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Wo ist die Zukunft hin? ZEIT-Dossier (21/24, Seite 11-13) von Henning Sussebach

Auf seiner Reise durch Deutschland macht Henning Sussebach unter anderem Station beim Ehepaar Marina und Herfried Münkler. Ganz nebenbei fordern die Münklers, das Bildungssystem zu reformieren: „Das dreigliedrige Schulsystem abschaffen, die Klassengrößen halbieren, die Lehrpläne von >Überfrachtung< befreien.“ Willkommen in einem seit Jahrzehnten geforderten Umbruchsdenken, dass nun wirklich nicht neu ist.

Aber ich erwähne die Münklers hier, um auch noch einmal kurz innezuhalten und nach einem halben Leben meinen Wechsel von der SPD zu den Grünen zu bedenken: Die Münklers bemerken, das sich viele ihrer Forderungen auf ein Oben richten, Forderungen an den Staat sind:

Keine richtet sich an das eigene Ich. Dabei ist Zukunft etwas, das alle Menschen ständig erschaffen, auch durch Nichtstun. Zukunft ist nichts Feststehendes, das man erreicht oder verpasst. Es gibt Milliarden möglicher Zukünfte. Nur droht das gerade in Vergessenheit zu geraten.“

Jeder wird wissen, spüren, ob er sich die Kritik der Münklers zu Eigen machen muss, inwieweit man die Demokratie eher als Supermarkt begreift: „Da geht man rein, und wenn einem ein Produkt gefallen hat, kauft man’s beim nächsten Mal wieder. Sonst wählt man ein anderes. Findet man nichts, randaliert man möglicherweise.“

Es ist die Rede von kommunalen Bürgerräten, die Probleme vor Ort diskutieren und einer Lösung näherbringen. Wichtig erscheint mir folgende Passage, ohne deren Verständnis und nachhaltige Übernahme in unser Langzeitgedächtnis und –tun unsere Demokratie den Bach runter gehen wird:

„Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen. Ohne die Visionen, die Errungenschaften, die Mühen unserer Ahnen würden wir heute nicht leben, wie wir leben. Kaum etwas von dem, was für uns normal wirkt, war früher selbstverständlich. Es wurde erkämpft in blutigen Revolutionen, erforscht in einfachsten Laboren, erstritten gegen gültiges Gedankengut. Jetzt nichts zu tun, wäre undankbar gegenüber den Vorfahren und nachlässig gegenüber den Nachkommen.“

Und dann gibt es im Dossier neben vielen anderen noch Fayssal Harchaoui... lest selbst...

Muttertag oder: Was ist eine gute Mutter?

Ja, es ist mal wieder Muttertag – von den einen als Zeichen geschätzt, von den anderen als Zumutung geächtet, ja geradezu verachtet. Was den einen die Bindung, die Erinnerung an die Mutter zu einem Schatz macht, macht sie für die anderen zu einer Last, zu einem unabwendbaren schicksalsmächtigen Umstand, den man leider nie los wird.

Ich habe schon darauf gewartet, wie denn die von mit geschätzte ZEIT in diesem Jahr einen Weg finden würde, dem Muttertag Rechnung zu tragen. Wendet man diese Erwartung schlicht in die Frage, wie werden Kindern ihren Müttern gerecht und wie wird eine Gesellschaft den Müttern gerecht, endet man flugs in der Falle danach zu fragen, was denn eine Mutter ist, was eine gute Mutter ist, wie Mütter sich selbst sehen, wie sie in der (post-)modernen Gesellschaft mit der Doppelrolle umgehen, die eigene Identität zu begründen, zu finden, sie möglicherweise mit Mutterschaft zu vereinbaren. So richtig herausfordernd gerät eine Auseinandersetzung aber erst, wenn man das generative Zusammenspiel mit dem Faktor Bildung reflektiert.

Du hast noch dein ganzes Leben Zeit das herauszufinden

Dieser Beitrag ist ein besonderer - er ist meinen beiden Nichten gewidmet. Mehr noch: verdankt sich die folgende gleichermaßen wundervolle wie wundersam-berührende Geschichte der jüngeren meiner Nichten - Kathrin Witsch -, so klingen in ihr Botschaften an, die uns Alte - gewiss aber auch die Jüngeren - gleichermaßen verzaubern wie zur Besinnung ermuntern. Selbst wenn man sich eingestehen mag, dass einige Formulierungen und szenische Rahmungen sanft an Hedwig Courths-Mahler erinnern, entwirft die siebzehnjährige Autorin ein philosophisches Hintergrundrauschen, das so überaus realitätsnah eine existentielle Ausgangslage an uns heranträgt. Die damit ausgelösten Lernchancen sind beachtlich, nehmen sie doch das existentiell Wesentliche auf literarische Weise in den Blick.

In diesem Blog ist in den letzten Beiträgen viel die Rede von der Kantschen Lektion: Mir selbst kommt es so vor, dass ich 72 Jahre alt werden musste, um die Idee endlich fassen zu können, dass mein Antrieb zur verdichteten, prägnanten lyrischen Form sich dem Bedürfnis verdankt, einen Angelpunkt für die eigene Position zu finden. Unser aller Bemühungen geschahen und geschehen in einem (historischen) Kontext, der uns (auch uns Nachgeborenen) auferlegt(e) im Sinne der umstrittenen kantischen Lehre vom radikal Bösen zu unterscheiden, ob jemand sich für das Böse entscheidet, weil es böse ist, und eben nicht nur, weil man es fälschlicherweise für gut hält (siehe Boehm/Kehlmann, der bestirnte Himmel über mir – Ein Gespräch über Kant, 2. Auflage, Berlin 2024, Seite 75). 

Die siebzehnjährige Autorin der folgenden Geschichte stellt diese Frage so deutlich und unumwunden, dass es mich beim Wiederlesen nach 18 Jahren gleichermaßen beeindruckt und verblüfft.

In meinen Papierhalden stoße ich heute Morgen auf einen Literarischen Kochkurs aus dem Jahr 2006. Im Kompendium des Kurses, der wohl am Are-Gymnsium abgehalten wurde, fällt mir ein Beitrag auf – die Autorin ist eben erst 17 Jahre alt. Es ist meine Nichte, Kathrin, die mir zeigt, wie sehr eine fundierte Bildung bereits den Kompass generiert, der uns ein Navigieren durch ein immer verrückter, schneller, chaotischer, brutaler prozessierendes Weltgeschehen erlaubt. Wenn sie demnächst eine Zeit lang ihre beruflichen und auch lebensbestimmenden Erfahrungen an der Wiege der Menschheit suchen und machen wird, kann ihr der im folgenden Text markant in Erscheinung tretende Kompass gewiss weiterhin ein zuträgliches, gewiss zuweilen auch hartes Navigieren am Wind (an den Stürmen) des Weltgeschehens erlauben.

Im folgenden der Originaltext - nur die Dialoge habe ich farblich abgesetzt, um den Dialogen leichter folgen zu können.

Elisabeth Kolbert: Das sechste Sterben

Jetzt mal was ganz, ganz anderes!

Menschen, die herkunftsmäßig unter bibliophiler Knappheit gelitten haben, bilden in extremen Fällen – wenn die Zugänge und Mittel es erlauben – eine Sammelwut aus; man bezeichnet sie auch als Hamsterei. Um zu verhindern, dass ihnen jemals der Lesestoff ausgeht, sammeln sie Druckabsonderungen an, sofern sie in irgendeiner Hinsicht ihre Interessen berühren. Auf diese Weise füllen sich Regale, bilden sich Zeitschriftenstapel; kurzum: alles, was in einer digitalen Welt schlichtweg einen Anachronismus darstellt.

Aus einem dieser Stapel zog ich heute eine Ausgabe des Sterns – die Nr. 29 vom 9.7.2015. Irgendein Beitrag aus dieser Nr. 29, die auf dem Cover Helene Fischer zeigt, muss mich dazu veranlasst haben, das Lesezirkelexemplar - vermutlich aus der Wartezone einer Arztpraxis - mitgehen zu lassen. Ich blätterte das Heft durch, und die Doppelseite 66/67 zeigt das Porträt einer Frau, halbsitzend/halbstehend vor einer Bücherwand. Der Beitrag kündigt sich mit dem Titel an: Wir sind ein verrückter Unfall der Evolution – Der Mensch zerstört in irrwitzigem Tempo den Lebensraum von Tieren und Pflanzen. Sagt die Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert, die für ich Buch >Das sechste Sterben< gerade den Pulitzer-Preis erhielt

Das lyrische Klärwerk (in progress)

Die Projekte häufen sich - sie sollten alsbald auch eine lesbare Gestalt annehmen. Der größere Zusammenhang, in den ich dieses Projekt integrieren werde, nimmt bereits Konturen an.

Es hat 72 Jahre gedauert, bis zu der Idee vorzudringen, dass mein Antrieb zur verdichteten, prägnanten lyrischen Form sich dem Bedürfnis verdankt, einen Angelpunkt für die eigene Position zu finden. Meine Bemühungen geschahen und geschehen in einem (historischen) Kontext, der uns (auch uns Nachgeborenen) auferlegt(e) im Sinne der umstrittenen kantischen Lehre vom radikal Bösen zu unterscheiden, ob jemand sich für das Böse entscheidet, weil es böse ist, und eben nicht nur, weil man es fälschlicherweise für gut hält (siehe Boehm/Kehlmann, der bestirnte Himmel über mir – Ein Gespräch über Kant, 2. Auflage, Berlin 2024, Seite 75).

Der Angelpunkt war früh gesetzt mit der Idee, man müsse den Menschen als Zweck statt als Mittel  betrachten. Der Kantsche Universalismus – trotz aller menschlichen Verfehlungen des Herrn Kant – wirkt heute, verbunden mit seinem dreihundertsten Geburtstag angesichts des rasanten Wiederauflebens von Gewalt als Mittel der Politik entschieden nach, weil die kategorische Falschheit von Handlungsoptionen dann greifbar wird, wenn man dieser Idee folgt, die Menschen nicht als Mittel, sondern als Zwecke zu betrachten (was im Übringen nicht bedeutet, dass man selber dieser Idee in seinen alltäglichen Handlungen auch nur nahekommt):

„Man muss über die eigenen und ihre Interessen hinausblicken und sein Verhältnis in einer Gesellschaft freier und deshalb gleicher Wesen begreifen.“ (siehe a.a.O., S. 73f.). So schreibt Kant:

„Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen zu unterschieden; und es gibt gar keine verschiedene Arten von Menschen.“ (Immanuel Kant, >Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse<, Akademie-Ausgabe der Schriften Kants, Band 8, S. 99f. zitiert nach Boehm/Kehlmann, a.a.O., S. 69)

Und Boehm/Kehlmann fragen an gleicher Stelle, wie jemand, der diesen eben zitierten Satz geschrieben hat, immer noch rassistische Anschauungen haben konnte.

Vermutlich ist dies auch einer der Begründungen für die Zitation Jura Soyfers auf der Vorsatzseite des von Boehm und Kehlmann veröffentlichten Buches, wo es heißt:

   
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