Lass uns miteinander reden - Adrian im Gespräch mit Josef oder: Hallo ist da jemand?
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Es gibt übrigens an anderer Stelle ein interessantes Zwiegespräch zwischen Adrian und Josef über's Büchermachen. Da erfährt man einiges über die Motive, die auch für Josefs Bloggen insgesamt aufschlussreich sind.
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Wir schreiben den 8. Januar 2021. Adrian - bist Du das wirklich??? Seit mehr als vier Jahren habe ich nichts von Dir gehört???
Adrian: Tut mir leid, lieber Josef. Du weißt doch, warum bin seinerzeit abgetaucht bin. Wir können offen reden. Meine Zeit als verdeckter Ermittler und agent provocateur ist zu Ende. Da müssen jetzt andere weitermachen. Unter meiner Mitwirkung ist es immerhin gelungen, die Spaltung und Selbstzerstörunge der AfD ein gutes Stück voran zu treiben.
Josef: Okay!? Und was machst Du jetzt?
Adrian: Ich hab mir erst einmal eine Auszeit verordnet. Sich über mehrere Jahre im rechten Milieu zu bewegen, hat mich extrem gefordert. Du kannst Dir nicht annähernd vorstellen, wie Geist und Seele zu veröden drohen und leiden, wenn Du für Wochen und Monate vor allem auch mit denen Umgang hast, die keinerlei Dunst haben vom strategischen Kalkül eines Björn Höcke oder die nie gelernt haben, ihr abstruses und geschichtsblindes Gedankenchaos wie Alexander Gauland - wenn auch sabbernd und geifernd - halbwegs geordnet und strukturiert unters Volk zu bringen. Bevor ich mich darauf eingelassen habe, hatte ich Klaus Theweleits Männerphantasien gelesen. Lass uns mal in Ruhe darüber reden. Ich habe Deinen Beitrag Das vorige Jetzt gelesen - da können wir prima anknüpfen! Aber erzähl Du doch erst einmal, was in den letzten Jahren passiert ist.
Josef: Das wird allerdings den Rahmen sprengen, den wir hier zu Verfügung haben. Lass uns kurz bei Klaus Theweleits Männerphantasien bleiben. Das Buch ist vor 50 Jahren erstmals erschienen. Was hast Du beobachten können und welchen Zusammenhang siehst Du mit aktuellen Entwicklungen?
Adrian: Ich fühle mich zuletzt durch einen ZEIT-Beitrag (10/20) von Antonia Baum bestätigt. Schau Dir die Glatzen und Dicke-Arme-Spacken einmal genau an. Die These von den Nicht-zu-Ende-Geborenen ist zwar krass, aber überaus plausibel, wenn man fassungslos die jeweiligen Spitzen des Eisbergs in den Blick nimmt, jene, die nicht nur Dünnschiss reden, sondern zu Taten schreiten, die uns fassungslos machen.
Josef: Was meint denn Theweleit mit der merkwürdigen These vom Nicht-zu-Ende-geboren-sein?
Adrian: Antonia Baum arbeitet mit Klaus Theweleit die zentrale Argumentationsfigur heraus, nach der es bei den Konsequenzen eines Nicht-zu-Ende-geboren-Seins um folgenede Zusammenhänge gehe: Statt Beziehung werde ein Panzer ausgebildet, um realitätstüchtig zu werden und das angsterfüllte, instabile Innere im Zaum zu halten. Theweleit meint, bei vielen dieser verhungerten Seelen mangele es an einer ausgebildeten Ich-Struktur, "also dass ich weiß, wo ich anfange und wo ich aufhöre. Deswegen findet der soldatische Mann Drill und Hierarchien so wichtig. Weil sie ihm Körpergrenzen verpassen. Er muss wissen, wo oben und unten ist, und wenn sich da was ändert, fühlt er sich bedroht, und im schlimmsten Fall fordert er, dass das, wovon er sich bedroht fühlt, entfernt wird. Und aus diesem Grund sage ich, Faschismus ist primär keine Ideologie, sondern ein Körperzustand. Die Ideologie ist Schwachsinn und als solcher nur aufgeklebt."
Josef: Ja, die lassen sich ja in der überwiegenden Zahl wie ne Litfaßsäule massakrieren.Ich kenne den Beitrag von Antonia Baum. Anlass war eine Neuauflage von Theweleits Analyse. Ich finde interessant, dass Antonia Baum nicht nur bei dieser - zugegebenermaßen - ziemlich krassen These Theweleits stehen bleibt, sondern dass sie versucht einen brandaktuellen Bezug herzustellen. Sie bezieht sich auf die Neuausgabe, in der einführend zu lesen ist, das Buch sei 'so aktuell wie nie'. Sie meint, dies stimme insofern, als sich gerade etwa alle drei Monate ein Mann entschließe, andere Menschen aus rassistischen, antisemitischen Motiven zu ermorden. Sie erwähnt Hanau und verweist auf das antisemitische Attentat in Halle, bei dem ein Mann loszog, um gezielt Juden umzubringen. Dabei vertrat er - so Antonia Baum weiter - krude Verschwörungstheorien, wonach sich eine 'jüdische Finanzelite' den Feminismus ausgedacht habe, um Frauen am Kinderkriegen zu hindern, was wiederum 'Massenimmigration' zur Folge habe. Sie zitiert Theweleit, dass dieser Tätertypus tatsächlich die Landesgrenzen mit Körpergrenzen gleichsetze - Antonia Baum knüpft an und meint: "Aus genau diesem Grund tobe im Zentrum aller männlich-terroristischen Attentate der jüngsten Vergangenheit eine mörderische Antiweiblichkeit: Frauen weigern sich Kinder zu bekommen, oder haben zu schwache Herzen , um Migranten abzulehnen. Vielleicht ist es das, was Theweleit meint, wenn er sagt, die Ideologie sei bloß draufgeklebt: 'Es ist beliebig, wen der üblichen Verdächtigen sie verantwortlich machen für den Niedergang der Gesellschaft'."
Adrian: Ja, Antonia Baum reklamiert sogar einen biografischen Zugang zu Theweleits Männerphantasien, der mich ziemlich verblüfft hat: Als Studentin fiel ihr eine Erstausgabe ihrer Mutter in die Hände, und sie stieß - wie sie erinnert - auf eine unbekannte Art und Weise, über Faschismus zu sprechen: "Was ich las, kannte ich aus einem Teil der Familie, und darüber sprach dieser Teil garantiert nicht: Nicht über die Brutalität und Gnadenlosigkeit insbesondere der Männer gegenüber ihren eigenen Körpern auch in der zweiten Nachkriegsgeneration. Nicht über das 'Was dich nicht umbringt, macht dich nur noch härter', die Aufforderung mit dem Geflenne aufzuhören, die Begeisterung für einen Körper, der wie ein Instrument einsetzbar ist, und natürlich die Verachtung für alles, was typischerweise als weiblich und schwach gilt."
Josef: Das alles erinnert mich an "Schrei nach Liebe" von den Ärzten.
Adrian: Klar, Antonia Baum stellt genau diesen Zusammenhang indirekt auch her indem sie fragt: "Würde man einen Menschen als Baby und Kleinkind anbrüllen oder gar schlagen und würden dessen Bedürfnisse nicht adäquat beantwortet, etwa indem man es schreien lässt und ihm zu wenig Körperkontakt gibt (also exakt das, was auch die Top-Nazi-Pädagogin Johanna Haarer den deutschen Müttern empfahl und deren Tipps noch lange nach 45 befolgt wurden), dann ziehe es sich zurück und baue keine Beziehungen auf."
Josef: Und was ist mit den Müttern? Wir müssen unbedingt Theodor W. Adornos Erziehung nach Auschwitz darauf hin noch einmal ansehen.
Adrian: Adorno? Meinetwegen - aber da hab ich ne Menge Fragen! Viele von den Spacken haben jedenfalls unfassbare, verworrene Frauenbilder phantasiert: Verachtung ist die eine Seite - krude Idealisierung im Sinne der Naziideologie die andere! Einer von denen hat mir mal einen Text zugesteckt (VerfasserIn unbekannt), den vor allen diejenigen, die richtig hart drauf sind, in Anlehnung an die Nazi-Ideologin Johanna Haarer zu einer Art Totem oder Fetisch stilisieren. Wenn da nicht reihenweise kleine und große Arschlöcher den Schrei nach Liebe einüben! Das hört sich dann so an:
"Wir brauchen Mütter, die im Schoße tragen
Ein hart Geschlecht, das wie aus Erze geschweißt
Und ohne Knechtsinn und bänglich zagen
Sich kühn den Weg zum neuen Aufstieg weißt.
Wir brauchen Mütter, die nicht abseits stehen,
Wenn blonde Söhne ruft der Kampfesschall,
Die schützend im Gebet zur Seite gehen
Und segnend Hände breiten überall.
Wir brauchen Mütter, die da opfernd geben,
Was sie genährt mit ihres Leibes Blut.
Und wenn der Wunde tiefste schlug das Leben
Sich selbst verströmen in der Liebe Glut."
Josef: Das ist allerdings verdammt krass! Vor Jahren bin ich auf ein nachgelassenes Büchlein von Dietmar Kamper (+2001) gestoßen: In diesen Aufzeichnungen, die unter dem Titel Traumbuch 11 Jahre nach seinem Tod 2012 veröffentlicht worden sind, protokolliert er sein eigenes Sterben in Gestalt von Traumbildern. Er hatte schon früh damit begonnen, den Zusammenhang von Zivilisation und Körperlichkeit zu reflektieren. Eine seiner Schlüsselthesen läuft darauf hinaus, dass der Mensch den Kontakt zu sich selbst und zu seinem Körper möglicherweise bereits in der biografiegeschichtlichen Frühzeit verliert, so dass man als egghead nach der finalen Diagnose nur noch resigniert konstatieren kann: "Ein Opfer nach so langer Zeit von den Instanzen der Herkunft, der Abstammung erzwungen? Oder ein Opfer des rachsüchtigen Berufs, den ich 17 Jahre auf Distanz gehalten habe?" Sieht man so jemandem nach, dass er zu radikalen Schlussfolgerungen gelangt, die er reuevoll für Einsichten hält, indem er betont: "Noch einmal: Der große Verlierer dieser Geschichte des abendländischen Menschen ist der Körper." Hier ist Kamper vielleicht noch der Soziologe und noch nicht auf dem Weg. Zuletzt äußert er in einer hilflosen Geste uns vielleicht zur Mahnung: "Was mir in Zeiten des entfernten Körpers immer unwahrscheinlicher und immer notwendiger vorkommt, ist die Berührung: Leben des Körpers heißt nichts anderes als Berührtwerden, als Berühren."
Adrian: Ja, das scheint mir doch recht plausibel den Widerspruch zwischen Körperverachtung und Körperkult bei vielen dieser aufgeblasenen, recht jungen Aktivisten der rechten Szene zu beschreiben.
Josef: Im Gegensatz zu Theweleit hatte Kamper wohl weniger - oder zumindest nicht nur die rechte Szene im Blick. Er meint uns alle. Ein guter Freund hat immer betont, dass er ein Berührer sei. Ich erinnere allerdings, dass das Berühren immer mit einem gewissen Zittern einherging - immer verbunden mit der subtil-latenten Botschaft: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Es geht um das Urbedürfnis nach Berühren und Berührtwerden. Gegenwärtig - nach der Geburt meines zweiten Enkelkindes - sehe ich mich zutiefst bestätigt in meinem vor 25 Jahren entstandenen Gedicht: Unsere Kinder!
Adrian: Du bist/ihr seid Großeltern - also jetzt bring micht bitte endlich mal auf die Höhe der Zeit. Es scheint ja einiges passiert zu sein in den letzten Jahren?!
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr nerinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: "Reformationstag" - morgen ist "Allerheiligen" - der 1. November! Die letzten Monate hatten es in sich. Claudia ist 60; ihr 60ster Geburtstag ist Andreas Krawitzens Todestag, Peter Valder ist ebenso gestorben wie Wilfried Jansen. Hilde Ackermann hat die 95 noch vollendet, während ein Kollege - Heinz Remm - mit gerade 57 vor wenigen Tagen verstorben ist. Und was ich immer bestritten habe, scheint sich nun doch zu bewahrheiten: Seit 8 Monaten lebt meine Schwiegermutter nicht nur mit uns unter einem Dach, sondern sie lebt mitten in unserer Familie. Es ist schon bemerkenswert, dass wir nun erleben, dass mit unserern Eltern - sofern sie eben noch leben - eine Generation der Fürsorge bedarf und uns damit zunehmend vor eine schwierige Aufgabe stellt.
Adrian: Euch doch nicht. Seit Jahrzehnten stellt ihr euch dieser Aufgabe und habt es doch gut hinbekommen - deinen Schwiegervater habt ihr doch lange Jahre bis zu seinem Tod zu Hause gepflegt!?
Josef: Ja, aber bei meiner Schwiegermutter steht ja mehr die (Re-)Integration in eine Familie an. Leo war ja die letzten drei Jahre ans Bett gefesselt. Lisa hat - wenn auch mühsam - wieder gehen gelernt und bewegt sich an guten Tagen mit ihrem Rollator durch unsere Wohnetage. Es wäre vermutlich sinnvoller gewesen, sich den Treppenlifter zu ersparen und ihr eben von vorne herein auf dem 1. Obergschoss, wo sie ihr Zimmer hat, ein angemessenes Umfeld zu schaffen. Sie verlässt ja das Haus ohnehin nicht mehr.
Adrian: Was hat den diesen Sinneswandel in dir ausgelöst? Warum plädierst du denn für eine soziale Isolation deiner Schwiegermutter? Das wäre es doch de facto!
Josef: Das führt wohl hier zu weit. Ich muss das wohl im Kontext des Demenztagebuchs aufgreifen und erörtern. Der Sinneswandel beruht schlicht auf der Tatsache, dass die Schwiegermutter eher damit beginnt, uns sozial zu isolieren. Aber lies im Demenztagebuch weiter!
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Nicht nur sieben Wochen Tauchstation, sondern monatelang kein Lebenszeichen! Meine linke Schulter ist fast wieder die alte, und in meinem Blog war ich sehr umtriebig.
Adrian: Das kann man wohl behaupten. Von Plan I über Plan III bis hin zu Deiner letzten versöhnlichen Replik auf Herrn Hammes scheint Dich vor allem Phase V - das Fürsorgliche Finale - sehr zu beschäftigen.
Josef: Das eine hängt mit dem anderen zusammen, wie überhaupt die Veränderungen der vergangenen Monate von einem neuen Lebensabschnitt künden - deutlicher als je zuvor. Ich habe Dir bei unserem vorletzten Treff davon erzählt, das meine Schwiegermutter unterdessen bei uns wohnt und lebt.
Adrian: Ja, ich habe gelesen, dass Du das Fürsorgliche Finale, das Detlef Klöckner ja als letzte Entwicklungsphase im Kontext von Paardynamiken beschreibt, in einem erweiterten Sinne auslegst - sozusagen als Verdopplung der damit verbundenen Herausforderungen.
Josef: Das sehe ich deshalb so, weil wir - Claudia und ich - noch nicht vollständig ins letzte Glied vorgerückt sind. Noch kümmern wir uns um die (Schwieger-)Mutter. Der Horizont ist allerdings schon ein viel weiterer. Du weißt ja, dass ich nächstes Jahr (am 30.9.17) in den Ruhestand versetzt werde.
Adrian: Gratuliere - das ist doch ein Grund zur Freude!
Josef: Ich freue mich ja auch!
Adrian: Und warum führst Du dann auf die letzten Monate hin noch so unversöhnliche Auseinandersetzungen - Stichwort Plan I bis III und streitest immer noch?
Josef: Ich vermute, das hängt biografisch, aber auch systematisch mit dem zusammen, was Rolf Arnold einmal die Notwendigkeit einer abschiedlichen Perspektive in der Pädagogik genannt hat.
Adrian: Ja und, kannst Du das nicht einmal etwas näher erläutern?
Josef: Die Auseinandersetzung mit Edgar Hammes zeigt beispielhaft ein Kommunikationsdebakel auf, an dem ich maßgeblichen Anteil habe. Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation, die Kontingenzgewärtigkeit nicht nur im Hinblick auf Phänomene wie Schule und Unterricht, Erkenntnis als Konstruktion, diese Sichtweisen mahnen allesamt zur Bescheidenheit und zu einer Kultur der Selbstdesinteressierung. Sie sind keine Kampfformeln. Das hätte ich beachten müssen. Andererseits - und ich gebe gerne zu, dass sich damit Paradoxien auch in mein Selbstbild einschleichen - ist es für mich schwer erträglich, alten Herren Raum zu geben in einer Institution, die ich gegenwärtig noch mitzuverantworten habe. Mach dir einen Plan war der Versuch, darauf aufmerksam zu machen, dass Sprache weltbildende Funktion, ja weltbildende Macht hat. Wirklichkeit als indifferentes Phänomen wird durch Positionspapiere, wie sie Edgar Hammes vorlegt, aus unserem Institut heraus in bestimmter Weise durch scharfe Unterscheidungen beschrieben. In dieser - lineare Fortschrittsmythen nach wie vor bedienenden Form halte ich das für nur schwer erträglich. So habe ich nach dem x-ten Papier mir die Zeit genommen und einmal gründlich eine Gegenperspektive markiert.
Adrian: Aber Edgar Hammes hat Dir doch immer wieder signalisiert, dass er das alles gar nicht so meint, wie Du es auffasst.
Josef: Das ist das eigentlich schwer Erträgliche. Wenn wir Sprache als Variationsmechanismus zur Beschreibung und Unterscheidung von Wirklichkeit nicht mehr sehen können/wollen. Ich erinnere mich beispielsweise an Edmund Kösel, einen redlichen Didaktiker, der zu meiner Studienzeit als Autor in den sogenannten Ravensburger Heften eine traditionelle - linear orientierte und strukturierte - Didaktik an uns junge Studenten herantrug. 30 Jahre später habe ich ihn gemeinsam mit Reinhard Voß - seinerzeit mein Kollege im Institut - in unseren "Gesprächskreis Konstruktivismus" eingeladen, um uns seine Subjektive Didaktik vorzustellen. Edmund Kösel hatte mit der naiven Übertragung der Planungsmethapher in die Didaktik gebrochen und gründlich mit den sogenannten Fortschrittsmythen aufgeräumt - für mich ein Beispiel dafür, wie man in einer dynamischen Welt wissenschaftlichen Denkens und entsprechender Diskurse das eigenen Denken entwickelt. Da ist es schwer erträglich, wenn jemand im Jahr 2015 im Alter mit Hausbaumetaphern und Planungsgläubigkeit unseren Studierenden begegnet und bei alledem dies naiv bestreitet und "Haltet den Dieb!" ruft!!!
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Sieben Wochen Tauchstation - pardon,aber ich bin ja ein wenig lädiert. Einen Tag nach meinem Geburtstag habe ich mir Sehnen in der linkenSchulter ab- und angerissen (Supra- und Infraspinatus). Am 16.3. habe ich mich einer "operativen Refixation der Rotatorenmanschette" unterzogen und befinde mich nun in der "Rehabilitation".
Adrian: Hört sich ja ziemlich beschissen an. Aber anscheinend kannst du ja wenigstens wieder schreiben.
Josef: Ich hab ja Glück im Unglück gehabt -es ist die linke Schulter, so dass ich wenigstens mit meiner rechten Hand und meinem rechten Arm handlungsfähig bin. Alles geht langsamer - sehr viel langsamer, aber es geht.
Adrian: Also unterziehst du dich (endlich einmal) einem Entschleunigungsprogramm; du darfst vermutlich kein Auto fahren und körperliche Arbeit und Sport sind wohl auch tabu - viel Zeit für, ja wofür?
Josef: Ja, hört sich nach Chance an - hoffentlich nutze ich sie auch. Immerhin habe ich einen 700-Seiten-Roman (incl. Dokumentation) in Rekordzeit für mich gelesen: Heinrich Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad - ein fulminantes, ungeheuerliches Leseerlebnis, dem ich mich im Nachgang gründlich stellen will.
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Ja, und wie! Heute ist der 12. Februar 2016 und wir haben die Schwiegermutter, die Oma von Laura und Anne nach Hause geholt. Wir haben mit dem Rollstuhl eine Tour quer durch Güls unternommen - vom Laubenhof, am anderen Ende von Güls bis zu unserem Wohnhaus. Wir haben zu Mittag gegessen und dann die erste Fahrt mit dem Treppenlifter in ihr neues Domizil absolviert!
Adrian: Ich war heute Morgen bei deinem Prüfungskolloqium dabei. Da hast Du euer Vorhaben ja sogar in die Prüfungsvorbereitung integriert. Wie bist Du denn auf diese Idee gekommen?
Josef: Herbert Gudjons vertritt in einem 1996 publizierten Aufsatz die These vom "Verlust des Todes in der modernen Gesellschaft". In den ersten drei Sitzungen zum Seminar "Grenzsituationen" gibt es den Versuch einer Klärung, was denn überhaupt unter "moderner" Gesellschaft oder der "Moderne" zu verstehen sei. Der Begriff ist viel zu unspezifisch. Ich verknüpfe die Einführung immer mit dem von Niklas Luhmann entwickelten Begriff einer "funktional differenzierten" Gesellschaft (z.B. nachzuvollziehen in Inklusion I oder natürlich in der "Luhmannschen Lektion"). Man kann den Begriff des Verlustes auch durch den Begriff der Unsichtbarkeit ersetzen. Dann kommt man sehr schnell dahinter, dass viele Menschen bis ins hohe Erwachsenenalter - u.U. ihr ganzes Leben lang mit Tod, Trauer oder dem Sterben als Ereignis bzw. als Prozess nie etwas zu tun bekommen. Eine immer stärker um sich greifende Institutionalisierung führt zu Entlastungen. Auch wenn im Familienkreis jemand verstirbt - was heute zumeist in Krankenhäusern oder Altenheimen geschieht - beauftragt man ein Bestattungsunternehmen und trifft sich - wenn überhaupt - erst bei der Trauerfeier oder dem sogenannten Leichenschmaus.
Adrian: Ja und?
Josef: Wie, ja und? Ich habe heute Morgen noch einmal deutlich gemacht, dass die Entscheidung, die Oma nicht in der "Seniorenresidenz" zu belassen, sondern sie zu uns nach Hause zu holen, auch und insbesondere etwas damit zu tun hat, jemandem das zu Hause zu ermöglichen, das sich aus der Logik seiner Familienzugehörigkeit und der Unterstützungen, die er im Familiensystem geleistet hat, ergibt: "Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht wohin" - diesen Aphorismus (ich glaube von Eichendorff) wollen wir deutlich konterkarieren. Verluste ergeben sich auch aus sogenannten Entlastungen, Entlastungen, die häufig genug nichts anderes bedeuten, als sich einer natürlichen und not-wendigen Verantwortung zu entziehen. Apropos Entlastungen: Rollstuhl, Rollator, Treppenlifter, Pflegebett, Wannenlifter, Toilettensitzerhöhung - all dies sind segensreiche (technische) Entlastungen, die häuslich Betreuung möglich machen. Die Grundeinstellung, dies zu wollen, kann durch keine Entlastungsstrategie kompensiert werden!
Adrian: Gibt es sonst noch irgend etwas? Hast du bei deiner Familiensaga nicht etwas Wichtiges übersehen?
Josef: Ja, klar. Aber heute ist heute, und gestern ist gestern. Laura hat gestern mit sehr guten Ergebnissen ihre Masterausstellung absolviert, und Anne hat am 15. Januar ihre Referendarstelle angetreten - hier, zu Hause in Güls. Und das beste ist, die Oma hat daran Anteil genommen. Bist du nun zufrieden?
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Ja, ich halte nach wie vor die Stellung und freue mich, dass du dich mal wieder meldest!
Adrian: Die Takte sind schon ziemlich lang. Es ist sicherlich viel passiert seit dem 7. Januar - eigentlich könnten wir uns öfter treffen, zumal ich gesehen habe, dass du inzwischen dein Herzensanliegen in eine eindrucksvolle Präsentation überführt hast, so dass man sehen kann, was das Medium - auch angesichts deines bescheidenen Kompetenzprofils - so alles hergibt. Chapeau!
Josef: Ja, da liegst du mit deiner Einschätzung goldrichtig. Ich hab mir ja nie vorstellen können, Abstand zu nehmen vom Papier und seinen handgreiflichen, sinnlichen Qualitäten. Jetzt fasziniert mich die virtuelle Plattform so sehr, dass schon Suchtgefahr besteht. Und im Übrigen - ohne Steffens Hilfe käm ich da nicht klar!
Adrian: Übertreibst du da nicht ein bisschen?
Josef: Nein, durchaus nicht. Diese Form des Erarbeitens von Geschichten und Reflexionen ist schon auch eine Zeitfressmaschine. Mein Herzensanliegen - "Hildes Geschichte" - ist ein eindrückliches Beispiel: ein Beispiel in mehrfacher Hinsicht. Jetzt gehe ich erst einmal hin und unterlege "Hildes Geschichte" mit einem Link. Das besansprucht ein wenig Zeit, ermöglicht dir aber unmittelbar von hier aus einen Zugang zu "Hildes Geschichte" herzustellen. Du landest in einem Einleitungskapitel, kannst noch einmal nachvollzhiehen, was mich antreibt, und du hast ganz praktisch die Möglichkeit dir über den Link "Alle Kapitel" einen Zugang zu den einzelnen Kapiteln zu verschaffen. Versuchs mal hier aus dem laufenden Text heraus. Ich bin immer noch besoffen von dieser Erweiterung der Möglichkeiten. Ich habe "Hildes Geschichte" in insgesamt 31 Kapitel untergliedert, inzwischen auch die Fotos übernommen und kann jetzt damit beginnen auch alle meine Vorarbeiten mit dem Erzähltext zu verknüpfen. Das habe ich bereits getan mit dem Erklärbrief an Nico Hofmann und hinsichtlich der wissenschaftlich ausgewiesenen Studien über den "Referenzrahmen" (des "Dritten Reichs") oder auch die in das Gespräch mit Franz Streit (dem Vater meiner Schwester) eingegangenen Ergebnisse meiner Nachforschungen.
Adrian: Ich sagte ja schon: Chapeau! Wäre es nicht an der Zeit damit einmal an die Öffentlichkeit zu gehen? Ich habe ohnehin das Gefühl, dass da so etwas geschieht wie ein Dammbruch. Zugegebenermaßen mag manch einen irritieren, dass du den Modus des Erzählens konterkarierst mit den Ergebnissen deiner Nachforschungen.
Josef: Der BLOG ist ja öffentlich - und mehr will ich inzwischen auch nicht mehr. Es mag schon sein, dass irgendwann einmal die Resonanz den persönlichen Nahraum sprengen wird. Und ich folge auch deiner Einschätzung, dass wir es hier mit einem Dammbruch zu tun haben. Die Möglichkeiten fiktionale Erzählung (beruhend auf einem historisch - und im Übrigen natürlich auch biologisch verbürgten Kern, denn Ulla, meine Schwester, ist ja real und erfreut sich gottseidank - vielleicht auch Genetik sei Dank - guter Gesundheit) und historisch ambitionierte Recherche miteinander zu verknüpfen, macht die abslutute Faszination aus.
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Ja klar, inzwischen schreiben wir das Jahr 2016, genau gesagt, den 7.1. und ich bin schon an meinem Arbeitsplatz, weil zwei Idioten den allsemesterlichen Prüfungsmarathon entzerren.
Adrian: Und sonst? Was macht deine Schwiegermutter?
Josef: Der müssen wir eine Frage beantworten - eine Frage, die sich jeder beantworten muss, der einmal Kind war und der in sich selbst die lebenslange TATSACHE verkörpert, dass seine Mutter ihn geboren hat, dass seine Eltern für ihn gesorgt haben, dass er möglicherweise ein Leben führt, dass (auch materiell) zu Teilen im Erbe seiner Eltern begründet ist - er wohnt im elterlichen Haus, er kommt in den Genuss elterlicher Vorsorge (wir repräsentieren ja die Erbengeneration schlechthin). Sei's drum - und nun gibt es im hohen Alter noch Überlebende. Die Alternativen bei Lisa: Sie bleibt im Laubenhof (Seniorenstift); wir organisieren betreutes Wohnen mit allem drum und dran in ihrer Wohnung; sie kommt zu uns - mit bescheidenen Vorkehrungen hätte sie einen Platz in ihrer Familie.
Adrian: Was will sie selbst?
Josef: Auffällig ist, dass sie sich für unsere Fürsorge - gegenwärtig ist es ja so, dass sie täglich mehrfach Besuch hat (Claudia ist jeden Tag da, ihre Enkeltöchter sind immer wieder da und ich auch) - immer wieder bedankt. Sie ist überaus präsent in der Wahrnehmung ihrer Situation. Du brauchst ihr Zimmer nur zu betreten, und augenblicklich bist du als Tochter, Enkeltochter oder Schwiegersohn in ihrer Welt. Im Grunde genommen akzeptiert sie unsere Entscheidungen. Bei einer Dauerlösung im Laubenhof ist dies allerdings noch nicht wirklich absehbar.
Adrian: Du hast berichtet, dass deine Schwester euch ermuntert hat, die Heimlösung anzustreben und gleichzeitig davor warnt, eine Lösung zu Hause zu erwägen.
Josef: Ja, Ulla hat immerhin 20 Jahre Erfahrung in der Altenpflege und sie hat über fast ein Jahr ihren letzten Mann in einem langen Prozess des Sterbens begleitet. Mir geht es aber vorwiegend um die Argumente: Haben wir im generativen Zusammenhang - Zusammenhalt - das Recht, den Anspruch auf ein eigenes Leben höher zu bewerten als die Fürsorge für die Alten? Bei meiner Schwiegermutter kommt ja noch hinzu, dass sie sich über Jahre um Laura und Anne gekümmert hat. Und nun soll der große Egoismus sich durchsetzen? Ich hab noch so viel vor! Wir stehen vor der Pensonierung und sollen uns nun um die (Schwieger-)Mutter kümmern?
Adrian: Das ist moralischer Rigorismus und eine Herabsetzung der Heimlösung, die ja nichts zu tun hat mit Verantwortungslosigkeit von vorne herein!
Josef: Es ist lediglich ein Aufweis der Entscheidungssituation. Ich schließe den Laubenhof nicht von vorne herein aus. Aber da müssen die Bedingungen stimmen, und bei einer 92jährigen, die im Vollbesitz ihrer Entscheidungsfähigkeit ist, kann man dies nicht einfach ingnorieren. Wir Älteren alle, die wir möglicherweise auch ein hohes Alter vor Augen haben, werden zutiefst damit konfrontiert, wie wir selbst Einfluss nehmen auf die Gestaltung des Alters - bis hin zu Fragen: Wie und wo wollen/können wir wohnen, und wer kümmert sich um uns. Vielleicht sind wir etwas klüger und vorausschauender im Treffen entsprechender Vorkehrungen. Glauben mag ich daran im Übrigen nicht wirklich. Gegenwärtig wird unser eigener Weg ins Alter eher von Kleinmütigkeit und offenkundiger Dummheit begleitet. Aber das ist ein anders Thema.
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Heute musst du mich nicht wecken. Ich bin seit Tagen hellwach! Am 11.12. - ohnehin ein markantes Datum im Jahr (mein Vater wäre 93 geworden - Rudi Krawitz ist 72 geworden) - also am 11.12.2015 ist das eingetreten, wovor wir in der Familie, wie die Kaninchen vor der Schlange verharren - schon lange: Lisa, meine Schwiegermutter (Jahrgang 1923) ist in ihrer Wohnung gestürzt und hat sich - wie könnte es anders sein- den Oberschenkelhals des linken Beines gebrochen. Sie ist am selben Abend im Brüderhaus in Koblenz noch operiert worden und hat bis jetzt alles recht gut überstanden.
Adrian: Das tut mir leid. Ich weiß, dass ihr alle zusammen dafür einsteht, dass Eure Eltern so lange wie irgend möglich ihre Selbstständigkeit in ihren eigenen vier Wänden behalten sollen. Dann ist sie ja jetzt gut aufgehoben, und es ist gut für sie gesorgt!?
Josef: Klar, es hat mich ziemlich beeindruckt, dass zwischen Unfall und Operation mal gerade dreieinhalb Stunden lagen. Was uns jetzt umtreibt ist eher die Frage, wie es nach ihrem Krankenhausaufenthalt weitergeht.
Adrian: Wieso - wie war es denn bis jetzt?
Josef: Du hast es ja selbst gesagt - bisher lebte sie mit unserer Unterstützung noch alleine in ihrer Wohnung. Dort lebt sie seit fast 50 Jahren. Das wird aber so nicht mehr gehen. Claudia hat sich wegen der Betreuung vom Schuldienst (ohne Bezüge) beurlauben lassen. Aber sie kann ihre Mutter nicht pflegen - allein schon rein körperlich nicht. Und ich habe zwar meinen Schwiegervater vier Jahre lang intensiv mit betreut und gepflegt, aber bei meiner Schwiegermutter seh ich auch eine Grenze. Das müssen Profis machen.
Adrian: Es gibt doch Pflegeheime!?
Josef: Ja, ich war heute morgen im "Laubenhof" - ein Wohn- und Pflegeheim in unserem Dorf. Wir müssen ja auf jeden Fall für den Übergang eine Kurzzeitpflege organisieren - vielleicht erwächst ja daraus auch eine Lösung über die Kurzzeit hinaus.
Adrian: Ich habe gesehen, dass du unter dem Menüpunkt "Tagebuch" auch ein "Demenztagebuch" platziert hast. Dort beschreibst du ja die intensive Begleitung deines Schwiegervaters, und ich habe gesehen, dass du aktuelle Einschüsse eingebaut hast.
Josef: Eigentlich wollte ich mir diese intensive Zeit von 2007 an noch einmal ins Gedächtnis rufen - man vergisst so schnell. Und diese Aufzeichnungen - ähnlich wie beim Sterbetagebuch meiner Mutter - sollten nicht verloren gehen. Sie gestatten einem vielleicht auch den Weg ins eigene Alter etwas bewusster zu gestalten, auch indem man im wachen Zustand sich einfach dazu äußert, wie man in Grenzsituationen verfahren wissen will.
Adrian: Geht es etwas genauer? Was meinst du damit, dass du Einfluss nehmen willst darauf, wie man mit dir umgehen soll, wenn du nicht mehr uneingeschränkt entscheidungsfähig bist?
Josef: Ja klar! Was ich jetzt bei meiner 92jährigen Schwiegermutter beobachte, ist hinsichtlich all dieser Fragen einfach erbärmlich. Sie will einfach nur nach Hause. Aber wer soll dort für sie angemessen sorgen. Heute Mittag bei dem Versuch sie zu moblilisieren - jeweils zum Essen oder beim Gang zu Toilette, zeigt sie sich widerborstig bzw. einfach erschöpft und durch die dann auftretenden Schmerzen irritiert.
Adrian: Sag mal, spinnst du? Eine 92jährige - drei Tage nach einem Oberschenkelhalsbruch und einer OP mobilisieren?????? Ich würd euch sonstwohin treten!!!!!
Josef: Du hast Recht! Klar, unvorstellbar. Aber so geht heute der "aktive Patient". Die Reha beginnt mit dem Verlassen der Intensivstation. Claudia hat ihr signalisiert, wenn sie nicht aktiv mittue, ende sie im Rollstuhl!
Adrian: Ja und - hallo, mit 92 Jahren. Hunde wollt ihr ewig leben, und dabei gesund, aktiv, zufrieden und am besten ohne jede Einschränkung.
Josef: In allem hast zu Recht. Wir müssen einen Weg finden, um angesichts der Ausgangslage Lisas die bestmöglichen Bedingungen eines Weges zurück - oder wohin auch immer zu ermöglichen.
Adrian: Hallo, ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Inzwischen schreiben wir den 24.11.2015 und die Welt ist schon wieder eine gänzlich andere - oder anders herum: die Säue, die gegenwärtig durchs globale Dorf getrieben werden und damit das Rauschen gesellschaftlicher Kommunikation (den Medienhype) scharfstellen, drängen sich einerseits auf - andererseits werden sie wie fette Kühe von den Medien bis auf die letzten Tropfen ausgelutscht.
Adrian: Hab ich dich tatsächlich aufgeweckt? Bringen dich die aktuellen Ereignisse und was man aus ihnen macht tatsächlich in Rage?
Josef: Nicht jeder kann offenkundig so ruhig und distanziert mit den Ereignissen der letzten Tage und Wochen umgehen wie du.
Adrian: Ich habe deine Beiträge gelesen und vernehme eine seltsame Mischung zwischen einer kämpferischen Grundhaltung und einer nicht zu übersehenden Resignation. Lieg ich da falsch?
Josef: Keine Ahnung - kämpferisch trete ich schon lange ein für etwas, dessen Bedeutung ich erst mit zunehmendem Alter und angesichts der Alternativen begriffen habe. Demokratie westlicher Prägung auf der Grundlage ernstgenommener rechts- und sozialstaatlicher Prinzipien gehört eben dazu; deren Alternativlosigkeit springt mir immer mehr ins Auge und auch in die Seele, weil sie den einzigen Ordnungsrahmen darstellen, in dem man nicht gezwungen wird, seine Weltbilder distanzlos zu bewohnen und sich einem Gesinnungsterror auszusetzen!
Adrian: Apropo "disantanzlose Weltbilder - wo ist eigentlich der Peter Sloterdijk abgeblieben?
Josef: Keine Ahnung; aber der hat weiß Gott genug geschrieben, um den Unterschied zwischen totalitären Beseitungsphantasien und selbstdesinteressierter Verankerung in einem System wenigstens formaler wechselseitiger Anerkennung zu betonen. Hab eben eine Stunde mit Winfried Rösler zusammen gesessen. Wir waren uns einig - von unserem professionellen Selbstverständnis her -, dass wir mit der Verteidigung der Bildungsidee den Schlüssel in Händen halten zu einer wirksamen Prävention gegenüber allen totalitären Gesinnungen.
Adrian: Genauer!
Josef: Nimm das Beispiel "IS". Die Köpfe dieser Bewegung verkörpern vermutlich formale und materiale Bildung auf höchstem Niveau. Die führenden Köpfe reflektieren, wie der Westen denkt, wie er tickt und wo er verletzlich ist. Nur auf dieser klaren, differenzierten intellektuellen Zugangsebene können sie ihre aberwitzigen und zweifelsfrei menschenverachtenden Ideologien und eine entsprechende Praxis entwickeln. Die Masse derer, die von ihnen geführt wird, verfügen genau darüber nicht. Sie stellen - wie immer in totalitären Kontexten - das Fußvolk, das man einer dauerhaften Gehirnwäsche unterzieht, und dem man ein Weltbild einimpft, das in vollständiger Distanzlosigkeit bewohnt wird, und das sie ermächtigt bis zur Selbstauslöschung gegen das Böse vorzugehen. Dass der Westen dabei für das Böse steht, ist ihnen vermutlich leicht zu vermitteln, weil sich im Fußvolk die desintegrierten, marginalisierten Velierer eines Systems wiederfinden, in dem die sogenannte "westliche Lebensart" in der Tat ein exklusives Modell meint, das an den Rändern gnadenlos exkludiert! Die Attentäter von Paris haben ihre Sozialisation allesamt in Frankreich bzw. in Belgien erlebt. Der IS rekrutiert und wächst wie ein Geschwür aus den attackierten Gesellschaften heraus!
Adrian: Was tun?
Josef: Lenin und die Stadtguerilla wären über alle Maßen beeindruckt gewesen. Aber sie waren in gewisser Weise Weisenkinder gegen die verblendeten Akteure des IS - weil es den Eggheads immer wieder gelingt, die Köpfe ihrer Kämpfer mit ideologischer Scheiße anzufüllen, weil die nämlich wiederum dumm und naiv genug sind, den Verheißungen des Paradieses ihren ganzen Glauben zu schenken und ihr Leben zu opfern. Aber was können wir tun? Nicht viel mehr als Uwe Jean Heuser uns nahelegt - wollen wir den Sumpf, aus dem die Idioten wachsen, austrocknen, geht das nur über Bildung und Zugehörigkeit.
Adrian: Hallo - ist da jemand? Ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Josef: Ja, ich bin immer noch da - auch am 11.11., dem Symboltag für schier unerträgliche Zeitverdichtung, für die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten!
Adrian: Was ist nun schon wieder los? Was ist mit dem 11.11.?
Josef: Geh doch mal durch Güls. Güls ist seit Tagen weiß-blau geflaggt und geschmückt. Menschen laufen in blau-weißen Uniformen und wie im Karneval durch die Gegend. Gleichzeitig werden in der Stadt die Weihnachtsmärkte aufgebaut. Wenn ich nicht von hier wäre, käme ich mir vor wie jemand, dessen Leben im Zeitraffer abläuft - oder vielleicht wie einer, der die Orientierung verloren hat.
Adrian: Aber du bist doch von hier, und im Rheinland beginnt halt für die Menschen am 11.11. die Karnevalssession. Ich kann mich erinnern, dass du mir vor Jahren einmal erzählt hast, dass dein Bruder drohte am 11.11.55 auf die Welt zu kommen. Nachdem dein Geburtstag - der 21.2.1952 - schon mit Schwerdonnerstag (Weiberfastnacht) zusammenfiel, soll die Hebamme gesagt haben, ein Karnevalsjeck reiche. Sie hat angeblich dafür gesorgt, dass Willi erst kurz nach Mitternacht, am 12.11. das Licht der Welt erblickte.
Josef: Ja stimmt genau so. Ist aber auch ein verdammt gutes Beispiel dafür, wie die Dinge sich völlig gegen die Erwartung entwickeln können. Für Willi war die fünfte Jahreszeit die höchste Zeit; so lange er lebte, lebte er auch (für) den Karneval: Vom jüngsten Büttenredner auf einer Schnäuzersitzung (Herrensitzung, will sagen, nur die Bedienungen durften da weiblich sein) über die Gründung eines Männerballets bis hin zum Straßenkarneval - er hat den Neuenahrer Fastnachtszug mit aus der Taufe gehoben; nichts ging ohne Willi! Und du kannst Dir vorstellen, dass morgen zu seinem 60sten mächtig was los gewesen wäre!!! Während ich eine Karnevalslusche geworden bin, die höchstens einmal dadurch unangenehm auffällt, dass sie unpassende Witze zur Unzeit erzählt. Kennst Du übrigens den? Sitzen drei Bauarbeiter in den fünfziger Jahren in Kölle hinter einer Großaustelle auf der Latrine. Da fällt dem Pitter seine Jacke in die Grube. Er steht auf, holt sich eine Dachlatte und fängt an in der Grube zu rühren. Seine Kumpels wundern sich und meinen: "Loss doch die Jack, die is doch total versaut!!!" Der Pitter lässt sich aber nicht irritieren und meint: "Et jet me net öm die Jack - ever do ist ming Butterbrot drin!"
Adrian: Geht's noch??? Mein Gott, wie primitiv - einfach widerlich!
Josef: Ist ja schon gut. Ich entschuldige mich. Aber das passt doch in eine Welt, in der man den Eindruck hat, dass man den Menschen ins Gehirn geschissen hat:
Adrian: Den Menschen? Was ist los mit dir? Seit wann neigst du zu solch pauschalen Rundumschlägen?
Josef: Tut mir leid, vielleicht liegt's am Alter, oder an der Jahreszeit!? Frag mich morgen noch mal.
Adrian: Hallo - ist da jemand?
Josef: Eben war noch Hochsommer. Jetzt ist Herbst! Und ihr erinnert euch; jeder neue Abschnitt beginnt mit Adrians Weckruf.
Adrian: Apropos Weckruf! In keinem deiner letzten Beiträge bist du auf die aktuelle Flüchtlingswelle eingegangen. Du warst doch immer ein zutiefst politischer Mensch?
Josef: Du hast Recht! Man kann keinen BLOG in dieser Zeit betreiben, ohne zu dem Stellung zu beziehen, was Deutschland herausfordert und verändern wird und was zur Nagelprobe der Wertegemeinschaft im zivilisierten Europa gerät. Ich habe heute (19.9.15) - gerade eben vor einer Viertelstunde in die Pressekonferenz mit Thomas Tuchel (Trainer des BVB Dortmund) hineingehört. Das hat mich enorm beeindruckt, weil aus einer Richtung und aus einem Milieu, das traditionell konservativ bis unpolitisch im negativen Sinn aufgestellt war, eine Klarheit der Argumentation im Sinne des Merkelschen "refugees welcome" zu hören war, die einfach nur überrascht. Im meinem BLOG wird es eine Reaktion geben.
Adrian: Und sonst? Was liegt an, was hast du in den letzten Wochen getrieben? Hast du deinen Aufsatz für Winfried Röslers Festschrift abgeliefert?
Josef: Ja, eine passwortgeschützte Version steht inzwischen auch online: "Wenn einer eine Reise tut". Die Auseinandersetzung hat einiges an Auseinandersetzungen nach sich gezogen. Vor allem die Festschrift zu Roger Willemsens 60stem Geburtstag hat mir die Möglichkeit eröffnet, mich noch einmal sehr grundlegend mit Motiven des Reisens und meinen eigenen Vorbehalten gegen das Reisen auseinanderzusetzen.
Adrian: Hallo - ist da jemand?
Josef: Ja, gerade eben noch so. Hochsommerstimmung als Endzeitstimmung! Ich schwitze und leide!
Adrian: Ja, Hochsommer, Sonne, Wärme, laue Nächte - große Ferien und "Rhein in Flammen" (120.000 Besucher allein in Koblenz), und Du faselst etwas von Endzeitstimmung. Was vernebelt Dir denn schon wieder den Geist?
Josef: Dürre, gnadenlose Hitze, Schlaflosigkeit bei 20 Grad und mehr des nachts, vertrocknete Felder, vertrocknete Wälder. Flora und Fauna stöhnen mit mir. Claudia stellt jetzt eine Vogeltränke auf bzw. richtet einen Anflug ein an ihrem zum Goldfischteich umgewidmeten Zinnbottich. Und die Deutschen (und nicht nur die) fliegen in den Süden auf den Grill, Sonnencreme (Schutzfaktor 30) im Gepäck. Es wird einem vom bloßen Hinsehen schon übel, wenn man die Bettenburgen rund ums Mittelmeer anschaut, Wassermangel und Fäkalienstau inbegriffen. Vermutlich bleiben deshalb ganze Legionen auf Schiffen und lassen sich durchs Mittelmeer schippern - unterbrochen von kurzen Landgängen. Da sind die in Kalifornien schon ein Stück weiter und haben klare Anweisungen für Bußandachten: Wasserrationierung mit einem Verbot des Wässerns von Zierrasen (ums eigene Anwesen) bei Strafandrohung. Dort entsteht eben ein neues Berufsbild: Anstreicher für Rasenflächen!
Adrian: Du hast Dein Hirn wohl zu lange der Sonne ausgesetzt. Aber Du warst ja in Deiner Kindheit und Jugend schon ein Sonderling - ein Hysteriker der Sonne. Du bist immer rumgelaufen wie ein Streifenhörnchen; eigentlich wärst Du der prädestinierte Burkaträger: Der Sonne keine Chance. Es wird auch schon wieder regnen - entspann Dich!
Josef: Entspann Dich! Du hast gut reden in Deinem virtuellen Nischendasein. Bei mir spitzen sich biografische Erfahrungen zu, die mit zunehmendem Alter immer mächtiger werden. Mit unserer Mutter sind wir 1962 für eine Woche in Flammersfeld im Westerwald gewesen - ein lange Woche. Von den sechs Tagen hat es gefühlte fünf Tage geregnet. Was übrig geblieben ist, sind Bilder triefender - und wenn die Sonne herauskam - dampfender Wälder, Gerüche von satten Wiesen und darauf grasenden satten Rindviechern.
Adrian: Das erleben Kinder heute auch noch - genauso. Du beschreibst da ganz typische Anwandlungen, wie sie das Alter mit sich bringt; Sentimentalitäten halt, vermutlich noch dadurch begünstigt, dass sich dieser "Urlaub" genau 20 Jahre nach der Geburt Deiner Schwester dort in Flammersfeld zutrug. Heute, nach "Hildes Geschichte", steht Dir das doch deutlicher vor Augen denn je.
Josef: Du liegst da sicherlich nicht verkehrt. Aber meine derzeitige Stimmung ist ja keine Augenblickslaune. Sie bildet den basso continuo in einem langen Lebens. Vor 15 Jahren habe ich sie bereits in meinem Tagebuch fesgehalten - Eineinhalb Jahre vor unserem Umzug nach Metternich. Heute - eineinhalb Jahre vor meiner Pensionierung - spiegelt sich darin nach wie vor mein Lebensgefühl: Tagebucheintrag vom 8. August 2000 (aus: Komm in den totgesagten Park und schau):
"Heute ist mein zweiter Arbeitstag nach dem Sommerurlaub, und ich sitze morgens um 8.00 Uhr in meinem Büro. Das letzte 1½ Jahr auf dem Oberwerth. 2001/02 werden wir nach Metternich in eines der größtej laufenden Konversionsprojekte umziehen, fünf Minuten vor meiner Haustüre. Wehmut stellt sich ein, hier in der Stille in der kleinen Zwischenwelt nach dem Sommersemester. Die Uni ist ausgestorben. Im aufbrechenden Zeitalter des virtuellen Campus wirken die Scheingefechte um die „Präsenz-Uni“ gleichermaßen irritierend wie geisterhaft. Am präsentesten, körperlich gegenwärtig sind in dieser Uni diejenigen, die am ehesten die virtuelle Zukunftsvision verkörpern, die Informatiker. Sie können sich noch nicht ganz lösen – jedenfalls die materiellen Underdogs – von den Fesseln der Hardware. Aber diejenigen, deren körperliche und geistige Verfassung für Fesselungen solcher Art einfach keine viablen und passenden Schnittstellen aufweisen, genießen weiterhin die ungemeine Privilegiertheit eines Hochschullehrer-Daseins. Die Gänge, die Zwischenräume der Uni sind menschenleer. Es herrscht Ruhe. Ich komme mir dabei ungemein privilegiert vor. Mein Zimmer hier im Nordflügel des A-Gebäudes, auf der Rheinaue des Oberwerths gelegen, ist ein Refugium – zumindest für diese kleine Zwischenwelt. Heute Nacht hat es geregnet. Ich sitze hier im Dachgeschoss bei geöffnetem Fenster, höre die Vögel zwitschern und das entfernte dumpfe Wummern der Rheinschiffe. Ein schwerer, satter Spätsommertag gewinnt langsam Konturen. Es ist bewölkt und auf eine Weise grau und matt, wie ich es mag. Die stille, regennasse, feuchte Atmosphäre stimuliert mich. Hier und jetzt kann ich deutlich fühlen, warum ich glaube ein „Nordmensch“ zu sein. Die Sonne zu erahnen, sie auch zu spüren, aber immer die Aussicht zu haben, im mitteleuropäischen britisch-kühlnassen Regenklima tief durchatmen zu können, lässt mich leben und gibt mir innere Ruhe. Die beiden Fensterflügel, die erst in Brusthöhe beginnen, lassen nur einen Blick auf den grau verhangenen Himmel und die Kronen der Kastanienbäume und Akazien zu. Die Fensterflügel sind durch Sprossen in jeweils sechs Quadrate eingeteilt. Das untere rechte Quadrat des rechten Fensters lässt einen Blick zu. Die Baumkronen heben sich in unterschiedlichen räumlichen Distanzen vom Grau des Himmels ab. Geographisch und meteorologisch bekenne ich mich an dieser Stelle zum „Nordmenschen“ – vielleicht lege ich mit diesem Selbstbekenntnis die Grundlage für die wechselseitige Anerkennung ausgeprägten Eigensinns. Wenn Süd- und Nordmenschen ihre Eigenarten pflegen, kann daraus eine attraktive „Melange“ unterschiedlichster Anregungen entstehen!
Adrian: Respekt - für dieses sprachlich wie sentmentalisch beeindruckende Bekenntnis. Es wäre sicherlich verfehlt, in Deinem Alter nur von einer Marotte zu reden; bist und bleibst halt ein seltsamer Kauz, dem man ab und zu zurufen muss: Hallo, ist da jemand?
Josef: Ja, Adrian, ich bin hier. Ein schönes Ritual, das Du Dir da hast einfallen lassen. Wir behalten es bei. Und wenn Du den Eindruck hast, dass wir miteinander reden sollten, dann lass Deinen Weckruf verlauten.
Adrian: Einverstanden. Es war mir wieder einmal danach. Die Welt geht weiter. Ich hab da ein paar Fragen. Du hast mir ja erzählt, dass Du intensiv arbeitest. Aber ich bekomm nichts davon mit. Was treibst Du denn?
Josef: Das Semester ist zu Ende und der Prüfungsmarathon geht in die Endphase. Bis zum 17. August jeden Tag zwischen 15 und 25 Prüfungen. Und ich muss nach langer Zeit mal wieder einen Text fristgerecht liefern. Silke Allmann hat vor einem knappen Jahr die Initiative für eine Festschrift ergriffen. Wir wollen unseren Kollegen Winfried Rösler mit einer Festschrift überraschen. Er wird nach dem Sommersemester 2016 seinen Abschied nehmen. Das Rahmenthema ist mit der "Bildungsreise" vorgegeben. Du kannst Dir vorstellen, dass dies für einen Reisemuffel wie mich eine delikate Herausforderung ist. Und wir haben Claudias Ausstellungen vorbereitet!!! Gestern haben wir in Bad Neuenahr im Restaurant des Golfclubs Köhlerhof eine Ausstellung eröffnet. Die zweite folgt ab dem 8. September in der Gutsschenke Schaaf bei Stefan Pohl in Winningen. Was mich besonders freut, sind die positiven Reaktionen auf Claudias Werkschau im Internet.
Adrian: Schön zu hören. In Winningen bin ich dabei. Dass Dir das Reisethema gerade Recht kommt, kann ich mir vorstellen. Ich habe im übrigen Deine Attacke auf Hans Magnus Enzensberger gelesen. Was hast Du Dir denn dabei gedacht?
Josef: Den von Ijoma Mangold verantworteten Beitrag in der ZEIT hatte ich mir bei Seite gelegt und jetzt - nach fast einem Jahr - gründlich gelesen. Und ich war fassungslos. Seinerzeit bei ersten Überlesen, war der runtergegangen, wie warmes Öl. Beim zweiten Lesen dachte ich: "Was für ein kokettes, überhebliches mit Blindheit geschlagenes altes Arschloch." HME wird im November immerhin 86!
Adrian: Was bringt Dich so aus der Fassung? Ich weiß doch, wie sehr Du den Verfasser der "Geschichte der Wolken" verehrst!
Josef: Kokette Altersblödigkeit? HME hatte lange den Nimbus einer zum Vorbild tauglichen Ikone. Mit 85 Jahren bemerkt er, dass wir neben Kognitionen auch noch Emotionen in uns tragen: "Ursprünglich dachte ich, das hat alles mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen zu tun. Ich wollte das von meinen Intimitäten, von meinem Privatleben möglichst fernhalten. Aber es zeigte sich, dass das Ganze nicht verständlich war ohne die persönlichen Motive, die über die objektiv politische Seite hinausgehen." Das Ganze, und was sich dahinter verbirgt, ist der "Russische Roman", nach den Worten HMEs eine "amour fou" aus den 60er Jahren. Für sie verlässt HME Frau und Tochter. Er heiratet Mascha, von der er sich nach wenigen Jahren ebenfalls trennt. Beide sehen sich außer Stande, "diese Liebe alltäglich Leben zu können" und HME begreift seine Flucht über den Erdball als "Ausweichbewegung". Im Rückblick kommt es ihm wohl so vor, als bestehe der Lebenslauf aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann).
Adrian: Wie schön, dass Du jetzt auch noch HME darüber belehren und aufklären kannst, was sein Leben bestimmt und ausmacht.
Josef: Quatsch - er lüftet ein Zipfelchen und lässt sich von seinen Vertrauten ermuntern. Er lässt sich von Mangold zitieren und interpretieren: "'Ohne diesen russischen Roman', sagt Enzensberger (und man merkt, wie sehr es ihn erleichtert, dass er diese leichthändige Metapher für so etwas Persönliches zur Hand hat), 'kann man gar nicht verstehen, was diesen jungen Mann (von immerhin 36 und mehr Jahren, Anm. Verf.) zu diesen irren Bewegungen über den Planeten veranlasst hat. Was macht er da plötzlich in Kambodscha, in Amsterdam, in Stockholm? Dafür muss es ja Gründe geben, die eben auch mit einer Dynamik der Gefühle zu tun haben'."
Adrian: Und Du siehst Dich nun zutiefst darin bestätigt, der "Dynamik der Gefühle" zu ihrem Recht zu verhelfen?
Josef: Es könnte hilfreich sein, sich nicht - wie HME - im hohen Alter verwundert umzuschauen, um festzustellen, dass unser Leben kein Planspiel ist, und dass wir auch von so etwas wie Gefühlen beeinflusst sind.
Adrian: Davon war ja auch zuletzt die Rede - als wir vor ein paar Wochen zusammen saßen nach der Frage...
Josef: Hallo - ist da jemand? Das war der Weckruf Adrians an Ostern 2015 verbunden mit einem Rückblick auf Ereignisse, die auf ihre Weise einschneidend waren; in erster Linie Bienes Tod - oder auch die irritierende Wirkung, die der bibliophile Nachlass Ernst Begemanns über die von Rudi Krawitz ermöglichten Umwege auf mich ausübt. Nun hat mich Adrian auf eine neue Idee gebracht. Erzähl doch mal, was Dir aufgefallen ist.
Adrian: Mir fällt auf, dass Du zwar recht aktiv bist und in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen präsent bist, dass Du dabei interessante Geschichten in die Welt trägst, dass man aber dabei auch leicht den Überblick verliert. Also erstens musst Du Ordnung schaffen, und zweitens solltest Du Deine alte Idee der "Lyrographie" neu beleben.
Josef: "Ordnung"! Die ursprüngliche Idee, die sich in der Menüleiste darstellt, haben wir schon modifiziert. Es gibt jetzt das Menü: "Lesen lernen mit Luhmann" und vor allem habe ich Deine Anregung für eine erweiterte "Lyrographie" bereits angedacht. Auch hierzu gibt es ein eigenes gleichnamiges Menü. Mir ist selbst aufgefallen, wie sehr sich meine lyrische Produktion Lebenslauf- und Wendepunkt-orientiert verstehen lässt. Die technischen, netzwerkspezifischen Verknüpfungsmöglichkeiten eröffnen mir da völlig neue Dimensionen.
Adrian: Du hast eben - wie im Übrigen schon öfter - von "Vorkommnissen, die es in sich haben" geredet. Lässt Du Dich in Deinem Blog treiben von solchen "Vorkommnissen"?
Josef: Wenn man will, kann man das so sehen. Will man sich selbst und seinem Umfeld auf der Spur bleiben, stößt man zwangsläufig auf besondere Vorkommnisse oder eben auf die von mir in Anlehnung an Luhmanns Lebenslauftheorie häufig erwähnten "Wendepunkte". Im laufenden BLOG tritt dies in Erscheinung als der Versuch, bestimmte Phänomene - wie z.B. "Freundschaft" - systematisch zu durchdringen - oder eben auch situativ zu reagieren, wie ich es mit meinem Beitrag "Das Ende" versucht habe.
Adrian: Du musst Steffen mal fragen, wie man den Überblick zum "Startblog" transparenter gestalten kann. Vielleicht tanzt Du auch auf zu vielen Hochzeiten?
Josef: Könnte sein. "Inklusion" z.B. betrifft zwar uns alle - irgendwie. Die Diskussion darum wird allerdings vorwiegend in Fachzirkeln geführt. Deshalb stehen die entsprechenden Beiträge sowohl im Start-BLOG als auch im Uni-BLOG. Aber trotzdem hast Du Recht. Wir werden darüber nachdenken. Wir denken von Zeit zu Zeit immer wieder Mal über unsere Arbeit nach - zuletzt Ostersonntag 2015 mit Deinem bereits erwähnten "Weckruf", der mich von Zeit zu Zeit aufhorchen lässt:
Adrian: Hallo - ist da jemand? Dieser "Weckruf" ist jetzt auch schon wieder fast drei Wochen her. Und seit zehn Wochen gibt es erstmals wieder was zu lesen - Ausdruck einer Krise?
Josef: Nein! Heute ist Ostersonntag (2015)!
Adrian: "Hallo - ist da jemand?" (Fragt Adrian Ende Februar 2015 nach fast sechs Wochen "Funkstille")Wo bist Du? Bist Du überhaupt noch da? Seit fast vier Wochen gibt es kein Lebenszeichen von Dir! Hast Du keine Lust mehr - oder geht Dir der Stoff aus?
Josef: Dein Weckruf ist angekommen. Schön, dass mich jemand vermisst. Werner hat auch schon nachgefragt; sogar Claudia ist aufgefallen, dass seit geraumer Zeit Schweigen im Walde herrscht. Ich hatte anderes zu tun! Und das ist kein geheimnisumwobener Hinweis auf eine schöpferische Pause, sondern verweist auf alltägliche Vorkommnisse, die es in sich haben!
Adrian: Die was "in sich haben"?
Josef: Die Anregung zur Besinnung, zum Innehalten! So hat Rudi (Krawitz) z.B. die Bibliothek eines seiner akademischen Lehrer bzw. Kollegen geerbt und sie zur Archivierung unserem Institut überlassen. Da konnte ich einer ersten Sichtung nicht widerstehen und habe mich - wie zu erwarten - verloren. Ich weiß, was Du fragen willst! Bücher üben immer noch eine magische Anziehungskraft auf mich aus. In ausgedünnter Atmosphäre habe ich in unserem Archivraum mehrere Tage zugebracht und an die 60 Umzugskartons ausgepackt. Dabei kommst Du Dir vor, als säßest Du am intellektuellen Totenbett des Nachlassers. Du nimmst Buch für Buch in die Hände; das ein oder andere betrachtest Du natürlich genauer. Als 25 Jahre Jüngerer tauchst Du ein in die Hinterlassenschaften eines ungemein breit interessierten Zeitgenossen, worin sich dann wiederum die geistige Hinterlassenschaft abendländischer Kultur offenbart, angereichert durch Anmerkungen und Rezensionen. Das hat mich irritiert und zugleich darauf gestoßen, dass ich Ordnung bringen sollte in eine eigene Welt, die sich irgendwann als Hinterlassenchaft meinen Kindern aufdrängen wird. Im vorliegenden Fall haben sich Kinder und Enkel gleichermaßen entlastet und ein eigenes Zeichen der Wertschätzung (von Hinterlassenschaften) gesetzt: Ist man nicht bereit oder in der Lage, seinen (wahl-)verwandtschaftlichen Beziehungen zu Lebzeiten eine lebendige und wertschätzende Aura zu verleihen, muss man sich nicht wundern, dass ein bibliophiles Erbe in den Katakomben eines anonymen Archivs landet.
Adrian: Und was gabs sonst noch?
Josef: Es gab meinen 63sten Geburtstag, den ich kränkelnd mit Freunden und der Familie gefeiert habe. Was Adrian und ich in Zukunft miteinander bereden, wird immer aktuell und ganz oben platziert - auch wenn die Übergänge dann etwas holprig geraten! Mit der anschließenden Auslassung Adrians wird so ein Übergang markiert, denn er spricht mich auf einen meiner letzten Beiträge an. Aber seht selbst. Vielleicht eröffne ich jeden geschlossenen Gesprächsabschnitt einfach mit einer Datierung. Dann fallen die Anschlüsse bzw. die Zuordnungen leichter.
Adrian: Ich hab Deinen letzten Beitrag gelesen: "Gebrauche niemals den Imperativ!" Dass Du mich nicht einmal gefragt hast, ob ich dabei sein will, hat mich ziemlich enttäuscht!
Josef: Du warst doch in Paris! Ich bin gespannt, was Du zu erzählen hast. Einmal abgesehen davon, dass Du Dir den Kongress zu Ehren von Jürgen Habermas gegönnt hast, wollte ich Dich gar nicht erst den kognitiven und emotionalen Dissonanzen aussetzen, die mit der Schwanitzschen Interpretation des Luhmannschen Denkens einhergeht; jedenfalls dann, wenn man eine solche Dosis Habermas (hier in der Würdigung durch Alexander Kluge) genossen hat.
Adrian: Sehr rücksichtsvoll, aber überflüssig. Ich bin erwachsen und kann das aushalten, obwohl mir die gelehrte Art von Dietrich Schwanitz partiell auf den Zeiger geht.
Josef: Kann ich nachvollziehen. Der Schwanitz ist ein ziemlich arroganter Typ - das heißt: er war ein ziemlich arroganter Typ. Er ist ja 2004 leider verstorben.
Josef: Sag mal Adrian, hast Du eigentlich mitbekommen, dass wir Biene einschläfern lassen mussten?
Adrian: Du Blödmann, ich war doch selbst dabei - das scheint Dich ja sehr verstört zu haben! Wir sind doch am Freitag noch gemeinsam mit Anne zur Kehrkapelle gefahren. Dort sind noch letzte Fotos entstanden, von denen wir nicht wussten, dass es die letzten sein würden. Wir sind durch's Schrumpftal gefahren, haben bei Gerard noch einen Kaffee getrunken, Biene hat draußen gewartet. Deine Tochter Anne war es, die auf dem Rückweg Frau Nüsslein, die Tierärztin, angerufen hat. Die war Gottseidank noch in der Praxis. Um vier waren wir dort und nach einer ersten Untersuchung haben wir alle zusammengerufen, Deine Frau Claudia und Eure älteste Tochter Laura. Der Befund konnte nur noch die moribunde Biene erkennen lassen mit einem explodierenden Karzinom im Rachenraum; sie konnte kaum noch schlucken, und Ihr habt mir doch erzählt, dass sie die letzten beiden Tage nicht mehr gefressen hat und kaum noch trinken konnte.
Ich habe gesehen, wie Frau Nüsslein - nachdem alle da waren - Biene eine Beruhigungsspritze gegeben hat, sie noch einmal zu jedem von Euch hingegangen ist, sich auf ihre Weise verabschiedet hat, und dann ruhig eingeschlafen ist und schließlich ihre letale Spritze schon fast im Jenseits erhalten hat. Ich fand es beeindruckend, wieviel Tränen in so kurzer Zeit fließen können. Ihr habt Biene auf Euren Tränen weggetragen und in einem Grab im Garten Eures Hauses begraben. Die Nachbarn werden sich wundern, dass dort jetzt ein großes Windlicht steht, in dem Tag und Nacht eine Kerze brennt. Ihr müsst jetzt langsam einmal daran denken, Bienes Sachen zusammenzutragen, einen Ort suchen, sie aufzuheben, um irgenwann einmal darüber nachzudenken, ob es einen neuen Hund geben kann/soll.
Josef: Ja, entschuldige. Du hast Recht. Ich bin irritiert. Auch wenn ich klare Antworten gefunden habe, brauche ich Zeit, um Bienes Tod zu verdauen. Der obige Link und auch "Sterben ist kein Wunschkonzert" erscheinen durch Biene noch einmal in einem anderen Licht. Ich war ja schon fast 50, als Biene zu uns kam. Und weit über meinen 62sten Geburtstag hinaus hat sie uns alle vier begleitet. Du kennst Loriots Lebensmotto: "Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos!" Soweit möchte ich nicht gehen. Aber da ich meine gesamte Kindheit und Jugend mit Hunden verbracht habe und glücklich bin, dass auch meine Kinder Biene erleben durften, hab ich natürlich für diese Einstellung eine gewisse Sympathie. Bienes Körbchen habe ich übrigens heute - genau ein Woche nach ihrer Erlösung - weggeräumt. Allerdings ist das Leben ohne sie sehr ungewohnt. Da entstehen jetzt neue Freiheiten, die ich garnicht haben will. Wir werden darauf zurück kommen. Du willst ja von mir wissen, warum ich diesen Blog überhaupt begründet habe. Hier hast Du schon eine erste Antwort: Damit ich nicht alles vergesse. Der Blog begründet und birgt meine Kultur des Erinnnerns.
Adrian: Das wird überdeutlich. Es ist ja erst ein gutes halbes Jahr her, seit Du Deinen BLOG gestartet hat; und ich muss gestehen, für ein Ein-Mann-Unternehmen entfaltest Du eine beachtliche Aktivität! Mit Deinem Blog schaffst Du für Deine Gedanken- und Erinnerungswelt ein beachtliches Forum. Wie ist die Resonanz?
Josef: Ja, ja beachtliche Aktivität – stimmt schon, obwohl es partiell auch mehr Aktionismus ist. Für das, was ich mir vorstelle, fehlt mir die Zeit – oder vielleicht auch nur die Geduld? Die Blog-Aktivitäten führen mir sehr deutlich vor Augen, wie kostbar und begrenzt Zeit ist. Und vor allem gilt es an dieser Stelle einmal Steffen zu danken, ohne dessen Kompetenz und Ideenreichtum dieser Blog nie auf Sendung gegangen wäre.
Adrian: Mehr als 60 Beiträge in einem knappen halben Jahr; das hört sich doch eher nach einem guten „Wirkungsgrad“ an. Und was heißt Aktionismus? Ich erkenne eine Struktur und auch einen roten Faden! Oder siehst du das anders?
Josef: Klar – ich bleibe dabei: Der BLOG präsentiert sich unter der programmatischen Headline „VERBOTEN“; alle andere Beiträge erscheinen nachgeordnet. Es gibt also die Initialzündung, ein zentrales Motiv, einen Antreiber, wenn Du so willst.
Adrian: Das wird für einen Zufallsleser – oder auch einen interessierten bis ambitionierten Leser nicht ohne weiteres verständlich sein. Kannst Du ein wenig mehr Licht in diese etwas kryptisch wirkenden Motive bringen?
Josef: Ich versuche es mit Jochen Hörisch: Der spricht von der „Wut des Verstehens“. Vielleicht dient mir der Blog dazu, mich selbst zu heilen von dieser Wut des Verstehens, von der Wut und der ungestillten Sehnsucht, verstehen zu wollen, alles verstehen zu wollen! Und mit Karl Otto Hondrich verfolge ich vielleicht die Idee, die letzten Tabus zu respektieren; das Tabu des Tabus sozusagen. Dieses Motiv hab ich gleichermaßen bei Roland Barthes entdeckt. Den hab ich selbst verkauft als „den größten Mythenentzifferer der Gegenwart“ und hab ihm gleich Niklas Luhmann zur Seite gestellt. Aber herausgekommen ist dabei das Eingeständnis mit jeder Mythenentziffererung neue Mythen zu begründen – oder theoriebezogen: die Kontingenz allen menschlichen Tuns und Denkens einzugestehen. Wir benötigen eine „kontingenzgewärtige Lebenslauftheorie“ (Luhmann), eine „kontingenzgewärtige Theorie des Unterrichts“ (Wolfgang Meseth im Anschluss an Luhmann): Alles könnte auch ganz anders sein – und vor allem: Man kann die Dinge und die von uns konstruierten Zusammenhänge immer auch anders sehen!
Adrian: Mein Gott, es ist wie immer. Man stellt Dir eine einfache Frage und heraus kommt was extrem Verquastetes. Was soll ich damit anfangen, glaubst Du, das trägt zum Verständnis oder auch nur zu einer entspannteren Selbsteinschätzung bei?
Josef: Gewiss, ich weiß. Verstehst Du Dich selbst? Verstehst Du, was um Dich herum geschieht, oder – bezogen auf meinen letzten Beitrag: Gelingt es Dir – um mit Nicole Zepter zu sprechen – Dein Bedürfnis nach Sinn und Sinnzusammenhängen zu befriedigen?
Adrian: Weiß ich nicht, muss ich auch nicht immer wissen. Würde ich mein Leben ständig danach ausrichten, käme ich nicht mehr zum Leben! Auf der anderen Seite: Ich habe sowohl Deinen Beitrag: „Bin ich wie meine Mutter“ als auch den Original-Bericht von Nicole Zepter im ZEIT-Magazin gelesen. Ihr gelingt es doch Licht und SINN hineinzutragen in ein chaotisches Leben. Und mit der Frage: „Bin ich wie meine Mutter?“ beginnt doch eine erhellende Spurensuche und eine gleichermaßen grandiose wie lösungswirksame Revitalisierung! Und Du hast doch mit „Hildes Geschichte“ genau dasselbe gemacht. Unter den Titel Deines letzten Beitrags: Bin ich wie meine Mutter? setzt Du einen Link: „Wir müssen uns auf die Socken machen“! Bekenn Dich doch einfach zu dem zentralen Motiv, das Dir Alexander Kluge hier anbietet!
Josef: Du bist ein alter Fuchs! Ich liebe diese Passage im Interview, dass Denis Scheck mit Alexander Kluge anlässlich seines 80sten Geburtstages geführt hat. Und ich weiß, dass hinter dieser Position in diesem Leben nichts mehr kommt. Wir stehen hier am Abgrund – oder milder ausgedrückt: mit dem Rücken zur Wand. Und ich gebe Dir Recht, von dort aus kann man vorne schauen, und auch nach vorne gehen. Der Weg ist frei:
„Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen [...] wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern, in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen.“
Aber natürlich ist dies keine absolute Freiheit: Wir sind frei uns Gedanken zu machen, und wir sind im Rahmen der Erwartungen, denen wir ausgesetzt sind, auch frei, diese in Kommunikation und Handeln zu übersetzen. Kontextualisierung, die gedankliche und auch sozial folgenreiche Auseinandersetzung mit dem, was Sozialwissenschaftler oder auch Geschichtswissenschaftler Referenzrahmen nennen, setzt für Alltagskommunikation Grenzen; Grenzen, die immer weiter ausgedehnt werden und die trotz wachsender Freiheitgrade verschwimmen; Grenzen, die sich im Laufe eines langen Lebens verschieben, die überschritten werden und die vor allem zu neuen Betrachtungsweisen und auch Bewertungen führen.
Adrian: Wie jetzt? Was ist das jetzt schon wieder für eine gequirlte Scheiße. Warum musst Du immer Herum-Eiern? Kannst Du nicht mal Klartext reden, auf den Punkt kommen? Was sollen diese ständigen Relativierungen?
Josef: Die Welt ist natürlich nur so, wie ich sie sehe, und gleichzeitig ist sie natürlich ganz anders, so wie andere sie sehen. Welchen Sichtweisen und Weltdeutungen schließen sich Menschen denn an? Menschen folgen Sicht- und Vorgehensweisen und, die sich bewährt haben und die von anderen mit überzeugenden Argumenten und Haltungen vertreten werden. Manchmal folgen Menschen anderen Menschen auch nur, weil sie über die Macht und den Einfluss verfügen, ihre Sichtweisen und Überzeugung auch durchzusetzen. Ich halte mich schon lange an Luhmanns Devise, dass es nicht mehr darum geht, den Menschen die Welt zu erklären, sondern allenfalls sich selbst oder anderen dazu zu verhelfen von einem „unlebbaren zu einem weniger unerträglichen Realitätskonstrukt“ zu kommen. Und die „gequirlte Scheiße“ weist lediglich darauf hin, dass wir alle einen Weg finden müssen, um mit Erwartungen umgehen zu können und Erwartungen unsererseits auch geltend machen zu können. Der Schule kommt hier nach wie vor eine zentrale Funktion zu, auch eine erzieherische. Sie steht im Brennpunkt widersprüchlichster Erwartungen. Schau Dir „Fack Ju Göhte“, „Das Trauma überwinden“, „Manche Menschen sind superwichtig“ an oder auch zuletzt „Bin ich wie meine Mutter“. Da kannst Du doch sehen und lesen, was ich meine!
Adrian: Liest denn überhaupt jemand Deine Sachen?
Josef: Das wäre natürlich schön. Man kann mir bei meinen Tast- und Orientierungsversuchen zuschauen. Man kann auch darauf reagieren. Es geht – wie ich in VERBOTEN argumentiere – schlicht darum, dass wir überhaupt eine Vorstellung von der Welt und von uns selbst gewinnen und sie im Kontext anderer Positionen spiegeln und auch hinterfragen können.
Adrian: Immerhin! In den letzten Wochen hast Du Dich auf „FJ ZEIGT und SPIEGELT“ beschränkt. Du greifst Themen auf, die Dir die Tages- und Wochenpresse anbieten. Wo bleiben Deine erzählerischen und lyrischen Ambitionen?
Josef: Das stimmt. Wenn nichts geht, halte ich mich - frei nach Niklas Luhmann - an die Devise, alles was wir wissen, wissen wir aus Medien. Die themenspezifische Agenda spiegelt sich immer noch in den meinungsbildenden Printmedien wider. Donnerstags stehe ich beispielsweise meist schon um 6 Uhr in der Frühe auf, weil dann bereits die ZEIT im Briefkasten ist. Und da ich kein origineller Denker bin, sondern immer auf Anregungen angewiesen bleibe, liegt es nahe, den Wind aus den Medien zu nutzen. Ein typisches Beispiel ist die aktuelle Debatte um gesetzliche Regelungen zur Sterbehilfe in Deutschland.
Adrian: Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Liest jemand Deine Sachen? Bekommst Du Rückmeldungen? Wie reagiert Dein Umfeld?
Josef: Als ich mit meinem Blog anfing, überwog die Faszination, die Texte und Ideen der letzten Jahre in ein großes Netzwerk einzubinden. Davon bin ich immer noch absolut fasziniert. Die Verlinkung von (eigenen) Texten und dem, was meine Angeln im Internet zu Tage fördern, bedeutet einfach eine andere Qualität: Einerseits kann man sehen, was einen Schreiber umtreibt und wovon er sich beeinflussen lässt – andererseits erweitert sich der eigene Horizont, indem die Fischerei im Internet weder Fangquoten unterliegt noch Tabuzonen ausweist. Zu Deiner Frage die Rückmeldung einer Studentin – zwar seminarbezogen, aber aber immer auch meine Blog-Aktivitäten einschließt.
„Ich bin sehr dankbar, dass Sie, als ein Mensch, der schon mit mehreren schlimmen Erfahrungen konfrontiert wurde, ein Seminar konzipiert haben, in dem man offen über Tod und Trauer reden und alles reflektieren muss (denn viel zu viele, wie ich auch, würden es sonst einfach weiter als ‚Päckchen’ mit sich tragen, in der Hoffnung, dass es sich irgendwann verflüchtigt).“
Da wird ein weiteres, zentrales Motiv sichtbar: Der totalen Verflüchtigung unserer Erfahrungen, der totalen Verwischung unserer Spuren, die wir verursachen, etwas entgegenzusetzen!
Adrian: Das ist aber jetzt nicht Dein Ernst? Andere sind vor allem daran interessiert, als ihre Spuren zu verwischen, und Du willst dem Einhalt gebieten?
Josef: Keine Ahnung, worauf Du diese Beobachtung begründen willst. Menschen produzieren im Internet sekündlich Hekatomben von Spuren und Fuß- und Fingerabdrücken und was sonst noch. Zugegebenermaßen deckt sich das nicht mit meinen Motiven; die sind eher vergleichbar mit dem oben erwähnten Versuch Nicole Zepters Licht ins biografische Dunkel zu tragen, um nicht mehr völlig dumpf und orientierungslos durch die Welt zu irren und dabei von einer Krise in die nächste und von einem Konflikt zum anderen zu driften.
Adrian: Aber Du gibst doch zu, dass dies in der Regel erst der Fall ist, wenn Menschen Probleme mit sich und anderen bekommen, wenn sie an Leib und Seele erkranken und im Umgang mit anderen Menschen, z.B. auch in der eigenen Familie an Grenzen stoßen und scheitern.
Josef: Ja klar, genau das trifft ja auf mich zu. Vor gut zwanzig Jahren begann ich mich selbst ja heillos zu verstricken und das zu produzieren, was Peter Sloterdijk in seiner Totenrede auf Niklas Luhmann als eine „ohne Zweifel fehlgesteuerte oder misslungene Autopoiese“ bezeichnet hat, die – wenn man ihr abhelfen wolle – in therapeutischer Einstellung studiert werden müsse; auf Deutsch gesagt, ich habe kräftig und über längere Zeit am Rad gedreht und neben meiner Wenigkeit mein gesamtes Umfeld (einschließlich unbescholtene Menschen, wie seinerzeit R.B.K.) irritiert, um dann - nach drei Jahren intensiver therapeutischer Begleitung und Ausbildung – gewissermaßen zurückzukehren zu erfolgreicheren Versuchen, systemisch (innerhalb der Familie und auch des Freundeskreises) Akzeptanz zu finden für meine „Autopoiese“.
Adrian: Du gibst also hier unumwunden zu, dass Du ordentlich eins an der Klatsche hast/hattest?
Josef: Ja, genauso, wie Nicole Zepter und viele andere es beschreiben: Ich habe gelernt, den Realitätsglauben als eine auswechselbare Größe zu begreifen!
Adrian: Wie jetzt? Du hast einfach „Realitäten“ ausgewechselt – kaputter Motor raus, reparierter Motor rein – und schon läuft die Kiste wieder?
Josef: Entschuldige, ja der Eindruck kann natürlich entstehen. Gemeint ist aber, dass man in einem langen, langen Leben mit seinen Höhen und Tiefen – mit seinen Wendepunkten – lernen muss und lernen darf, dass sich in der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart die Betrachtungs- und vor allem die Bewertungsweisen verändern. Und dies lässt sich zugegebenermaßen nicht allein theoretisch, abstrakt und ohne Praxis erfahren. Wendepunkte (siehe Lebenslauftheorie) markieren neben erfreulichen Ereignissen in der Regel auch Krisen auslösende Erfahrungen: Man schließt die Schule ab, beginnt und beendet ein Studium, findet Arbeit, verliebt sich (wie vielleicht schon früher einmal), verlobt sich, heiratet, gründet eine Familie, Kinder werden geboren, manchmal gehört es schon früh zu einem Leben - wie unvermeidbarer Weise zu einem langen Leben, dass Freunde und die Liebsten erkranken und sterben, man verliebt sich (neu), trennt sich, lässt sich scheiden, heiratet jemand anderen, trennt sich erneut, kommt wieder zusammen (mit wem auch immer), verliert seine Arbeit, Einkommen, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Man ramponiert und strapaziert Beziehungen und Freundschaften, ergeht sich im Suff, in Arbeit oder anderen Drogen; und beginnt – im besten Fall – irgendwann sich zu besinnen. Und wenn man Glück hat, sind Menschen da, die einen dabei unterstützen.
Adrian: Und das hat etwas zu tun mit der Vorstellung den Realitätsglauben als eine auswechselbare Größe zu begreifen?
Josef: Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass sich in dieser Einsicht der Schatz verbirgt, den ich mit meinem Blog enthüllen – oder vielleicht auch nur bergen will: Luhmann sagt in der Auseinandersetzung mit Therapeuten, therapeutische Praxis dürfe nicht länger als erfolgreiche Anpassung des Subjekts an eine vorgeblich objektive Realität verstanden werden, sondern als Austausch eines unlebbaren Realitätskonstrukts gegen ein weniger unerträgliches. Wer mich vor meiner Krise und in meiner Krise gekannt hat, der weiß, dass die Formulierung „weniger unerträglich“ – zumindest in meinem Fall – ersetzt werden kann zumindest durch "realitätstauglicher“ oder "lebenstauglicher"!
Adrian: Das hört sich sehr an nach Besinnung und Läuterung!
Josef: Vielleicht war ich früher ein Kämpfertyp, vor allem auch jemand, der seine Überzeugungen kämpferisch vertreten hat mit der Konsequenz auf diese Weise auch stark zu polarisieren. Immerhin musste ich mich zu meiner Studentenzeit vor dem Landgericht Koblenz wegen Landfriedensbruch und Nötigung verantworten. Nach meiner Wende – ist mir mal eine Formulierung von Peter Sloterdijk aufgefallen, die ich im Zuge dieser Wende gerne stärker verinnerlichen würde: „Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als ein Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ Dies geschieht immer dort, wo Menschen allein ihre Sichtweise und Bewertung der Dinge gelten lassen - sowohl im privaten Raum (der Familie) wie auch im öffentlichen Raum (der Politik).
Adrian: Kannst Du mir eigentlich noch einmal erklären, was das mit dem "VERBOTEN" soll - meinst Du nicht, dass Du damit viele Leute auch abschreckst oder zumindest irritierst?
Josef: Irritieren ist ok. Wer sich dann nicht abschrecken lässt und neugierig geworden ist, der kann natürlich über den Text meine zentralen Motive nachlesen. Und inzwischen gibt es ja mit "Schamverlust - eine Selbstverortung" eine weitere wichtige Ergänzung.
Adrian: Schämst Du Dich denn nicht, wenn Du eine öffentliche Selbstverortung unter der Vorgabe des Schamverlustes vornimmst?
Josef: Nein, da unterliegst Du vermutlich einem Missverständnis. Ausgangspunkt ist Ulrich Greiners Annahme, im Komplex aus Schuld und Scham und Peinlichkeit die "stärksten Antriebskräfte" zum Beispiel für die Entstehung von Literatur zu sehen: "als Ausdruck eines unlösbaren Konflikts, als rückwirkende Schambewältigung, als Erklärungsversuch des Unverstandenen, vielleicht gar Unerklärbaren." Genau da finde ich mich wieder und bin mir gewiss, mitten drin zu stecken in einem Prozess unzureichender Erklärungsversuche.
Adrian: Das verstehe ich nicht. Das versteht niemand! Welche Scham hast Du zu bewältigen, welchen "unlösbaren Konflikten" fühlst Du Dich ausgesetzt? Was verstehst Du nicht?
Josef: Nehmen wir einmal meine Familiengeschichte. Erst vor gut drei Jahren - in einem Alter von fast 60 Jahren - war ich in der Lage, Facetten dieser Geschichte aufzuschreiben. Und ich habe sie aufgeschrieben im Grundtenor einer schuldhaften Verstrickung. Wenn ich von Verstrickung rede, dann beinhaltet dies ein filigranes Netzwerk, in dem sich die handelnden Akteure verstricken. Diese schuldhafte Verstrickung meint in erster Linie die Schuld, die meine Mutter auf sich geladen hat, indem sie meiner Schwester bis in ihr hohes Erwachsenenalter verschwiegen hat, wer ihr Vater ist. Deshalb spreche ich von "Hildes Geschichte". Und Schuld wird kursiv gesetzt, weil ich nicht von absoluter Schuld reden kann und mag. Aber jeder hat das Grundrecht zu wissen, wer sein Vater und wer seine Mutter ist. Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass ich Sönke Neitzel und Harald Welzer dankbar bin für die Einführung dessen, was sie den jeweiligen politischen und kulturellen Referenzrahmen nennen (siehe auch "Gespräch mit Franz Streit" - Vater meiner Schwester), ohne dessen Berücksichtigung man das Verhalten und Handeln von Menschen nur hoffnungslos verfehlen kann. Hilde, (Ullas, Willis und meine Mutter) hat unter den Erwartungen ihrer Zeit verständlich gehandelt, indem sie - aus Scham und Schuldgefühlen heraus - den Spätsommer 1941, ihre Erweckung zur Frau durch Franz Streit und die anschließende Schwangerschaft - niemals, zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens offensiv thematisiert hat. Das Klima des schambedingten Schweigens hat auf subtile und latente Weise die Atmosphäre in unserer Familie zutiefst geprägt. Die 10 und 13 Jahre jüngeren Brüder erlebten die Kindheit als Prinzen (siehe "Komm in den totgesagten Park und schau", S. 61-148), heiß ersehnte Wunschkinder, überschüttet mit Liebe, Zuwendung und Fürsorge, während wir früh Zeuge wurden von recht herben Konflikten zwischen unserer Schwester und unserer Mutter. Diese deutliche Differenzerfahrung war - so sehe ich das im Rückblick - schambegründend und schamauslösend. Niemand kann unvoreingenommen und unbelastet das eigene Glück genießen, während im unmittelbaren (familialen) Umfeld zuwendungsbetonte Unterschiede gemacht werden im liebevollen Umgang der Mutter mit ihren Kindern. Unser Vater, der nicht der Vater unserer Schwester ist, hat hier ausgleichend gewirkt, was unsere Schwester ihr Leben lang betont hat und in ihrer Festrede zu seinem 65. Geburtstag - 14 Tage vor seinem Tod - noch einmal besonders herausgestellt hat.
Adrian: Du musst hier nicht die ganze Geschichte erzählen. Man kann sie ja nachlesen. Aber ist das nicht trotzdem ein wenig weit her geholt, wenn Du aus all dem Geschilderten eigene Scham und eigene Schuld ableitest?
Josef: Vielleicht kannst Du nun verstehen, warum ich mich mit Wahrheiten so schwer tue. Ich beschreibe ja Grundstimmungen, die sich vermutlich in der Zeit der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein ausgebildet und verfestigt haben; Grundeinstellungen, die unsere Weltsicht und insbesondere unsere Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung umfassend prägen. Ich hatte immer das Gefühl und den Antrieb etwas ausgleichen zu müssen. Meine Mutter begegnete mir und meinem Bruder auf andere Weise - gewissermaßen mit vorbehaltloser und unbedingter Liebe. Wie kommt man als Muttersohn - als Muttersöhne - damit klar, dass die eigene Schwester eher wie Aschenputtel behandelt wird? Verrückt und ungewöhnlich ist sicherlich, dass wir Brüder immer an der Quadratur des Kreises gearbeitet haben: die Beziehung zur Schwester nicht zu verlieren und gleichzeitig den Prinzenstatus nicht zu gefährden; mehr noch: der vorbehaltlosen Liebe der Mutter auch gewachsen zu sein! Wir haben - gemeinsam mit unserer Cousine - Wege gefunden, uns dieser Quadratur des Kreises anzunähern, indem wir alle Liebe (und alle materielle Unterstützung) stellvertretend auf unseren Neffen übertragen haben. Zuletzt haben wir gegen die Mutter - aber eben auch noch mit ihr - Licht ins Dunkel unserer Familiengeschichte getragen. Dies hat unser Vater nicht mehr erlebt und auch Willi, unser Bruder hat die Auflösungen in "Hildes Geschichte" nicht mehr erlebt. Aber Hilde, unsere Mutter, hat immerhin noch die Gelegenheit gehabt und auch angenommen, die beiden anderen Brüder ihrer Tochter, Gert und Werner, - die Söhne von Franz Streit - kennenzulernen. Unsere Familiengeschichte nähert sich einem versöhnlichen Ende - sofern man von Ende reden mag, wenn sich die lange Dunkelheit zu lichten beginnt. Es ist nur eine Lichtung. Von dem Preis, den wir alle zahlen bzw. bezahlt haben im Kontext der angedeuteten Verstrickungen haben wir vermutlich nur eine Ahnung.
Adrian: Was bedeutet das für Deine Schuld- und Schamgefühle?
Josef: Sie haben sich relativiert, und ich habe aus der Blindheit des Tuns wieder Handlungsoptionen gewonnen.
Adrian: Blindheit des Tuns?
Josef: Ja - es ist mehr Licht in der Welt, aber die blinden Flecken verschieben sich nur, wie der Horizont, den wir zu erwandern meinen, den wir aber nie erreichen. "Die Mitte fühlt sich leicht an", hat Bert Hellinger einmal gesagt. Und meine intensive Aufstellungswoche 1998 bei Gunthard Weber und das anschließende Lehrjahr in systemischer Familientherapie bei der IGST in Heidelberg hat mir da wendepunktfähige Zugänge ermöglicht.
Adrian: "Die Mitte fühlt sich leicht an" - das macht mich neugierig. Hast Du vielleicht Beispiele, die verdeutlichen können, was damit gemeint ist?
Josef: Oh man, oh man - das geht ans Eingemachte! Aber ich glaube es gibt im Kontext der Aufstellungsarbeit Beispiele, die verdeutlichen können, was da geschieht. Allein der Weg nach Heidelberg zur Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie markiert einen Wendepunkt, der völlig neue Weichenstellung innerhalb eines komplexen Lebenslaufgeschehens zur Folge hatte bzw. ermöglichte. Ich hab ja schon mehrfach betont, dass eine immer manifester werdende Krise - verbunden mit dem Unfalltod meines Bruders am 21. Juni 1994 - den Hintergrund bildet. Dass sich ein Mann eine andere Frau sucht, kommt vor. Bei mir war es - eingedenk aller blinder Flecken - das Ergebnis von Frust, Stagnation und völliger selbstbildbezogener Desorientierung. Die romantikfähigen Anteile lasse ich jetzt bewusst außen vor. Da gäbe es schon noch ein Feld zu beackern. Die reinen Fakten lassen sich zusammenfassen auf den Sturz in eine romantische Verliebtheit mit achterbahnspezifischen Erlebensqualitäten von "Himmel hoch" und "zu Tode betrübt". Übrig blieb nach einem halben Jahr des Kunstfluges unterm Sternenhimmel nur noch ein "zu Tode betrübt" auf dem Hintergrund einer in Aussicht stehenden Trennung, verbunden mit dem Verlust des Lebenspartners und elementarer zugehörigkeitsabhängiger und geborgenheitsverbürgender (Er-)Lebensqualitäten in meiner Familie mit unseren beiden Töchtern (siehe: "Das Trauma überwinden").
Die Aufstellungswoche ermöglichte uns Teilnehmern sowohl die Aufstellung unserer Herkunftsfamilie als auch der Gegenwartsfamilie. Im Zuge der Aufstellung letzterer fragte Gunthard Weber, nachdem meine Frau und meine Kinder aufgestellt waren, ob es noch andere bedeutsame Andere gäbe, die in der Aufstellung Berücksichtigung finden müssten, z.B. aktuelle oder verflossene Geliebte? Mit einer Mischung aus Betroffenheit, Verlegenheit und Unsicherheit stellte ich meine verflossene Geliebte auf und erlebte dann Guthards diskrete Moderation, die schließlich - hier jetzt extrem verkürzt wiedergegeben - in folgenden lösenden Hinweisen endete:
"Stell Dich vor Deine Geliebte, schau sie an und sage ihr: 'Ich danke Dir für alles, was Du für mich getan hast - ich lasse Dir Deinen Teil und nehme mir meinen Teil unserer Geschichte. Es tut mir leid, wenn ich Dich gekränkt und verletzt habe. Ich werde Dich zukünftig in Ruhe lassen und meinen eigenen Weg gehen'."
Gunthard wies am Ende der Aufstellung darauf hin, dass diese Frau in meinem Leben eine große Bedeutung gehabt habe, dass ich ihr zu Dank verpflichtet sei, dass sie in Zukunft aber keine Rolle mehr in meinem Leben spielen werde. Meine eigene unmittelbare Betroffenheit in der jetzt erinnerten Zeit vermag ich nicht mehr authentisch wiederzugeben. Interessant und gegenwartsmächtig ist aber die Tatsache, dass sich Gunthards Zukunftsbild vollständig bestätigt hat.
Adrian: Klingt ja märchenhaft!
Josef: Ja, ich leg gleich fünf Euro ins erweiterte Phrasenschwein. Wenn Du meinen Blog verfolgst, siehst Du ja, dass mich Trennungs- und Scheidungsgeschichten besonders interessieren - und ganz besonders dann, wenn Kinder davon betroffen sind. Die blinden Flecken hab ich eingeräumt. Andererseits hab ich mit Claudia - und haben wir als Familie - bisher eine Geschichte geschrieben, die ich weiter oben ja schon eingeordnet habe als grandiosen Wechsel von einem Realitätskonstrukt erster Ordnung, das Dich - wenn Du daran festhältst - beharrlich und unauflöslich in Deinen tradierten Beziehungs- und Konfliktmustern fesselt und blockiert in Realitätskonstruktionen zweiter Ordnung, die Dir wenigstens eine Auseinandersetzung mit Deinen tradierten Mustern ermöglicht - eingedenk aller blinder Flecken.
Adrian: Und Du hast zwischendurch nicht das Gefühl, dass Du Dich um Kopf und Kragen redest - so als leutseliger Erzähler und Plaudertasche?
Josef: Ja klar, den Aussetzungsphantasien Peter Sloterdijks hab ich nichts hinzuzufügen; im Gegenteil ist mir der "mörderische Beobachter" in jeder Lebenslage bestens vertraut. Ich kombiniere ihn mit ironietechnischen Anreicherungen ("Warum erfindet man eine Mohnfrau"), so dass mir weder der Humor abgeht noch eine gründliche Übung hinsichtlich einer gediegenen "Selbstdesinteressierung" erspart bleibt bzw. vorenthalten wird.
Adrian: Wenn das so ist, müsst ihr euch ja ziemlich gläsern vorkommen, als Paar- oder gar Familiensystem, deren Mitglieder füreinander durchsichtig sind.
Josef: Mach Dir da mal keinen Kopf bzw. denk mal drüber nach, was wir beide hier gegenwärtig treiben. Ich schlag Dir ein kleines Experiment vor. Zeitaufwand: eine Minute - Kosten: keine! Wir schweigen für eine Minute, das sind 60 Sekunden unserer kostbaren Zeit und finden heraus, was geschehen ist.
Eine Minute später:
Josef: Nun, hast Du gesehen, wie meine Gedanken in farbigen Leuchtbuchstaben über meine Stirn liefen - ich habe jedenfalls bei Dir nichts Vergleichbares beobachtet. Peter Fuchs verdeutlicht auf diese Weise im Anschluss an Niklas Luhmann seinen Studenten, dass soziale Systeme bewusstseinsfrei operieren - im Modus von Kommunikationen, in einem Netzwerk von Kommunikationen, die immer nur an Kommunikationen anschließen. Was Du gedacht hast - und im übrigen auch jetzt und immer denken magst - bleibt für mich völlig intransparent, eingeschlossen in ein System (ein Innen), das wir Bewusstsein nennen oder meinetwegen auch Psyche. Dessen Eigenart ist es in Gedanken zu operieren, die in einem Netzwerk von Gedanken nichts als Gedanken produzieren. Schau bei Niklas Luhmann nach. In verschiedenen Kontexten findest Du Hinweise zur Beantwortung der Frage, was Kommunikation denn sei.
Adrian: Ich denke, Du bist ein Spinner!
Josef: Ja, aber...