21. Juni 2014
Vor 20 Jahren in der Frühe des 21. Juni 1994 seid Ihr L O S G E W I N N E R (einer Tombola des SC 07) losgeflogen – von Bad Neuenahr mit einer viersitzigen Sportmaschine. Ihr seid bis nach Landshut gekommen, wo Euer Flugzeug um 10.04, wenige Kilometer vor dem Flugplatz, wie ein Stein vom Himmel gefallen ist. Die vier Insassen, unter denen Du - mein Bruder Willi - bist, sind auf der Stelle tot (siehe auch: Abschied von Willi)
Das Bundesluftfahramt in Braunschweig wird tätig und untersucht das Geschehen. Der auffälligste Befund ist, dass die Maschine nicht gebrannt hat. Sie verfügte über keinen Tropfen Benzin mehr.
Wenige Tage nach den Ereignissen fährt Günther Wirtz, Dein und mein Onkel, der Mann der Schwester unseres Vaters, nach Landshut und nimmt die Absturzstelle in Augenschein: Abgeerntete Getreidefelder, flaches, plattes Land. Alle schütteln den Kopf und kommen zu dem Ergebnis, dass es für einen erfahrenen Piloten kein Problem sei, dort eine Sportflugzeug notzulanden – N O T landen!?
Ja, N O T L A N D E N!
Euer Pilot soll ein erfahrener Flugzeugführer gewesen sein. Irgendwann erzählt jemand, er habe nach seiner Pensionierung als Angehöriger des fliegenden Personals der Bundeswehr als Fluglehrer arbeiten wollen – die Lizenz sei beantragt gewesen bzw. habe vor der Beantragung gestanden.
Verbürgt – über das Logbuch – sind wohl Flugbewegungen Eurer Maschine zwischen Mönchsheide und Bad Neuenahr am Abend vor Eurer Wochenendtour nach Zell am See in Österreich.
Ein Fluglehrer, der seine Maschine aus Spritmangel notlandet – jede Notlandung wird untersucht! Jede Untersuchung hätte
S P R I T M A N G E L festgestellt: quod erat demonstrandum! Die Maschine hat nicht gebrannt.
Könnte es sein, dass hier jemand gepokert hat um die wenigen Kilometer bis zur regulären Landung, mit der jedes Versäumnis folgenlos geblieben wäre?
F O L G E N L O S - L O S G E W I N N
Die Resignation und die Verzweiflung haben alles Lebendige für geraume Zeit zugedeckt, haben uns betäubt und haben uns über zwanzig Jahre zuletzt Demut gelehrt, neben der Dankbarkeit, die bis heute alle verbindet, die Dich gekannt haben.
Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ja, er ist die Form für die unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens. Das haben wir alle lernen müssen!
All die Erinnerungsfetzen zu den Umständen der Geschehnisse von 1994, die mich bedrängt haben, die mich wütend und unversöhnlich gemacht haben, sind nicht ausgelöscht. Aber ich möchte die Energie, die sie beansprucht haben, in andere Bahnen lenken. Sie sollen der Erinnerung an Dich dienen; der lebendigen Erinnerung, wie es zum Beispiel mein Tagebucheintrag am 21.6.2003 zeigt:
„21/06/03
Heute jährt sich Willis Todestag zum neunten Mal. Um 12.10 Uhr sitze ich hier oben auf dem Friedhof an Willis Grab. Mama ist heute aus Bad Bertrich zurückgekommen. Sie war schon morgens mit Helga auf dem Friedhof.
Lieber Willi, so gut es gehen konnte, ist es weitergegangen. Deine Kinder sind gesund und gehen ihren Weg. ‚Aus der Ferne‘ schaue ich immer mit Wohlwollen auf das sonnige Gemüt und die Beziehungsfähigkeit und –lust Ann-Christins, auf die beharrliche Art und Weise, wie Kathrin sich ihren Weg sucht und sich das Ihrige nimmt. Sie hat übrigens ein außerordentliches Talent und große Lust zum Schreiben – einen ersten Roman hat sie bereits vollendet. Es ist deutlich mehr Zuversicht als Skepsis, obwohl ich weiß, oder eher spüre, dass beide an die Punkte einer Auseinandersetzung mit dir erst noch kommen. Helga hat es gut gemacht und wird im Rahmen einer Normalität vielleicht auch ‚belohnt‘ für den mutigen Weg, den sie geht – ich hege eine stille Bewunderung für sie, obwohl immer auch die Grenzen des Möglichen durchscheinen. Insbesondere Ann-Christin hätte gerne mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung – und sie benötigt sie auch. Umso mehr freut mich, dass Laura und Ann-Christin – hoffentlich – eine tragfähige Beziehung zueinander aufgebaut haben.
Rudi Dutschke schreibt irgendwo in seinen Tagebüchern, jeder habe sein Leben ganz zu leben. Dass deines nicht einmal 39 Jahre dauern durfte, schmerzt heute deine Kinder und die, die dir am nächsten waren in besonderer Weise. Ich ziehe selbst die Lehre, alle Tage, die mir gegeben sind, zu leben in Zuversicht und Verantwortung gleichermaßen. In der Haltung, das Boot auch kentern zu lassen, und in dem, was sich daran anschließt, mühe ich mich oft mehr, als dass ich pure Lebenslust und kraftvollen Lebensfluss verkörpere. Nein, hinter der Oberfläche, tief im basso continuo, waren wir uns doch ‚offensichtlich‘ näher, als es der Anschein vermuten ließ. Vielleicht komme ich jetzt etwas öfter hierher und erzähle dir einfach von dem, was so geschieht und wie es weitergegangen ist.“
Heute, am 21. Juni 2014, elf Jahre nach diesem Tagebucheintrag kann ich Dir, lieber Willi zumindest berichten, dass Deine Kinder ihren Weg konsequent weitergehen. Ann-Christin hat etwas geschafft, was gegenwärtig ungewöhnlich und jenseits aller Normalität ist. Sie hat fast nahtlos nach ihrem 2. Staatsexamen als eine von wenigen eine volle Stelle im rheinland-pfälzischen Schuldienst angetreten.
Kathrin hat in Koblenz ihren Bachelor in Kulturwissenschaften abgeschlossen und steht nach dem Wechsel an die Uni Bonn kurz vor der Abgabe ihrer Masterarbeit. Du kannst stolz auf Deine Kinder sein, und auch Helga ist ihren Weg gegangen – ganz sicher so, wie Du es von ihr erwartet hättest.
Besonders freut mich, dass unsere Kinder, Ann-Christin, Kathrin, Laura und Anne einen guten Kontakt pflegen, dass sie sich freundschaftlich verbunden sind, und dass Familie weiterhin Bestand hat. Heute Abend treffen wir uns in Deiner Stammkneipe, im Kur-Kölln. Die Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft läuft. Unsere Jungs haben ihr erstes Vorrundspiel gegen Portugal 4:0 gewonnen. Du, ganz besonders Du hättest Deine Freude gehabt und würdest mit uns heute Abend die Daumen und so manches Kölsch (ver)drücken, wenn gegen Ghana bereits der Einzug ins Achtelfinale klar gemacht werden kann.
Ich bin gespannt, wer dabei ist. Wir denken an Dich, und Du bleibst in unseren Herzen.