Der mörderische Beobachter (paardynamisch)
Beobachtungen von Karl Otto Hondrich und von Arnold Retzer
(Dies ist eine Auskopplung aus meinem Buch: Die Mohnfrau, Koblenz 2010 – hinsichtlich der Literatur- und Quellenverweise empfehle ich auf die Buchpublikation unter „Eigene und fremde Bücher" zurückzugreifen)
Erster Teil – Zuruf I: Rauft euch zusammen und arrangiert euch!
Drei Jahre vor seinem Tod hat der Soziologe Karl Otto Hondrich, unweit von Koblenz in Andernach geboren, im Suhrkamp-Verlag ein schmales Bändchen mit dem Titel: „Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft" (Frankfurt 2004) veröffentlicht. In der Vorbemerkung beschreibt er sein Interesse an dem „alltäglichen Vorgang, wie ein Liebespaar zusammenzieht und sich wieder trennt..., um zu erkunden, was aus Herkunftsbindungen wird" (Hondrich 2004, 7). Er zeigt sich in der Folge irritiert darüber, dass wir uns so schwer tun, Wirklichkeit und Wirkungsmacht der Gefühle anzunehmen: „Als Gefühle beleidigen sie, nur zu oft, unsere Rationalität; als kollektive Gefühle unsere Individualität; als unbeabsichtigte Gefühle und Handlungsfolgen unseren Willen, die Wirklichkeit zu gestalten; als verborgene Gefühle unseren Anspruch an Aufklärung und Aufrichtigkeit: Die Wirklichkeit entzieht sich ihr. Sie liegt nicht offen – nach noch so vielen Worten. Das Wichtigste hält sie verborgen. Dies ahnend, spüre ich Genugtuung. Denn was verborgen ist, ist auch geborgen" (Hondrich 2004, 8). Dahinter steht die umfassendere Frage, welcher Teufel denn die westlichen Gesellschaften reite, ihre Familien, von deren Leistungen doch der Fortbestand des sozialen Lebens abhänge, auf die flüchtigsten Gefühle, das Beständigste auf das Vergänglichste, das Alltägliche auf das Außeralltägliche, das Reale auf das Romantische zu bauen? Denn während sich die westlichen Gesellschaften in der Sphäre ihrer Produktion höchster Rationalität verschrieben hätten, gäben sie ihre Reproduktion ganz der Emotionalität anheim (vgl. Hondrich 2004, 13).
Einhundertfünfzig Seiten weiter beginnt Karl Otto Hondrich seinen überaus persönlich gehaltenen Schlussessay mit der Frage: „Wie sollen wir gut und richtig leben?" Ungewöhnlich genug für einen Soziologen erhebt er in diesem Beitrag, der unter dem Titel „Meine Lieben" fast wie ein Vermächtnis daher kommt, mit Geborgenheit und Entschiedenheit Begriffe zu Schlüsselkategorien, die man eher in die Sprachwelt der humanistischen Psychologie mit einem an Kategorien wie Echtheit und Aufrichtigkeit orientieren Ethos einordnen würde oder mit Sicherheit in die Tradition der Bindungsforschung (Bowlby oder Grossmann/Grossmann).
Aus der Beobachtung des alltäglichen Vorgangs von Zusammenkommen und Sich-Trennen resultiert in der Folge ein Appell, der vor allem Geborgenheit in den Mittelpunkt zwischenmenschlicher Befriedungsversuche rückt. Prozesse der Entbergung, die durch modernes Scheidungsgebaren und Trennungsverhalten in Gang gesetzt werden, möchte Karl Otto Hondrich unter dem Schleier des Geborgenen eindämmen, statt sie in aller Ausführlichkeit und Klarheit aufzudecken. Den Betroffenen brauche man nicht in aller Ausführlichkeit und analytischer Schärfe vor Augen zu halten, was sie intuitiv eh spürten, aber nicht mehr ändern könnten (vgl. Hondrich 2004, 166).
Es ist merkwürdig und tragisch zugleich: Derselbe Karl Otto Hondrich, der sich in seiner Vorbemerkung genötigt sieht, sich von systemtheoretischen Annahmen abzugrenzen, von einer Auffassung also, die – wie er meint – davon ausgehe, dass „die soziale Welt von Systemen bewegt werde, von Kommunikation..." (Hondrich 2004, 7), derselbe Karl Otto Hondrich versucht nun die Nachwachsenden durch kommunikative Appelle zu erreichen:
„Wenigstens den nachfolgenden Generationen und eigenen Kindern möchte ich manchmal zurufen: Ihr habt doch eure Entscheidungsfreiheit als Individuen. Also nützt sie auch. Macht endlich Schluß mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder, macht es besser als eure Eltern, rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus!" (Hondrich 2004, 166).
Ich habe mich entschlossen, die in diesem Band zusammengetragenen lyrischen Miniaturen mit Anregungen Hondrichs einzuleiten, weil die von ihm in „Meine Lieben" reflektierten Erfahrungen auch faktisch als eine Art Vermächtnis daherkommen. Karl Otto Hondrich ist im Januar 2007 gestorben. Im Alter von fast 70 Jahren findet er für ein kritisches, teils anrührendes Resümee seines Beziehungslebens eine sehr persönliche Sprache, bleibt andererseits aber immer auch einer soziologischen Betrachtungsweise verpflichtet: „Was bewegt die Menschen? Daß dies nicht sie selbst sind mit ihren individuellen Trieben und Sinngebungen, sondern die geteilten moralischen Gefühle zwischen ihnen – mit dieser Einsicht begann, vor mehr als 100 Jahren, die Soziologie (Hondrich 2004, 7)."
Zunächst einmal ist es Chronistenpflicht Karl Otto Hondrichs weiter oben angedeutete appellative Grundhaltung mit seinen eigenen Worten zu relativieren und ihn vom Vorwurf eines naiven Moralisierens zu entlasten: „Kaum ist der Aufruf, in Gedanken, heraus, bleibt er mir schon im Halse stecken. Nicht nur, daß jeder Rat von Alten an Junge für diese zu früh kommt. Nicht nur, daß ich selbst, wäre ich jünger, ihm vielleicht nicht folgen könnte. Nicht, daß ich mich der Hau-Ruck-Pädagogik schämen würde; sie hat dem verständnisvollen Nicken und Bedauern wenigstens die wütende Klarheit voraus. Aber der Appell selbst beruht auf einer Unklarheit: Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise ‚Ihr schafft es!' darf deshalb die andere ‚Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!' nicht fehlen (Hondrich 2004, 167f.)."
In der Folge soll der Versuch unternommen werden, Hondrichs um die Zentralbegriffe Bindung, Geborgenheit und Entschiedenheit herum gebautes Beziehungsresümee nachzuzeichnen und es zu konfrontieren mit einem systemtheoretisch inspirierten Blick auf das Wunder der Ehe (Arnold Retzer 2008).
1. Fazit eines langen Lebens:
„Was war, was ist mir das Wichtigste im Leben (Hondrich 2004, 149)?" Karl Otto Hondrich räumt ein, dass er, gemessen an Zeit, Energie und auch Lust, bei der Beantwortung dieser Frage den Beruf in den Vordergrund stellen müsste. Im Rückblick und Alles in Allem gesehen ist er allerdings entschieden der Auffassung, dass er – so sehr ihn Wissenschaft und Politik auch gebunden haben – ihnen, abgesehen von wenigen guten Freunden, keine wirklich wichtigen Bindungen verdankt: „Die wichtigsten Bindungen in meinem Leben sind die an meine Frau, an meine Kinder, an meine verstorbene Frau – obwohl wir lange getrennt gelebt haben –, an meine Eltern, die längst tot sind, an meine Schwester und ihre Familie und an Charly, meinen alten Hund (Hondrich 2004, 150)." Dass er die ihm wichtigsten Menschen oft hintangestellt habe, um Dinge zu tun, die er für wichtiger nahm, räumt Karl Otto Hondrich gleichermaßen ein; dies allerdings ganz offensichtlich immer in einer tief verankerten Gewissheit um Geborgenheit, vermutlich sogar aufgehoben in ihr: „Solange wir Geborgenheit haben, wissen wir nicht, wie wichtig sie ist; wir wissen nicht einmal, dass es sie gibt... Als Heranwachsender, von Neugier, Lust und Ehrgeiz bewegt, konnte ich Geborgenheit vergessen; es gab genug davon, eher zuviel. Aber aus meinen Sehnsüchten verschwand sie nicht. So glücksverheißend wie die Träume von Frauen, Liebe, Familie, waren die von Leistungen, Examen, Berufserfolgen nie... (Hondrich 2004, 150f.)." Hondrich müsste seinen Soziologenhabitus verleugnen, wenn er nicht danach fragen würde, ob er mit diesen Erfahrungen und Bewertungen aus der Reihe tanzt. Gleich welche Umfragen man auch zu Rate zieht, wenn nach Zufriedenheit und Glück gefragt wird – so Hondrich –, könne keine andere Institution der Familie und der Partnerschaft das Wasser reichen. Nirgendwo sonst fühle sich die große Zahl der Menschen zufriedener als in ihren privaten, familialen Beziehungen (vgl. Hondrich 2004, 151).
2. Problembeschreibung
Verlieben, zwei Kinder bekommen, harmonisch zusammenleben – nicht unbedingt, aber lieber doch mit Trauschein – und zusammen alt werden! Das ist die Wunschvorstellung über die Generationen hinweg. „Warum erfüllen sich die vermeintlichen Glückssucher ihre Wünsche immer weniger (Hondrich 2004, 11)?" Gewärtige man die sinkenden Geburten- und steigenden Scheidungsziffern, dann scheine es offensichtlich immer schwerer zu werden, die Wunschbilder einer lebenslang auf Liebe gegründeten partnerschaftlichen Ehe mit zwei Kindern und gleichartiger beruflicher Erfüllung für beide Partner zu verwirklichen. Hondrich fragt schlicht danach, was dem entgegensteht (vgl. Hondrich 2004, 152).
Er rekurriert selbstverständlich auf die Beharrungskräfte des Herkömmlichen (alte Rollenmuster und Leitbilder), stellt aber dann dezidiert Interessenkonflikte in den Vordergrund, die nicht alt sondern neu seien. Seine These spitzt er zu auf die Feststellung, dass es eben nicht die schlichten Konflikte zwischen Mann und Frau seien, etwa um die Gleichverteilung familialer Aufgaben, sondern dass hinter diesen Konflikten stärkere Kräfte stünden: „das Berufssystem mit seinen Höchstleistungsanforderungen einerseits; andererseits die Ethik der Familie mit ihren nicht weniger gebieterischen Postulaten der Gleichheit und der Harmonie (Hondrich 2004, 153)." Halbe Sachen und gedrosselte Engagements duldeten diese gegensätzlichen Lebenssphären nicht. Und vor allem enthülle sich hinter dieser Konkurrenz der Lebenssphären ein weiterer Konflikt, in dem sich die unaufhebbare Spannung zwischen Individualitäten und Gemeinschaft manifestiere: „Die Individualitäten der Partner sollen, idealiter, in der Individualität der Partnerschaft aufgehoben sein. Diese individualistische Vision vom ‚passenden Gegenstück' – Liebe genannt – macht sich aber selbst zur Illusion: Je mehr die Beteiligten sich als einzigartig verstehen, desto unwahrscheinlicher ist ihr Zusammenpassen (Hondrich 2004, 154)."
Vollkommen gegenläufig zur Entdeckung dieser Individualitäten entwickle sich die schützende Funktion von Staat und Kirche. Sie überließen es den Individuen zunehmend selbst, ob und wie sie ihre Familie stabilisieren oder zerbrechen: „Alle Entwicklungslinien der modernen Gesellschaft scheinen sich verschworen zu haben, um die Familie aus den Angeln zu heben. Nicht nur dass wir ihr die Unterlage handfester kollektiver Zwänge entzogen und sie auf ein Fundament der Gefühle gestellt haben, wie es schwankender nicht sein könnte. Die Liebenden werden auch gegeneinander in einen Interessenkampf um die Verteilung der Aufgaben hineingezogen, der nie so ausgehen kann, wie es als wünschenswert deklariert wird. Denn es sind nicht so sehr die Interessen von Mann und Frau, sondern die normativen Postulate des Berufssystems und die des Familienlebens, die hier gegeneinanderstehen (Hondrich 2004, 155f.)."
3. Bindung – Geborgenheit – Entschiedenheit
Bindung
Anschließend an diese Situationsbeschreibung kommt Karl Otto Hondrich zu einer folgenreichen Einschätzung: Mit Blick auf die weiter oben skizzierten Zwänge und Ausweglosigkeiten sind wir alle offensichtlich gezwungen, auf Problemlagen zu reagieren, die wir zwar nicht individuell gemacht haben, deren jeweilige Lösungen wir aber individuell vertreten müssten (vgl. Hondrich 2004, 156). Und dies eingedenk der Tatsache, dass sich auch in einer (post)modernen Gesellschaft seiner Auffassung nach Werte und Normen nicht ins Beliebige verflüchtigen. Hondrich reklamiert „Grundtatbestände des Zusammenlebens", wonach „die Bindung an das Familiäre, die Gerechtigkeitsvorstellung der Gegenseitigkeit (Reziprozität), die Tabuisierung des Heiligen etc. von allgemeinster Verbindlichkeit sind und bleiben..." (vgl. Hondrich 2004, 156f.).
Selbst die freieste Wahl einer Bindung, die wir als Erwachsene in Liebe und Freundschaft eingehen können, hänge immer genauso sehr von dem Geliebten oder der Freundin ab, wie von uns selbst: „Als Wählender bin ich auch Erwählter. Und meine Freiheit zu wählen erzeugt nicht nur die Unfreiheit des anderen, von mir abgewählt, sondern auch meine Unfreiheit, von ihm verlassen zu werden (Hondrich 2004, 157)." Es ist bemerkenswert, dass wir alle mehr denn je einer potentiellen Ungeborgenheit ausgesetzt sind. Und Karl Otto Hondrich verweist zu Recht auf eine Ausgangsbedingung, die uns auferlegt, die Unfreiheit als Kehrseite der Freiheit immer mit zu bedenken: Wenn ein individueller Schritt in die Freiheit zugleich zwei Unfreiheiten hervorbringe, dann sei die Vorstellung eines Fortschreitens der modernen Gesellschaft zur Individualisierung als Befreiung im Ansatz verfehlt. Der Weg in die Freiheit sei immer auch einer in Unfreiheit, Unsicherheit, Ungeborgenheit, einhergehend mit dem Risiko entbunden und entlassen zu werden: auf Märkten, in Unternehmen, in Bildungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften, Parlamenten, Parteien, Vereinen. Dieses Risiko, so Hondrichs Hinweis, mag zu verschmerzen sein, solange es Grundgeborgenheit noch in zwei Institutionen gebe, die uns nicht verstoßen dürften, weil wir ihnen durch Herkunft angehören: Staaten und Familien (vgl. Hondrich 2004, 157f.).
Geborgenheit
„Geborgenheit ist kein Reservat für Kinder und Zurückbleibende. Wir brauchen sie in jedem Alter, solange wir vorangehen (Hondrich 2004, 158f.)." Weil genau dies auch meiner Lebenserfahrung und meiner persönlichen Lebenspraxis entspricht, folge ich Hondrichs Einschätzung, die angesichts des medial inszenierten Generationenkrieges höchst optimistisch, manche würden sagen geradezu naiv und blauäugig daher kommt. Danach stehen die Chancen einer Geborgenheit in modernen Familien nicht schlecht. Wohlstand, Gesundheitspflege und Langlebigkeit sorgen nach Hondrich dafür, dass die Solidaritätskette zwischen den Generationen heute länger sei als je zuvor: „Und tatsächlich unterstützen sich, allen Unkenrufen einer wachsenden Generationenkluft zum Trotz, Alt und Jung gegenseitig, auch wenn sie nicht eng zusammenwohnen: Die rüstigen Rentner haben oft Fertigkeiten und Geld zu bieten, Kinder und Enkel lohnen es ihnen mit Besuchen, Zuwendung und Pflege (Hondrich 2004, 159)." Dies markiert allerdings nur eine, und möglicherweise eine eher schwindsüchtige Seite gemeinschaftlicher Erfahrung. Auch Hondrich stellt nüchtern fest, dass die Sorge, die man vielleicht noch selbst für die alten Eltern aufbringt, in einer zunehmenden Kinderlosigkeit erstirbt, wenn man sie selbst beanspruchen will. Zu einem (be)drängenden Problem wächst sie sich auch in seiner Einschätzung aus, wenn die Armut an Kindern massenhaft um sich greift und das Netzwerk der Geborgenheiten immer mehr ausdünnt. Zurück blieben dann bestenfalls Rudimente der Herkunftsfamilie. Was in diesen Prozessen Schaden nehme, sei die wichtigste Funktion der Familie, die mit Geborgenheit zu tun habe: „Geborgen fühlen wir uns, wenn wir uns durch Einbindung geschützt fühlen: Geborgenheit gibt es nur durch Bindung – eine Bindung, die dauerhaft, also verläßlich ist... Geborgensein heißt: Man kann sich darauf verlassen, nicht verlassen zu werden (Hondrich 2004, 161)."
Möglicherweise hätte Karl Otto Hondrich gleichermaßen fasziniert wie verwundert zur Kenntnis genommen, wie ein systemtheoretisch inspiriertes Sprachspiel auch für die Betrachtung von Bindung, Liebe und Geborgenheit neue, vielleicht unerwartete, aber enorm entlastende (gemeinsame) Perspektiven eröffnet. Bevor ich im zweiten Teil dieser Einführung darauf eingehe, folge ich aber bewusst den eher appellativen und resignativen Einschätzungen Hondrichs, weil sie auf wunderbare Weise den Boden bereiten für einen nächsten Schritt, der uns auf nüchterne und ernüchternde Weise aufschließt für das Wunder der Ehe (Arnold Retzer 2008).
Karl Otto Hondrich ist der Auffassung, dass all diejenigen, die heute in der Ehe noch dauerhafte Geborgenheit suchten, ein hohes Risiko des Enttäuchtwerdens laufen. Liberale Scheidungsgesetze besiegelten nur ein moralisches Tauschgeschäft, das wir, als Träger kollektiver Moral, längst in unseren Köpfen vollzogen hätten: „Geborgenheit geben wir für Freiheit – in der Hoffnung auf neue Geborgenheit (Hondrich 2004, 162)." Tiefer liegende systemische Bindungszusammenhänge im familialen Kontext und der Verlust von Geborgenheit lassen Hondrich auf schier unlösbare Beziehungsgeflechte verweisen, die vor allem dann zu einer belastenden, vielfach ausweglosen Unübersichtlichkeit führen, wenn aus einer Verbindung auch Kinder hervor gegangen sind: „Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit. Sie wissen das und setzen deshalb alles daran, wenigstens die Bindung zu ihren Kindern zu erhalten. Den Partner darf man verlassen, die eigenen Kinder nicht. Scheidungskinder, das ist heute Konsens auch unter zerstrittenen Eltern, sollen die Bindung zu beiden, zu Mutter und Vater behalten. Das ist die Leitidee aller gerichtlich und außergerichtlich ausgeklügelten Besuchsregelungen. Hinter dem Bemühen, diese so gerecht, verständnisvoll, Interessen ausgleichend wie möglich zu gestalten, steht, unerkannt, ein gewaltiger soziologischer Kraftakt: die Geborgenheit, die mit dem Scheitern der Gattenbindung verloren ist, in der Bindung zwischen Eltern und Kindern zu retten (Hondrich 2004, 162)."
Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung vornimmt, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, das der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück (Hondrich 2004, 164)." Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich: „Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten liebten (Hondrich 2004, 164)."
Genau an diesem Punkt mag dieser weiter oben zitierte nolens volens vorgenommene, geradezu hilflos wirkende – dadurch aber wenigstens rhetorisch überzeugend zur Geltung kommende Appell an die nachfolgenden Generationen vertretbar und plausibel erscheinen. Noch überzeugender stellt sich die rhetorische Kunstfigur Hondrichs vielleicht aus der Retrospektive Getrennter und Geschiedener dar: „Die Schuld des Scheiterns, die ja ihren Sinn hat, verteilt sich ohnehin – und es bleibt immer unentschieden, wie sie sich verteilt: auf das eine oder das andere Individuum, auf das Kollektiv der beiden, auf die kollektiven Leitbilder und Zwänge hinter ihnen. Vor diesem schwer durchschaubaren Hintergrund wird eine Ehe oder Partnerschaft heute aufgekündigt. Wer diesen Schritt tut, leidet selbst vielleicht am meisten darunter. Es geschieht, obwohl die beiden sich lieben oder geliebt haben (Hondrich 2004, 167)."
Der alte Karl Otto Hondrich dringt zu schmerzlichen Einsichten vor, die – wie es scheint – dem Alter vorbehalten zu sein scheinen; deshalb kann sein Appell an die nachfolgenden Generationen nur zu einer rhetorischen Kunstfigur geraten, die allerdings – wie mit einem Zeitzünder versehen – für viele zu späten, oftmals leider allzu späten Einsichten führt. Dazu gehören von Hondrich beobachtete Paradoxien, wonach dort, wo Nähe und Geborgenheit wachsen, auch die Einsicht in das individuelle Trennende wachse: „Der Prozeß des Vertrautwerdens bringt nicht nur Geborgenheit, sondern... auch Entfremdung hervor (Hondrich 2004, 168)." Die Enttäuschung über den Verlust der romantischen Liebe scheint für viele nicht hinnehmbar. Wiederbelebungsversuche mit demselben Partner scheitern. Abenteuer und Liebschaften, so wenig synchronisierbar sie bleiben, sind für den Höchstrelevanz (Peter Fuchs) einbüßenden Partner oft unerträglich und erzwingen häufig Trennungen, auch dort, wo sie niemand wirklich will. Und vor allem: „Eine Neuauflage des Romantikprogramms mit neuem Partner opfert eine Geborgenheit, die kaum zu ersetzen ist – und unterliegt doch auch dem Gesetz der Verwandlung von romantischer in familiäre (oder partnerschaftliche, Verf.) Liebe (Hondrich 2004, 168)."
Karl Otto Hondrichs Erwägungen erscheinen höchst bedenkenswert. Er meint, drei Wege stünden offen: 1. die Rücknahme überzogener Ansprüche; 2. die Entschiedenheit zur Partnerschaft und schließlich 3. die Einsicht, dass das Individuum in Liebe und Familie nichts selbst, aber – fast – alles mitbestimme. Bevor ich mich der letzten seiner Schlüsselkategorien Entschiedenheit zuwende, gehe ich noch einmal auf den „Altersvorbehalt" ein: Karl Otto Hondrich meint, das gute Leben bestünde nicht in der Erfüllung, sondern in der Annäherung von Wünschen und Wirklichkeit: „Nicht bei dem Wunsch nach Liebe selbst, sondern bei der Wunscherfüllung müssen wir uns bescheiden (Hondrich 2004, 170)." Das Erreichen einer erfüllenden Intimität oder gar eines „fürsorglichen Finales" (Klöckner 2007) sei nur möglich in einem langwierigen Prozess des Irrens und Korrigierens, als Gemeinschaftsarbeit!
Entschiedenheit
Diese oder jene Gewohnheit, diese Selbstbezogenheit, jene Bequemlichkeit – so fragt Hondrich –, sind sie wirklich der Grund dafür, dass eine Familie nicht zusammenbleibt? Oder fungieren sie nur als Zeichen dafür, dass es an der Entschiedenheit zur Partnerschaft mangele, die auch die Grundlage der gegenseitigen Geborgenheit sei? „Oft habe ich mich gefragt, ob ich es an dieser Entschiedenheit nicht habe fehlen lassen. War ich wirklich entschieden die Ehe zu erhalten? Entschieden genug, um eine Anstrengung zu machen... Eine ständige Anstrengung zur Selbstveränderung tut nicht gut. Man muß auch ohne Anstrengung zusammenpassen, sonst paßt man nicht zusammen. Wenn es nicht geht, dann muß man sich eben trennen. Dafür gibt es ja die Scheidung. Das ist doch heute normal. Man muß auch loslassen können. Reisende soll man nicht aufhalten. Nichts dauert ewig. Gegen die Sirenengesänge der Scheidung ist kein Kraut gewachsen. Es sei denn Entschiedenheit (Hondrich 2004, 171f.)."
Ganz offenkundig gibt es in der Sehnsucht nach der einen großen Liebe, die ein ganzes Leben lang hält, ein starkes generationenübergreifendes, sinnstiftendes Zentralmotiv allen menschlichen Strebens. Als mögliches Ergebnis einer individuellen Anstrengung mit einer Haltung der Entschiedenheit widerspricht sie allerdings den romantischen Vorstellungen von der Liebe. Das Alter wird denjenigen zum Privileg, deren leidenschaftliche Liebe im Beginnen, später dann in Geborgenheit ihre Entsprechung findet oder gar aufgehoben, man könnte sogar sagen, geborgen wird. Karl Otto Hondrich ist der Meinung, dass die Schwerelosigkeit des Beginns, die nicht nur ein kurzes, sondern auch ein seltenes Glücks sei, oft genug über den Flirt nicht hinaus gelange, wenn ihr nicht eine Entschiedenheit sowohl des Zupackens als auch der Hingabe folge: „Je mehr die Liebe den Schmelz der Leidenschaft einbüßt, desto mehr ist sie auf Entschiedenheit angewiesen (Hondrich 2004, 173)." Zwischen Selbstironie und Selbstbedauern zeigt Hondrich eine Altersweisheit, wenn er meint, dass wir dem Partner nicht nur Anerkennung für die Gemeinsamkeit des Strebens schuldeten, für ein Verständnis unserer individuellen Eigenarten, sondern letztlich dafür, dass wir gemeinsam etwas begründen und entwickeln, das wir so nicht vorgesehen haben. Dass dies in einem langwierigen Prozess des Irrens und Korrigierens als Gemeinschaftsleistung geschehe, haben wir weiter oben schon betont. Weit zurück blickend bedauert Hondrich, dass dies eine späte Einsicht sei: „Ich erinnere mich an einen Spaziergang im winterlichen Kottenforst, bei dem ich meiner ersten Frau, vor der Ehe, die Ehe schmackhaft zu machen versuchte, indem ich für radikale Nüchternheit von Anfang an plädierte, um uns vor späteren Enttäuschungen zu schützen. Von der Enttäuschung durch dieses Gespräch hat sich unsere Ehe möglicherweise nie erholt (Hondrich 2004, 170)."
Karl Otto Hondrich bleibt nüchtern, vor allem in seiner analytischen Haltung als Soziologe von Rang. Er betont Grenzen und den illusionären Charakter der Vorstellung von autonomer Entscheidungsfreiheit, in der (Post)Moderne, die uns zur Freiheit verdammt. Seiner Erfahrung nach entscheiden wir nicht individuell, ob und wen wir lieben. „Wir entscheiden nicht individuell, ob und wen wir heiraten. Wir entscheiden nicht individuell, ob und wie viele Kinder wir bekommen... Wir entscheiden nicht individuell, ob wir zusammenbleiben. Auch wenn wir all dies zu zweit entschieden haben, entscheiden wir nicht darüber, ob wir glücklich werden... Und wir entscheiden nicht darüber, wie andere Liebende entscheiden, wie also ‚die Gesellschaft' mehrheitlich aussieht (Hondrich 2004, 174)."
Und dennoch, und dennoch, und dennoch ist Karl Otto Hondrich in seiner großen Pathos-geschwängerten Schluss-Suada geneigt, sich selbst und so manch anderem die vergangenheitsbewältigenden Inkonsistenzbereinigungsprogramme (Niklas Luhmann) durcheinander zu hageln: „Alles, was wir nicht individuell entscheiden, entscheidet sich nicht, ohne daß wir mitentscheiden: Wir entscheiden mit, ob aus Verliebtheit eine dauerhafte Partnerschaft, aus der Partnerschaft eine Familie, aus der (Familien)Entscheidung eine Scheidung wird. Wir entscheiden mit, ob wir Geborgenheit von unserem Partner nur nehmen oder auch ihm geben. Wir entscheiden mit, ob wir Geborgenheit von unseren Eltern nur genommen haben oder ob wir sie als Eltern weitergeben. Wir entscheiden mit, ob wir unseren Kindern Geborgenheit geben oder sie ihnen nehmen. Wir entscheiden mit, ob wir von unseren Kindern Geborgenheit annehmen. Wir entscheiden über die innerste Geborgenheit in der Gesellschaft mit. Wir entscheiden darüber, ob wir, im unauflöslichen Widerstreit der Werte, diese Geborgenheit auf dem Altar von Freiheit, Flexibilität, Selbstentfaltung, Leistung, Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand opfern. Obwohl für die Gesellschaft im Großen unsere Mitentscheidung nur von kleinster Wirkung ist, ist ihre Wirkung für den kleinen Kreis unseres privaten Lebens groß (Hondrich 2004, 175f.)."
Ich danke Karl Otto Hondrich dafür, dass hinter dem methodenversessenen Soziologen jemand aufscheint, der – jenseits aller Modernitätszwänge – die Dimensionen zurecht rückt, und der uns darauf hinweist, dass unser aller Verantwortung an unserer Haltung zur Entschiedenheit kenntlich wird. Der alte lebensweise, lebenssatte (?) Hondrich mahnt uns zur Entschiedenheit und wünscht uns die gelassene Hinnahme von Dingen, die sich gegen den eigenen Willen entscheiden. Und er zeigt sich als hoffnungsfroher Optimist: Zwar gehe es ohne die Fähigkeit, miteinander zu reden und eine Einigung zu erzielen, dabei kaum. Zu glauben, dass sich das Zusammenleben in der Liebe aber allein auf dem Verhandlungswege durch kommunikatives Geschick regeln lasse, dies hält er für einen Fehlschluss. Denn die Unterschiede zwischen den Partnern würden umso mehr sichtbar – oder verdrängt –, je länger verhandelt werde. Es müsse da schon eine Gemeinsamkeit geben, die allen Verhandlungen unterliege und nicht verhandelbar sei: „Daß dieser tiefste Grund des Zusammenlebens – ob als Übereinstimmung der Willen, des Wissens oder der Gefühle – argumentativ nicht herstellbar, aber auch nicht zerstörbar ist, lässt hoffen (Hondrich 2004, 176)."
Zweiter Teil – Zuruf II: Lasst mehr Vernunft in der Ehe walten!
Worauf gründet die zuletzt geäußerte Hoffnung Karl Otto Hondrichs? Wenn Arnold Retzer (2008 und 2009) vom Wunder der Ehe spricht, lässt dies nicht gerade vermuten, dass es angebbare Gründe, Motive, Erklärungsmomente dafür gibt, wie und warum es offensichtlich Menschen gelingt, „ein schnarchendes, schlechtgelauntes, misstrauisches oder mimosenhaftes Wesen, das nicht nur sein Inneres, sondern – noch schlimmer – sein Äußeres verändert hat, dauerhaft zu lieben, alle wirklich ernsthaften Hindernisse zu überwinden und auch in Ebbezeiten einer Ehe immer und immer wieder das Leuchtfeuer des Durchhaltens anzuzünden" (Retzer 2008, 21). Immerhin bietet Arnold Retzer im Rahmen eines überschaubaren Sieben-Punkte-Katalogs einige Hypothesen an, um das Wunder der Ehe verstehen zu können.
1. Punkt: Es ist die Liebe
Karl Otto Hondrichs Fragehaltung ist einer traditionellen Sichtweise verpflichtet: sie geht von dem merkwürdigen Widerspruch aus, wonach sich westliche Gesellschaften in der Sphäre ihrer Produktion höchster Rationalität verschrieben haben, während sie ihre Familien und damit den Fortbestand des sozialen Lebens auf die flüchtigsten aller Gefühle, auf die romantische Liebe stützten. Auch Arnold Retzer nennt als ersten seiner sieben Punkte die Liebe. Der alles entscheidende Unterschied liegt in einer systemtheoretisch begründeten Wende, von der sich Karl Otto Hondrich beharrlich distanzierte (siehe Hondrich 2004, 7). Arnold Retzer stellt zunächst einmal fest, dass es eine sehr weit verbreitete Vorstellung sei, in der Liebe ein Gefühl zu sehen. Hingegen verstehe er unter Liebe kein Gefühl, sondern einen Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen und auch leugnen könne, der es aber gleichzeitig erlaube, sich auf die Folgen dieser Kommunikation einzustellen. Dies ist deshalb so bedeutsam, weil Paare im Bewusstsein des feinen Unterschieds zwischen einem Gefühl einerseits und der Kommunikation darüber andererseits, die Chance gewinnen, einander, wie dies so häufig geschieht, nicht gänzlich – z.B. in der Sprachlosigkeit – zu verlieren. „Dieser Kommunikationscode eines Paares bringt als Ergebnis nicht weniger hervor als das, was wir eine ‚Liebesgeschichte' nennen; eine Liebe, die sich eine eigene Welt erschaffen kann und dieser Welt ihren eigenen, unverwechselbaren Sinn gibt (Retzer 2008, 21)." Die Bemühungen Arnold Retzers, die Bedingungen für eine lebenslange Partnerschaft zu benennen, sind im übrigen sehr viel umfassender, als sie sich in einem bescheidenen, auf Zuspitzung angewiesenen Aufsatz manifestieren können (siehe dazu seine 2009 unter dem Titel „Lob der Vernunftehe" erschienene Monographie).
Im engen Bezugsrahmen (Psychologie Heute, 4/2008) bleibt – im Hinblick auf diesen ersten Punkt - bleibt lediglich die schlichte Feststellung, dass alle Erfahrung zeige, dass die alltäglichen Probleme einer Ehe, vor allem die dort empfundene Ungleichheit und Ungerechtigkeit dann keine große Belastung darstelle, wenn die Liebe stark sei bzw. von den Beteiligten als existent eingestuft werde. Umgekehrt nütze eine gute Partnerschaft – mit der Idee einer gerechten und vertragstreuen Aufteilung von Rechten und Pflichten – dann wenig, wenn die Liebe defizitär sei oder nicht mehr gefunden werde.
2. Punkt: Resignative Reife
Arnold Retzer bezieht sich hier auf den Erfahrungswert, dass die Mehrheit der Paare ihre Konflikte nie löse. Für eine gelingende Ehe sei dies allerdings auch nicht entscheidend. Nicht ob man Konflikte oder Probleme löse, sondern wie man sie zu lösen versuche sei entscheidend: „Einigermaßen glückliche Paare versuchen, ihren Schwierigkeiten nicht durch Verletzungen und Verächtlichmachungen zu begegnen, sondern mit Humor, Ablenkung, Zuneigung und Respekt (Retzer 2008, 22)." Es komme seiner Ansicht nach nicht darauf an, sich zu vertragen, sondern sich zu ertragen, ein Arrangement, das man auch als resignative Reife bezeichnen könne.
3. Punkt: Vergeben und vergessen
Eine eigensinnige und folgenreiche Sichtweise ergibt sich aus Retzers These, dass die Idee der Gerechtigkeit eine der hartnäckigsten Illusionen in intimen Beziehungen sei: „Die davon inspirierten Kämpfe um Recht, Gerechtigkeit und Ausgleich sind die wichtigsten Schlachtfelder, auf denen das Wunder der Ehe verhindert oder zerstört wird (Retzer 2008, 22)." Die Methode des Ausgleichs hält nach der Auffassung von Arnold Retzer nicht wirklich, was sie verheißt. In intimen Beziehungen gebe es letztlich keine Leitwährung zur Entschädigung: „Wie viel ist eine Affäre wert, was kostet eine Kränkung?" Die Ehe habe ihre eingebaute Tragik in der Tatsache, dass die Verheißung der Gleichheit nicht eingelöst werde. Das Wunder der Ehe liege schlicht darin, dass sie genau diese Tragik aushalte. Die Gelingensbedingung hat nach Retzer mit Verzicht zu tun und indem auf eine archaische Verhaltensweise zurückgegriffen werde: „Auf die Vergebung... Das Wunder der Ehe entsteht weniger durch Versuche des Ausgleichs als vielmehr durch die Möglichkeit der Vergebung. Und: Nach der Vergebung kann es auch zu einem neuen Verhältnis von Erinnern und Vergessen kommen, das ebenfalls das Wunder der Ehe bewirken kann: Man erinnert sich an das Gute und vergisst das Schlechte (Retzer 2004, 22)." Das Schuldgedächtnis kette an die Vergangenheit und raube die Handlungsfähigkeit – oder wie mir einmal ein Kneipenwirt auf der Insel Juist nahe legte: „Wer nachtragend ist, der hat viel zu schleppen!"
4. Punkt: Positive Illusionen
Nur jemand, dem das Wunder der Ehe zu Teil wird, ist vermutlich auch geneigt, der folgenden Empfehlung Retzers nicht vorschnell eine Haltung des Sarkasmus zu unterstellen: „Denken Sie sich Ihren Partner schön, glauben Sie an die positive Kraft der Illusion, an die geschönte Wahrnehmung (Retzer 2008, 23)." Arnold Retzer geht jedenfalls davon aus, dass die Erzeugung systematischer wechselseitiger Fehleinschätzungen oder ein gegenseitiges wechselseitiges Verkennen der Partner für das Wunder der Ehe plausibler scheint als eine realistische Sichtweise. Eine zu Forschungszwecken befragte Ehefrau versinnbildliche dies in folgender Erfahrung: „Als ich zugenommen hatte, hat er gesagt, er mag dicke Frauen. Und als ich wieder abgenommen hatte, hat er gesagt, er mag schlanke Frauen. Irgendwann habe ich dann begriffen, dass er mich liebt."
5. Punkt: Verzicht auf Glück
Vermutlich ist es ein ebenso weiter Weg zu der Einsicht, dass Leben – wie Arnold Retzer meint – auch und vor allem geschieht und nur gelegentlich gestaltet werde, das Eheleben ohnehin. Mit Blick auf Paare vor dem Traualtar gibt er zu bedenken, dass es oft leichter sei, ein Versprechen zu geben und auch anzunehmen, das niemand halten kann, als nur das zu versprechen, was man auch einlösen könne. Statt sich vielleicht schwere, aber bei genauer Auswahl erfüllbare Versprechungen zu machen, verspreche man sich oft lieber „etwas so Nebensächliches wie das Glück" und werde dabei untröstlich unglücklich, zumindest miteinander. Jedes Scheitern, jedes Misslingen müsse man sich dann als eigenes lebensethisches Versagen anlasten. Arnold Retzer ist ein Meister der Zuspitzung, vor allem schätzt er die Paradoxien. Vielleicht – so sein Hinweis – sei ja auch gerade der Versuch, ein Wunder herstellen oder erzwingen zu wollen, dem Wunder abträglich: „Auch wenn man das Glück nicht zur Zielgröße seiner Ehe machen sollte, gehört zu einer Ehe wohl auch ein gehöriges Maß an Glück dazu (Retzer 2008, 24)"; z.B. das Glück, dass du zurückgekommen bist (nein, dieser Nachsatz verdankt sich nicht einer Nachlässigkeit beim Redigieren dieses Bändchens, sondern viel mehr dem Wunder einer Ehe, einer Old Love, einer verrückten Liebesgeschichte).
6. Punkt: Freunde sein
Überrascht es eigentlich, wenn man davon ausgeht, dass sich das Wunder der Ehe auch aus einer freundschaftlichen Verbundenheit erklärt? Arnold Retzer meint damit eine Haltung, die gleichermaßen auf Teilhabe wie auf Teilnahme beruht. Eine dementsprechende „Praxis der Freundschaft besteht in mitteilendem Reden und teilnehmendem Zuhören, im Sich-verantwortlich-Rede-und-Antwort-Stehen und nicht zuletzt auch in einer Teilhabe an gewöhnlichem Leben, an all dem, was oft so geringschätzig als Alltag abgetan wird" (Retzer 2008, 24). Vielleicht ist sie auch für eine lebendige Ehe als Korrektiv unverzichtbar, weil sie weder das Ziel verfolgt nützlich oder nur angenehm zu sein – ganz im Gegenteil steht sie für eine Haltung, die sowohl annehmen wie auch Abstand nehmen kann und dabei streitbar und mutig bleibt.
7. Punkt: Die konservative Rebellion
Es hätte vermutlich nicht gelohnt Karl Otto Hondrich mit Arnold Retzer zu konfrontieren, wenn nicht – bei aller Differenz in der theoretischen Ausgangsposition – eine starke Konvergenz in der Bewertung gegenwärtiger Entwicklungen sichtbar würde. Der 1937 geborene Soziologe, der mit konservativ geerdeten Begriffen operiert (Geborgenheit, Entschiedenheit, Bindung), bedient sich einer rhetorischen Kunstfigur, um sein Anliegen vertreten zu können. Der 1952 geborene, soziologisch geschulte Therapeut begründet sehr viel offensiver eine quer zum Zeitgeist stehende konservative Rebellion, um die Ehe gegen die hohen Werte der Gegenwart – Unmittelbarkeit, Kurzfristigkeit, Gleichzeitigkeit und Schnelligkeit – in Position zu bringen: „Wie anachronistisch, hoffnungslos überholt, ja geradezu anstößig abweichend muss da die auf Mittelbarkeit, Langfristigkeit, Verlangsamung und Stabilität setzende Ehe wirken (Retzer 2008, 24)."
Kein Wunder – so seine pointierte Zuspitzung –, dass die Ehe selbst wie ein Wunder erscheine: Wer an ihr festhalte, selbst dann noch, wenn neue und verbesserte Versionen auf dem Markt seien..., laufe Gefahr, als ‚nicht normal' angesehen und entsprechend behandelt zu werden. Aus Verpflichtungen vom Typ „Bis dass der Tod euch scheidet" würden heute oft Verträge, die jederzeit gebrochen werden könnten. Partnerschaften und Ehen würden wie Dinge behandelt und wahrgenommen, die man konsumieren könne.