Mein Tod gehört mir!?
Der Mensch fühlt sich gekränkt, verloren, überfordert! Warum? "Weil er heute mehr denn je selbst entscheiden muss, sogar über die beste Art des Sterbens."
Dies stellt jedenfalls Hanno Rauterberg in der aktuellen Ausgabe der ZEIT (46/2014, S. 47) in den Fokus seines Beitrags "Wir, die Opfer des Glücks".
Zumindest die Studierenden im Masterstudiengang (Bildungswissenschaften, Teilmodul 6.3) werden sich nicht wundern, warum der Themenschwerpunkt "Tod, Sterben, Trauer" in meinem aktuellen BLOG-Geschehen Vorrang hat. Einerseits stehen wir am Beginn des Wintersemesters, andererseits beanspruchen "letzte Fragen" gegenwärtig in der öffentlichen Themenkonjunktur einen ungewohnt exponierten Rang; nicht zuletzt, weil der Bundestag kommende Woche über Regelungen zur Sterbehilfe debattieren wird.
Hanno Rauterberg lenkt mit seinem Beitrag die Aufmerksamkeitsrichtung auf fast schon gewohnte Weise auf einen Punkt, der den "modernen Menschen" von seinen Ahnen radikal unterscheidet:
"Nichts kränkt den Menschen so sehr wie seine Sterblichkeit. Dass morgen schon Schluss sein könnte, alles Glück verrauscht - unbegreiflich. Dass uns das Leben genommen wird, ganz gleich, wie sehr wir uns daran klammern - erniedrigend. 'Der Tod', sagt Elias Canetti, 'ist ein Skandal!' Sterbend gerät der Mensch an eine Grenze, und so etwas ist in der alles beherrschenden Moderne einfach nicht vorgesehen. Da gibt es keine Grenzen, und wenn es sie doch gibt, dann nur, damit wir sie überwinden. Bis heute aber hat sich der Tod als unüberwindlich erwiesen . Skandal!"
Das Für und Wider der Sterbehilfe spielt bei Hanno Rauterberg eine untergeordnete Rolle. Er geht davon aus, dass sich die Debatte wohl erst verstehen lässt, wenn man "einen Schritt zurücktritt und sich anschaut, was hinter all den Argumenten sichtbar wird: welches Epochengefühl." Dem Urgefühl, insgesamt ein der Kontingenz (Zufälligkeit= alles könnte auch ganz anders sein) ausgesetztes Wesen zu sein, kann der Mensch angesichts des Todes nicht mehr ausweichen. Ihm, der doch sonst an allem partizipieren dürfe, werde vollends klar, dass er eines immer noch nicht gefragt werde: "ob er überhaupt sein möchte."
"Der Mensch hat sich nicht selbst gezeugt, hat sich nicht ausgetragen und nicht zur Welt gebracht, nicht einmal über seine Eltern durfte er in freier Wahl befinden. Auch das lässt sich für das moderne Subjekt, stolz auf seine Einzigartigkeit, nur schwer ertragen: Hilfe, ich bin das Produkt eines Zufalls!"
Spätestens hier müssen wir die Konsequenzen einer kontingenzgewärtigen Lebenslauftheorie begreifen. Hanno Rauterberg glaubt hier das eigentliche Motiv einer fortgesetzten Kränkungsgeschichte zu erkennen, die durch die Unüberwindbarkeit des Todes schmerzhaft ins Bewusstsein von Menschen dringt: "Dass sich der Anfang nicht steuern und das Ende nicht ausrechnen lässt, das will der Mensch nicht auf sich sitzen lassen. Schließlich lebt er in der Digitalmoderne, und deren wichtigstes Versprechen heißt: Verfügbarkeit." Erbgutanalysen, pränatale Diagnostik, die Entschlüsselung des eigenen Quellcodes, liefern Rauterberg die Stichworte für den verzweifelten Versuch, den Zufall überwinden zu wollen und Kontrolle über das Unverfügbare zu gewinnen. Diese Vorstellung von Freiheit erscheint ihm in Gestalt der Debatte um Sterbehilfe nur als die Kehrseite der jüngsten Diskussion um eingefrorene Eizellen:
"Einige Internetkonzerne wollen ihren Mitarbeiterinnen das soziale Tieffrosten bezahlen, das Social Freezing, damit die Frauen frei sind, ihre Kinder erst dann zu bekommen, wenn sie es für richtig und für vereinbar mit ihrer Karriere halten."
Dieser Versuch alles Kontingente im Leben zu minimieren - wenn nicht gar zu eliminieren - erscheint vielen als "ein großes Freiheitsversprechen". Hanno Rauterberg schlussfolgert an dieser Stelle aber auch, dass dieses "Freiheitsversprechen" für nicht wenige als Bedrohung empfunden werde: "Denn der Gegenwartsmensch fühlt sich nicht nur gekränkt. Er fühlt sich auch überfordert." Beides - Freiheitsversprechen und seine Wahrnehmung als Bedrohung - verstärkten sich wechselseitig. So sehr der moderne Mensch Entscheidungsfreiheit beanspruche und die Anzahl seiner Möglichkeiten ausweiten wolle, so sehr erfahre er sich als unfrei, gebunden an Traditionen, an einen endlichen Leib und die Zufälligkeit der eigenen Existenz. Aus dieser Gemengelage, dem Zwang ständigen Abwägens, Erörterns, Beschließens und Verwerfens resultiere eine "schwere Überforderung". Diese "Überforderung" wächst sich in der Generationenabfolge vermutlich für diejenigen zu einer kaum lösbaren Herausforderung aus, die aus einer anderen Welt kommen; einer Welt, in der viele Lebensbahnen als vorgezeichnet galten und die keine permanenten Entscheidungszwänge offenbarte:
"Heute hingegen gilt so gut wie nichts mehr als gegeben, ein jeder ist angehalten, zu wählen, was das Beste für ihn sei: welcher Handytarif, welche Schulform, welche Zahnzusatzversicherung, welche Form der Vorgeburtsdiagnostik, welches Girokonto, welche Sterbensart."
Viele Menschen - so Rauterberg - rieben sich an ihrer Mündigkeit auf und würden Opfer von Depression oder Burnout. Neben die Kränkung und die Überforderung trete ein zunehmendes Gefühl der Selbstauflösung als drittes Epochengefühl; freier Wille und das Selbst würden von der Hirnforschung ohnehin als Illusionen in Frage gestellt: "In Wahrheit sei der Mensch nicht mündig, er werde gesteuert von jenen naturhaften Kräften, von denen er sich zugleich zu emanzipieren hofft." Rauterberg spricht von einer ausgeprägten Paradoxie, die aus der Gegenläufigkeit wachsender Freiheitsgrade und Freiheitsbedürfnisse einerseits und einem Gefühl der Überforderung und Selbstauflösung andererseits resultiere. Indem der Mensch auf immer mehr Freiheit dränge, gerate er zunehmend in eine Lage, sich vor lauter Optionen kaum mehr retten zu können:
"Wenn das so weitergeht - und warum sollte es das nicht? - könnte der Mensch sich schon bald abhanden kommen, könnte sich erstorben fühlen, noch bevor der Tod ihn ereilt. Das total befreite und das total erloschene Selbst wären kaum noch zu unterscheiden."
Elias Canetti betrachtet den Tod als Skandal. Hanno Rauterberg fragt angesichts der geschilderten Entwicklungstendenzen, ob auch die "Freiheit" skandalöse Auswüchse zeitige. Ähnlich wie Karl Otto Hondrich vermittelt Rauterberg der Debatte um Sterbehilfe eine neue Perspektive:
"Vielleicht lohnt es sich, bei den großen Debatten um erste und letzte Dinge ganz ungekränkt daran zu erinnern, dass jede Befreiung iher eigenen Zwänge gebiert. Und das es dem Seelenfrieden einer Epoche mitunter ganz gut tun kann, nicht alles bis zuletzt zu regeln und beherrschen zu müssen."