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Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz 

Der Vortrag von Theodor W. Adorno am 18. April 1966 im Hessischen Rundfunk beginnt mit der gleichermaßen lapidaren wie exorbitanten Formulierung: "Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung." Adorno ist zugleich ein erklärter Skeptiker mit Blick auf das, was mit Erziehung zu erreichen sei:

"Da aber die Charaktere insgesamt, auch die, welche im späteren Leben die Untaten verübten, nach den Kenntnissen der Tiefenpsychologie schon in der frühen Kindheit sich bilden, so hat Erziehung welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren (Zitate aus: Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, 5. Auflage, Frankfurt 1977, S. 88-104 - hier S. 90)."

Adorno stellt mit Blick auf Auschwitz fest, schuldig seien allein die, "welche besinnungslos ihren Hass und ihre Angriffswut an ihren [den Opfern] ausgelassen haben" (S. 90).

Seine zentrale, alternativlose Forderung im engeren Sinne zielt darauf ab, jeder Besinnungslosigkeit entgegenzuarbeiten: "... die Menschen sind davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst und nach außen zu schlagen. Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion" (ebd.).

Auch wenn Zygmunt Bauman vielleicht in der Analyse der Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht haben, eine nuanciert andere Auffassung vertritt und mit John P. Sabini und Mary Silver den Nachweis führt, dass es gerade die Überwindung der Emotionen gewesen sei, die das organisierte, planmäßige Morden möglich gemacht habe - man denke an die nüchterne Feststellung Sabinis und Silvers: "Ein lynchender Mob ist unzuverlässig, er kann von Mitleid übermannt werden - etwa durch das Leiden eines Kindes. Um eine 'Rasse' auszurotten, ist es aber wesentlich, die Kinder zu töten." - also auch eingedenk dieser präziseren Beschreibung der Voraussetzungen des Holocaust fällt uns zur Frage, was denn zu tun sei im Sinne einer Erziehung nach Auschwitz, nicht sehr viel mehr ein als Adornos Hinweis:

"Spreche ich von der Erziehung nach Auschwitz, so meine ich zwei Bereiche: einmal die Erziehung in der Kindheit, zumal der frühen; dann allgemeine Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zulässt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermaßen bewusst werden (S.91)."

Beim Wiederlesen des Vortrags fällt eine Passage in den Blick, mit der der egghead Adorno - Opfer des sogenannten Busen-Attentats - eine ähnlich These vertritt, wie sie von Klaus Theweleit und vielleicht auch Dietmar Kamper in Erwägung gezogen wird. Ich erwähne das "Busenattentat" hier lediglich, um auf den generell bedeutsamen, im Spiegel zeit-, kultur-, und moralgeschichtlicher Kontextbedingungen immer zu reflektierenden Zusammenhang zwischen Körperbewusstsein, emotionaler Fundierung und Ausrichtung von Erziehung (auch Sexualerziehung) aufmerksam zu machen. Wir werden weiter unten an einem Beispiel nachvollziehen können, wie die Nationalsozialisten diesen Zusammenhang für ihre eindeutigen Zwecke im Sinne von Mannhaftig- und Wehrhaftigkeit instrumentalisiert haben (und die im übrigen von Bernd Höcke heute wieder in den öffentlichen Diskurs eingeführt werden):

"Regressionstendenzen - will sagen, Menschen mit vedrückt sadistischen Zügen - werden von der gesellschaftlichen Gesamttendenz heut überall hervorgebracht. Dabei möcht ich an das verquere und pathogene Verhältnis zum Körper erinnern, das Horkheimer und ich in der 'Dialektik der Aufklärung' dargestellt haben. Überall dort, wo Bewusstsein verstümmelt ist, wird es in unfreier, zur Gewalttat neigender Gestalt auf den Körper und die Sphäre des Körperlichen zurückgeworfen. Man muss bei einem bestimmten Typus von Ungebildeten einmal darauf achten, wie bereits ihre Sprache - vor allem, wenn irgendetwas ausgesetzt oder beanstandet wird - ins Drohende übergeht, als wären die Sprachgesten solche von kaum kontrollierter körperlicher Gewalt (S. 95)."

"Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur, wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur, wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft, und wir müssen wehrhaft werden, liebe Freunde!" Einige kennen dieses Zitat, mit dem der aufRechte deutsche Mann, daran erinnert werden soll, was er verloren hat, und wie er - im Wortlaut Margarete Stokowskis (zum Zitat und zur Einnordung eignet sich ihr SPON-Beitrag) zum "Pimmelfechten" ermuntert werden soll.

Mannhaftigkeit und Wehrhaftigkeit passen heute zweifelsfrei ins Wörterbuch des Unmenschen. Womit hier von Björn Höcke wieder kalkuliert gespielt wird, das hat Theodor W. Adorno im Kontext der Auschwitz-Verhandlung wie folgt kommentiert:

Boger, einer der Angeklagten, hält in der Verhandlung eine Lobrede auf Erziehung zur Disziplin durch Härte, die Adorno folgendermaßen wiedergibt und kommentiert: "Ich erinnere, das Boger während der Auschwitz-Verhandlung einen Ausbruch hatte, der gipfelte in einer Lobrede auf Erziehung zur Disziplin durch Härte. Sie sei notwendig, um den ihm richtig erscheinenden Typus von Menschen hervorzubringen. Dies Erziehungsbild der Härte, an das viele glauben mögen, ohne darüber nachzudenken, ist durch und durch verkehrt. Die Vorstellung, Männlichkeit bestehe in einem Höchstmaß an Ertragenkönnen, wurde längst zum Deckbild eines Masochismus, der - wie die Psychologie dartat - mit dem Sadismus nur allzu leicht sich zusammenfindet. Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Dabei wird zwischen dem eigenen und dem anderer gar nicht einmal so sehr fest unterschieden. Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen musste. Dieser Mechanismus ist  ebenso bewusst zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt und auf die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten. Mit anderen Worten: Erziehung müsste Ernst machen mit einem Gedanken, der der Philosophie keineswegs fremd ist: dass man die Angst nicht verdrängen soll. Wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewussten und verschobenen Angst verschwinden (S. 96f.)."

Wissen um solche Zusammenhänge immunisiert eine Gesellschaft noch nicht. Adorno verweist auf die Studien zur "Authoritarian Pesonality", wo er mit seiner Forschungsgruppe - lange bevor das Tagebuch von Höss oder die Aufzeichnungen von Eichmann bekannt waren - den "manipulativen Charakter" beschreibt: Der manipulative Charakter zeichne sich durch Organisationswut, durch Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrunge zu machen, durche eine gewissen Art von Emotionslosigkeit, durch überwertigen Realismus aus (vgl. ebd., S. 97). Adorno will Klarheit gewinnen über begünstigende Bedingungen was das Zustandekommen des manipulativen Charakters angeht, um dann wirksam intervenieren zu können: "Kennt man aber einmal die inneren und äußeren Bedingungen, die sie [die Täter von Auschwitz] so machten - wenn ich einmal hypothetisch unterstellen darf, dass man das tatsächlich herausbringen kann -, dann lassen sich möglicherweise doch praktische Folgerungen ziehen, dass es nicht noch einmal so werde (S. 99)."

Es hilft nicht Alexander Gauland eine Sturzgeburt mit Folgeschäden zu unterstellen oder Björn Höcke als Kind mit sozial-emotionalem Förderbedarf zu phantasieren. Gleichwohl scheint sich jemand, der seine Männlichkeit (wieder-)entdecken und zur Wehrhaftigkeit wachsen lassen will, nach jenem Frauen- und Mutterbild zu sehnen, das ich bereits an anderer Stelle kolportiert habe:

 

 "Wir brauchen Mütter, die im Schoße tragen

Ein hart Geschlecht, das wie aus Erze geschweißt

Und ohne Knechtsinn und bänglich zagen

Sich kühn den Weg zum neuen Aufstieg weißt.

Wir brauchen Mütter, die nicht abseits stehen,

Wenn blonde Söhne ruft der Kampfesschall,

Die schützend im Gebet zur Seite gehen

Und segnend Hände breiten überall.

Wir brauchen Mütter, die da opfernd geben,

Was sie genährt mit ihres Leibes Blut.

Und wenn der Wunde tiefste schlug das Leben

Sich selbst verströmen in der Liebe Glut."

 

Theodor W. Adorno hat sich 1966 mit Bestürzung daran erinnert, dass er jene "vorurteilsvollen und autoritätsgebundenen" Menschen als besonders "kalt" empfunden habe und "erlaubt sich ein paar Worte über Kälte":

"Wären sie also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es nicht hingenommen [...] Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können [...] Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, dass nur ganz wenige sich regten (S. 101)."

Adorno erfährt aktuell gleichermaßen Bestätigung wie sich seine Hoffnungen auf einen nachhaltigen Wandel der Zivilgesellschaft nähren. Der Beitrag "Theorie des Referenzrahmens" thematisiert beide Seiten gleichermaßen. Und gleichwohl sitzt der Stachel unseres Versagens in der neuerliche Höhepunkte gerierenden Flüchtlingskrise tief (siehe bzw. höre Schmickler in den Mitternachtsspitzen vom 14.3.20)

Adorno ist kein christlicher Missionar "und möchte nicht die Liebe predigen". Vielmehr zeigt er sich als zutiefst pessimistischer Zivilisationskritiker, der dennoch die Kerze des "Prinzips Hoffnung" hochhalten will:

"Wahrscheinlich ist jene Wärme unter den Menschen, nach der alle sich sehnen, außer in kurzen Perioden und ganz kleinen Gruppen, mag sein auch unter manchen friedlichen Wilden, bis heute überhaupt noch nicht gewesen [...] Wenn irgend etwas helfen kann gegen Kälte als Bedingung des Unheils, dann die Einsicht in ihre eigenen Bedingungen und der Versuch, vorwegnehmend im individuellen Bereich diesen ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten. Man möchte meinen, je weniger in der Kindheit versagt wird, je besser Kinder behandelt werden, um so mehr Chance sei. Aber auch hier drohen Illusionen. Kinder die gar nichts von der Grausamkeit und Härte des Lebens ahnen, sind, einmal aus dem Geschützten entlassen, erst recht der Barbarei ausgesetzt. Vor allem kann man Eltern, die selbst Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch (S. 102)."

Erlebte Adorno die erstarkende außerparlamentarische und parlamentarische Präsenz rechtsextremen Denkens und Handelns, er würde sich genötigt sehen, seine Diagnose aus 1966 zu wiederholen:

"Das Klima, das am meisten solche Auferstehung (rechstextremer Gesinnung) fördert, ist der wiedererwachende Nationalismus. Er ist deshalb so böse, weil er im Zeitalter der internationalen Kommunikation und der übernationalen Blöcke  an sich selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Maßlose übertreiben muss, um sich und anderen einzureden, er wäre noch substantiell (S. 103)."

Zuletzt an mich - an uns - an alle Lehrerinnen und Lehrer die Frage: Haben wir versagt; was haben wir versäumt? Adorno fordert: "Aller politischer Unterricht sollte zentriert sein darin, dass Auschwitz sich nicht wiederhole (S. 104)." Ich antworte: 

Lieber Theodor W. Adorno, wir haben Ihre Ermunterung beherzigt. Ich habe sie beherzigt, wenn Sie mit Blick auf den politischen Unterricht fordern: "Dazu müsste er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat [...] Aber dass es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen; dass es weiter Bogers und Kaduks gebe, dagegen lässt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen (S. 104)."

Ich als Unternehmer - eine (kleine) Auswahl:

 

Publizistisch ist mir in Erinnerung, dass es zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erste Auseinandersetzungen meinerseits mit dem Aufkommen rechtsextremer Positionen gab. Bei mir sind es die Beiträge, die sich zum einen mit "Professionalisierungsdefiziten an rheinland-pfälzischen Hauptschulen" auseinandersetzen und zum anderen habe ich mich seinerzeit mit vermehrt zu beoabachtendem rechten (Gesinnungs)Terror auseinandergesetzt, der vor allem die Grundrechte - und hier primär Artikel 3 Grundgesetz [Gleichheit vor dem Gesetz] wieder infrage stellte und attackierte: "Unterrichtserfahrungen mit der 'Wochenschau'. Vorschläge für eine Kurskorrektur in der Politikvermittlung auf der Sekundarstufe I", beides in: Zur Theorie und Praxis der politischen Bildung, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung - Diskussionsbeiträge zur politischen Didaktik, Schriftenreihe Band 290, Bonn 1990, S. 168-190 und S. 396-411).

Die nachstehenden Verweise sind Verlinkungen mit meinem seit 2014 betriebenen Blog:

www.fj-witsch-rothmund.de

Kategorialer Mord

Nochmals: Alexander Gauland - eine Drecksau?

Carl Schmitt

Dietmar Kamper und Klaus Theweleit

Björn Höcke, Alexander Gauland, sollten wir...

Stefan Slupetzky - der letzte große Trost

 

 

 

   
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