigkeit zum Blühen zu bringen. Sexualität übernimmt lediglich eine Funktion und ist nicht das Ziel. Wäre sie das Wichtigste, müsste man sich den Körper umgedreht vorstellen. Dann wäre das Geschlecht an oberster Stelle und zwischen den Beinen läge der Kopf.

Adrian: „Steht der Schwanz, schweigt der Verstand!“ – „Dir ist der Kopf wohl in die Hose gerutscht!“ Mit solch ironisch-kraftvollen Bildern sehen sich vor allem Männer konfrontiert in den Irrungen und Wirrungen einer akuten Verliebtheit zur Unzeit. Die Frau eines guten Freundes ist von einer Kollegin einmal mit dem Hinweis getröstet worden, dass man solch „schwanzgesteuerten“ Anwandlungen gegenüber am besten die Ruhe bewahre. In der Regel sei das Erwachen mit Ernüchterung verbunden, wie nach einem kräftigen Kater. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen ja wohl mehr um eine „Fortsetzung“ des Weges verbunden mit einer Aufwärtsbewegung, hinfort aus den Niederungen!?

Julia Onken: Warum so ironisch? Die Fortsetzung des Weges ist Philia als das Zusammenschwingen der Seelen in Sympathie, Freundschaft, menschlicher Wärme, wohlwollendem Zugeneigtsein. Dies ist eine konsequente Weiterführung aus der gegenseitigen erotisch-sexuellen Mann-Frau-Bezogenheit in den Bereich der Freundschaften. Sie ist eine Verfeinerung und Weiterentwicklung der körperlichen Liebe. Bei den meisten Menschen zeigt sich ein natürliches Bedürfnis, die geschlechtliche Mann-Frau-Bezogenheit (natürlich auch Mann-Mann und Frau-Frau) zu erweitern und in den Bereich des menschlichen Miteinanders zu gelangen. Wenn das nicht möglich ist, weil sich einer der beiden weigert, wird es früher oder später in der Beziehung zu Problemen kommen.

Adrian: Heißt das, dass irgendwann die Sexualität vollkommen in den Hintergrund treten kann – und vor allem, wie gehen wir mit Zugeneigtheiten außerhalb der Kernbeziehung um? Gibt es eine Chance, in einer liebevollen Kernbeziehung zu leben unter dem Einfluss eines wohlwollenden Zugeneigtseins und gleichwohl sexuelle Außenkontakte zu pflegen? Jürg Willi hat in der ersten Auflage der Paarbeziehung einmal davon gesprochen…

Julia Onken: Man sollte sich aus meiner Sicht immer Folgendes klarmachen: Wenn wir uns z.B. außerhalb unserer Beziehung in einen anderen verlieben und plötzlich das Gefühl haben, wir seien zur allumfassenden Liebe fähig und könnten ohne Weiteres noch einen anderen dazu lieben, dann ist das ein Irrtum. Solange Eros mit hineinspielt, befinden wir uns nicht in der Agape, sondern im Eros.

Adrian: Aber Sie meinen, zur Sexualität könne – ja müsse – eine weitere Qualität dazukommen?

Julia Onken: Ja, davon bin ich zutiefst überzeugt, nämlich das „Sich-freundlich-Zugeneigtsein“, das gegenseitige Wohlwollen. Das heißt, nicht die erotische Anziehung bleibt ausschlaggebend, sondern das Seelische rückt zunehmend in den Vordergrund. Sicherlich ist es kein Zufall, dass der Mensch im Laufe des Älterwerdens die äußeren Reize allmählich verliert. Denn er benötigt diese Signale nicht mehr, um auf sich aufmerksam zu machen und das andere Geschlecht anzulocken. Die Haare als Kopfschmuck werden in Farbe und Volumen unauffälliger, die pfirsichstraffe Haut wird faltig, die Figur verliert die geschlechtliche Ausprägung. Alles deutet darauf hin, dass wir diese Signale nicht mehr nötig haben, da an die Stelle der äußeren Reize nun die Schönheit einer reifen Seele tritt.

Adrian: Sie schildern in Ihren Ausführungen, dass es Menschen gibt – mehr Männer als Frauen –, die ein Leben lang am Fuße des Berges herumrennen.

Julia Onken: Ja, sie drücken unentwegt den Anlasser, hüpfen ein paar Meterchen weiter, bis ihnen der Motor wieder still steht und sie erneut den Anlasser betätigen müssen. Sie sind pausenlos auf der Suche nach sexueller Aktivität und verbrauchen ihre ganze Energie horizontal, ohne dem vertikalen Impuls nach oben zu folgen.

Adrian: Also, Ihre Bildersprache in allen Ehren, aber das bleibt mir doch zu holzschnittartig. Es mag doch Lebensentwürfe geben, die der Sexualität einen größeren Stellenwert einräumen, ohne dass diese Menschen zu asozialen Kreaturen verkümmern. Viele kulturelle Leistungen, die auch anderen Menschen zugutekommen, entstehen doch auf diese Weise und nicht dadurch, dass man sich im freundlichen Einander-Zugeneigtsein abends auf dem Sofa vor dem Kamin begegnet.

Julia Onken: Ich bleibe dabei! Die Liebesenergie drängt als natürlicher Wachstumsprozess stets nach oben wie Pflanzen und Bäume, die sich nach dem Licht richten. Dieser Bewegung nicht zu folgen ist eine fundamentale Weigerung, sich in die Aufgerichtetheit zum wirklichen Menschsein zu entwickeln. In der Liebesbeziehung zeigt sich Philia als Vertiefung und Überschreitung des Geschlechtlichen, in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen als liebendes, einfühlsames Wohlwollen.

Adrian: Sie haben vorhin schon die „Agape“ erwähnt – auch noch einmal deutlich in Abgrenzung zum Eros. Was kann es denn jetzt noch mehr geben als die differenzierten Haltungen von Eros und Philia?

Julia Onken: Agape ist das Gegenteil von Eros. Während wir im Erotischen einen aus vielen heraussuchen, ihn allen anderen vorziehen, schließen wir in Agape nichts und niemanden aus. Denn Agape orientiert sich nicht an besonderen Vorzügen, sondern wertschätzt und liebt das göttliche Prinzip, den göttlichen Funken in jedem, ungeachtet der äußeren Merkmale. Eros ist die Vorzugsliebe, die andere ausschließt, Agape ist die umfassende Liebe, die alles vereint. Adrian: Und wenn Sie nun diese drei Spielarten – oder besser Dimensionen – der Liebe noch einmal zueinander in Beziehung setzen sollten und die Unterschiede dabei auf den Punkt bringen könnten!?

Julia Onken: Nun gut: Eros ist dabei der zündende Funke, der uns lehrt, uns ganz zu verschenken, der uns in die Knie zwingt, um das ständige Sehnen nach Verschmelzung zu stillen. Er lässt uns für Momente in das Gefühl des umfassenden Einsseins eintauchen, und der Pulsschlag zieht sich auf einen einzigen Punkt zusammen, um im anderen zu erblühen. Es ist die körperliche Lektion, sich hinzugeben, sich wie eine Blume dem Licht zu öffnen, um das große Glück des Einsseins als Grunderfahrung wieder zu beleben. Eros ist die Öffnung ins Körperliche, er durchdringt uns aus den Urtiefen. Er steigt in urgewaltigem Sehnen aus den dunklen Ufern unseres Leibes, wo er herzwärts weiterströmt und sich zur Philia verfeinert. Schritt für Schritt führt uns die Philia zielsicher weiter und durchdringt unseren Geist als kristallklare Quelle, bis sich das Herz weit öffnet und aufbricht in den Jubel allumfassender Liebe. Und jeder und jede, der uns als nächste/r begegnet, wird in unsere weit ausgebreiteten, liebenden Armen aufgenommen: „Siehe, der Mensch!“

Dass ich nun mit fast siebzig Jahren – wie Henry de Montherlant meint – über alles erhaben sei, das klingt mir ein wenig zu pathosgeschwängert. Gleichwohl bestätigt Julia Onken mit ihren Unterscheidungen etwas, was ich aus der Perspektive eines Mannes zutiefst bestätigen kann. Es geht in diesem Kapitel exakt um die Bestätigung von Phänomenen, die von Julia Onken mit dem Getroffenwerden von einem Blitzschlag aus heiterem Himmel oder der Urkraft von Naturgewalten gleichgesetzt werden. Es geht aber auch darum – mit Blick auf die Chance auf ein Fürsorgliches Finale (Detlef Klöckner) –, den Entwicklungsraum zu beschreiben, den sowohl Männer als auch Frauen für sich beanspruchen und kultivieren können. An dieser Stelle zwingt sich die Auseinandersetzung mit einer zu Teilen unsäglichen #me-too-Debatte auf; in Sonderheit mit den Exzessen, die vor allem ein sinn- und sinnesentleertes Hygiene-Sprech zur Folge haben:

Fünfundzwanzig Jahre LehrerInnenausbildung am Uni-Campus Koblenz – circa 250 bis 300 Seminarveranstaltungen und Vorlesungen; allein daraus resultiert ein Teilnehmerkreis von mehr als 10.000 Studierenden; mehr als 10.000 Staatsprüfungen, Modulabschlussprüfungen; tausende von Staatsarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten, an mehr als 600 Tagen Sprechstunden, zwischendurch Prüfungsberatungen. Im Lehramtsbereich summieren sich die persönlichen Beratungs- und Betreuungskontakte auf eine nicht mehr wirklich nachvollziehbare Zahl von zehn- bis fünfzehntausend, wovon 70 bis 80 Prozent Frauen waren. Der erwähnte Sinnesseismograph war im Dauerbetrieb, in der Regel reine Registratur im Sinne von Routine – tausende und abertausende von Adressen, Profilen, Gesichtern, Körperwesen, die eine besondere Arbeitsatmosphäre begründen, winters wie sommers. Zum Sommer gibt es eine delikate Randbemerkung, die weiter unten näher beschrieben wird.

Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll (Peter Sloterdijk). Diese Diskretion gilt auch in Selbstanwendung.  Sie führt hier allerdings zu einer Paradoxie, die – wie gesagt – nur dadurch vermeintlich aufgelöst wird, dass man die seismographischen Aufzeichnungen und Ausschläge in einen Routinebetrieb überführt  und vor allem ihn (in der Regel) der privaten und vor allem jeglicher öffentlichen Kommunikation entzieht. Die diskrete, unvermeidbare, seismographisch sensible Buchführung kommt einer umfangreichen Registratur gleich. Sie vollzieht sich jeweils in Bruchteilen von Sekunden und wird im Alltagsbetrieb der Seminare, Beratungen, Prüfungen - allein schon aus Professionalitätserfordernissen - ausgeblendet. Aber selbst diese Ausblendung kommt eher einer fragwürdigen Autosuggestion gleich – möglicherweise einem Akt der Selbsthypnose – der in seinen tatsächlichen subtilen Auswirkungen nicht abzuschätzen ist - und vor allem: sie gelingt nicht immer. Auch hier bleibt mir nur der Verweis auf Peter Sloterdijk:

„Weil die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis (der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems) einen uneinholbaren Vorsprung, vor seinen Selbstrepräsentationen im Bewusstsein besitzt, ist evident, dass Selbstbezüge immer einen gewissen funktionalen Sinn haben – und dies in aller Normalität und weit vor allen Problemen maligner (bösartiger) Selbstbetonung. Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuss prädisponiertes Ego, das als zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mit allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es existieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder misslungene Autopoiesen, die – wenn man ihnen abhelfen will – in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 128).“

Dies bedeutet in keiner Hinsicht eine Absolution – vor allem männlichen Fehlverhaltens (eine Definition folgt weiter unten im Anschluss an Catherin Deneuve u.a.). Ich greife einmal – auch um die eigene Verstrickung deutlich zu machen – auf ein weiteres Beispiel aus Sloterdijkscher Feder zurück. Es geht darum, den Zusammenhang zwischen seismographischer Registratur und reflexiver Kommentierung zu verdeutlichen (ich entnehme das Beispiel: Zeilen und Tage – Notizen 2008-2011, Berlin 2012, S. 37f.). Unter dem 3. Juni, Amsterdam findet sich folgender Eintrag:

„Mittags im Sea Palace. Rene zitiert einen Satz von Konfuzius: ‚Mit siebzig konnte ich den Regungen meines Herzens folgen, ohne jemals eine Sünde zu begehen.‘ Später sah ich an der Centraal Station eine junge Frau, bei deren Anblick sich der Wunsch einstellte, siebzig zu sein, der Regung wegen. Für das übrige wäre vierzig die Obergrenze gewesen. Ich fragte mich nur, was mit dem weiblichen Selbstbewusstsein nicht stimmt, wenn ein Wesen mit einem derart evangelischen Gesicht ein solches Amok-Decolleté zeigt.“

Hier entsteht kein Streit um die Frage, wer zuerst da war: das Ei oder die Henne? Sieht man einmal ab, davon, dass es einer Henne bedarf, um ein Ei hervorzubringen, geht es hier zunächst einmal um die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis, die einen uneinholbaren Vorsprung vor seinen Repräsentationen im Bewusstsein besitzt; das Hähnchen ist gewissermaßen im Ei bereits genetisch programmiert und weiß, wann es krähen muss (sofern es nicht im Schredder landet). Sloterdijk nimmt das Mörderdecolleté (sinnlich-vorreflexiv) wahr und in Bruchteilen von Sekunden – aber eben erst nachher – stellt sich seine intellektuell (fragwürdige) Kommentierung ein – fragwürdig, weil man sich fragen kann, ob hier tatsächlich - wie Sloterdijk unterstellt - „mit dem weiblichen Selbstbewusstsein etwas nicht stimmt“, oder ob Sloterdijk sekündlich klar ist, dass ihm zur Würdigung des sinnesmächtigen Reizes nur diese bescheidene Form der (sarkastisch-ironiegeschwängerten) Kommentierung bleibt (die ja unendliche viele kulturelle Implikationen und daraus folgende Interpretationen offenbart – allein das  e v a n g e l i s c h e  Gesicht im Zusammenhang mit einem Amok-Decolleté wirft einen Fragenkatalog auf - aber eben erst nachher!).

Mir genügt dieses Beispiel, um mir meine eigene Situation in einem reizgefluteten – und zuweilen -überfluteten – Kontext noch einmal zu verdeutlichen. Einem weißen, älteren Mann bleibt zunächst einmal nichts anderes übrig, als sich in der ausufernden, komplexen #me-too-Debatte zu positionieren. Ich zitiere dazu aus dem aktuellen Wikipedia-Beitrag:

"Weiter gingen rund 100 Intellektuelle, Künstlerinnen und Journalistinnen, wie Catherine Deneuve oder Ingrid Caven, die einen offenen Brief unterzeichneten, den Sarah ChicheCatherine MilletCatherine Robbe-GrilletPeggy Sastre und Abnousse Shalmani verfasst hatten und den die französische Tageszeitung Le Monde am 9. Januar 2018 veröffentlichte. In diesem warnten sie vor dem 'Klima einer totalitären Gesellschaft'. Die ersten Sätze lauten: 'Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.' #MeToo habe eine 'Kampagne der Denunziation und öffentlicher Anschuldigungen' ausgelöst – die Beschuldigten seien auf eine Stufe mit sexuellen Aggressoren gestellt worden, ohne antworten oder sich verteidigen zu können. Als Folge konstatierten sie eine 'Säuberungswelle', von der insbesondere Kunst und Kultur betroffen sei, was letztlich zu einer unfreien Gesellschaft führen könne. Sie befördere zudem einen Puritanismus und spiele so den Gegnern der Emanzipation in die Hände. Zwar sei es legitim, die Formen sexueller Gewalt gegenüber Frauen zu vergegenwärtigen. Eine beharrliche oder ungeschickte Anmache sei jedoch kein Vergehen – schließlich gäbe es keine sexuelle Freiheit ohne eine 'Freiheit, jemandem lästig zu werden'."

In diesem Wikipedia-Beitrag werden selbstredend die Fälle Harvey Weinstein und Dietmar Wedel erwähnt: „Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.“ Gerichte sollen darüber befinden (und haben darüber befunden), ob jemand strafwürdige Handlungen begangen hat. Im Geschlechterverhältnis habe ich selbst phasenweise fragwürdig agiert (siehe weiter oben); aber immer meilenweit entfernt von irgendwelchen strafwürdigen Haltungen.

Summa-summarum gehe ich soweit zu behaupten, dass die vorreflexive Affizierung evolututionsbezogen alternativlos ist. Die reflexive Auseinandersetzung als Handlungsvoraussetzung ist in einem zivilisierten, kulturgeschwängerten Kontext in der Regel gleichermaßen alternativlos - auch wenn manche meinen, im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt (wie sehr man dabei auf des Messers Schneide wandeln kann, wird in Kapitel 1 und in den Kapiteln 20-21 eindrucksvoll sichtbar.

Kommen wir noch kurz auf das Phänomen der kritischen Masse zu sprechen. Als vorreflexive Affizierung kommt sie gewiss häufiger vor, als dass sie auch handlungsmächtig würde; genau in diesem Sinne ist Sloterdijks oben geschilderter Reflex einzuordnen. Solche Phänomene bleiben in der Regel folgenlos – wie ein fernes Wetterleuchten. Dass sie eine Handlungsmacht hervorbringen – und zwar wechselseitig –, die nicht nur im Begehren und im Begehrensbegehren endet, sondern über ein langes Leben den Wunsch nach einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz zur Folge hat, das ist eher singulären Charakters. Erst wenn dies wirklich gelingt – mit allen Höhen und mit allen Tiefen –, winkt jene Perspektive, an die ich im vierten Brief an Claudia mit Karl Jaspers erinnert habe (siehe: Die Mohnfrau, S. 120):

„Dann geht der Weg durch die Lebensalter. Die vitale Schönheit der Jugend schwindet dahin. Aber nun, in der lebenswährenden Erscheinung existentiell geprägt, liegt in der Schönheit des Alters mehr als nur die erinnerte Jugend. Es gilt Kierkegaards Satz: Die Frau wird mit den Jahren schöner. Aber es sieht nur der Liebende.“

Es tut mir leid, dass der Freund aus Kapitel 20 sich diese Erfahrung vorenthalten muss. Im Vergleich muss es sich wohl schal und fade anfühlen, wenn die letzte Phase der Leidenschaft, das Fürsorgliche Finale auf einmal in der Luft hängt, weil man sich des Fundaments beraubt und sich der Phasen  der Verzauberung – der dyadischen Verliebtheit – der klärenden Einschlüsse und Ausschlüsse – und der Intimen Dialoge nicht mehr erinnern mag. Die UrParabeln bleiben geborgen im gemeinsamen Weg, und alle Eskapaden verblassen im Zwielicht der Erinnerung.

Jedenfalls scheint mir eine der zentralen Schlussfolgerungen aus alledem zu sein, dass weder
im Krieg noch in der Liebe - und erst Recht nicht in der Politik - alles erlaubt sein darf.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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