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"Was hast du dir dabei gedacht?" 

Hans Magnus Enzensberger kommt zu der Erkenntnis: "So wie du wollte ich nie werden." Ijoma Mangold zu Besuch bei HME - Das vorläufig letzte Buch "Tumult"

ZEIT 43/2014 vom 16.10.2014, S. 45

Man könnte mit Blick auf die ganz alten Kerle (alt bin ich selbst schon) - ob sie nun Martin Walser, Günter Grass, Helmut Schmidt, Hans Magnus Enzensberger (HME) oder wie auch immer heißen und sich weit über die 80er hinaus beweg(t)en - auch zu dem Befund kommen: "Was ich noch zu sagen hätte". Ist es die Altersmilde, der Alterstarrsinn oder ist es Altersblödigkeit mit einhergehendem partiellem Schamverlust, die die Herren sanft und milde stimmt - und vor allem zum Selbstbekennertum treibt? Dass wir uns hier nicht missvertehen: Mit Peter Sloterdijk ist unumwunden einzuräumen, dass öffentliches Schreiben immer - und unvermeidbarer Weise - einem Akt der Selbstaussetzung gleichkommt.

Bei Enzensberger ist es so, dass er sich selbst überlebt hat und im Erleben dieses Zustands bereit ist, etwas preizugeben, das er im Hochsicherheitstrakt "persönliche Motive" verborgen - vielleicht auch entsorgt glaubte. Sicherlich kommen auch - selbst bei HME - Eitelkeiten ins Spiel:

"Ich habe ein sehr schwaches autobiografisches Gedächtnis, weil mich das auch nicht sonderlich interessiert." In bester Luhmannscher Selbstdesinteressierungs-Haltung betont er: "Für mich selbst interessiere ich mich nicht so rasend." Vielleicht nicht rasend, aber doch vielleicht in einer Art slow-motion-Reflex, der die eigene Fremdheit - "Was hast du dir dabei gedacht?" aus den Poren kitzelt und an die Hautoberfläche treibt, für alle, für jedermann und jedefrau sichtbar. Denen vom Marbacher Literaturarchiv hatte HME die Brocken hingeworfen: "Ich habe kein Archiv, ich habe einen Misthaufen [...] Aber es gibt Pappschachteln im Keller mit Briefen von Adorno und Ingeborg Bachmann. Wenn ihr wollt schaut euch das an."

Das kann gefährlich sein. Ist es ja schon so, dass wir molekular-biologisch nach sieben Jahren schon nicht mehr dieselben sind, so hat man im ideologischen und emotionalen Schlepptau eine Menge Müll und Kostbarkeiten, die einen vielleicht zu der Erkenntnis treiben: "So wie du wollte ich nicht werden!" oder die schlicht die Frage aufwerfen: "Was hast du dir dabei gedacht?" Jedenfalls sind die "Marbacher Manuskripte-Profis" hinab gestiegen in den Keller, durchkämten den "Müll" und kamen zurück mit jeder Menge Manuskripte und Aufzeichnungen: Es waren - so Ijoma Mangold -  "regelrecht ausformulierte Texte, die vor allem von Enzensberges unendlich vielen Reisen in dieser Zeit (zwischen 1963 und 1970) berichten - sein Interesse war geweckt." HME wird im November 86 und teilt die hier dokumentierte Naivität offenkundig mit vielen Altersgenossen. Dem Autor der "Geschichte der Wolken" gegenüber bekomme ich regelrechtes Fracksausen, wenn ich ihn der Naivität zeihe:

"Ursprünglich dachte ich, das hat alles mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen zu tun. Ich wollte das von meinen Intimitäten, von meinem Privatleben möglichst fernhalten. Aber es zeigte sich, dass das Ganze nicht verständlich war ohne die persönlichen Motive, die über die objektiv politische Seite hinausgehen. Da kam dieser russische Roman ins Spiel."

In der kaum noch irritierbaren Informationsgesellschaft, im Rauschen der Zeichen locken sicherlich auch die Bekenntnisse HMEs keinen hinter dem Ofen vor. Sie taugen vielmehr zur Entlarvung einer (kokett daher kommenden) Naivität, die einen egghead, wie HME - vorgeblich auf die Idee bringt, es könne ein "Ganzes" in Absehung persönlicher Motive geben. Aber er belehrt sich ja selbst eines Besseren:

Der russiche Roman: "1966 lernte er (HME) in Baku auf einem Kongress des sowjetischen Schriftstellerverbandes Maria Alexandrowna Makarowa, genannt Mascha, kennen. Er ist 36, sie 23. Sie verlieben sich, wollen nicht aufeinander verzichten, obwohl es nicht leicht ist diese Liebe über den Eisernen Vorhang hinweg zu leben. Außerdem (Hervorhebung, Verf.) ist Enzensberger verheiratet. Mit der Norwegerin Dagrun, mit der er eine Tochter hat. Er trennt sich von Dagrun, und 1967 heiraten Mascha und er."

Des Dramoletts erster Akt: Die sogenannte (in Enzensbergers eigener Sprachregelung) "Amour fou" (erster Akt) umfasst im ZEIT-Artikel einen Absatz und zwölfeinhalb Zeilen: Verlieben, Trennen, Scheiden, Heiraten und außerdem - wie liebe ich dieses "außerdem" (es bleibt doch dank seiner immer noch Platz für eine kleine Ergänzung) - erfahren wir, dass HME eine Tochter hat, die er vermutlich auch verlässt.

Des Dramoletts zweiter Akt: HME ist einer der markantesten Repräsentanten des deutschen Kultur- und Geisteslebens (ich verehre ihn allein wegen der schon erwähnten "Geschichte der Wolken"). Und wie kann man nun den dramatischen Verlauf einer justiziabel gewordenen "Amour fou" erklären, ohne sich selbst zu beschädigen??? Ja doch - das geht!!!

Denn: "Mascha ist eine komplizierte, dramatische Frau mit starken Gefühlen (ich habe übrigens auch so (m)eine Frau, Verf.). Alles ist intensiv: das Glück und der Kummer. Die Eifersucht hat sie fest in ihrer Gewalt, außerdem neigt sie zu Depressionen. Es ist von Anfang an nicht leicht. In Berlin, wo sich Enzensberger nach der Trennung von Dragun um seine Tochter kümmert (immerhin, Verf.), fühlt sich Mascha deplatziert. Also ergreifen sie die Flucht, sind immer unterwegs, gehen in die USA, dann nach Kuba. Es sind Ausweichbewegungen vor der Unmöglichkeit, diese Liebe alltäglich Leben zu können (aller Hervorhebungen, Verf.)."

Ja, das tut schon gut. Selbst HME kann eine solche Liebe nicht alltäglich leben. Er ist doch von dieser Welt und gehört nicht zu den entrückten Titanen in Menschengestalt. Und wer wollte ernsthaft zweifeln, bei wem die Verantwortung für das Scheitern dieser Liebe liegt?! Und vor allem - lieber Ijoma Mangold, vermutlich haben sie es einfach nur vergessen zu erwähnen - erklärt sich diese "Unmöglichkeit" ja auch aus dem Umstand, das HME immer seine Tochter ("um die er sich kümmert") im Schlepptau hat. Haben Sie schon einmal eine vermutlich eben erst schulpflichtige Tochter durch die USA und durch Kuba geschleppt? Da nimmt jede - selbst die romantischste Liebe - Schaden. Im Mangold-Enzensberger-Sprachkuddel-Muddel hört sich das so an (nach der Tochter suche ich im Übrigen noch, ob sie nun in den USA, Kuba oder vielleicht doch in Kambodscha, in Amsterdamm oder doch Stockholm auf der Strecke geblieben ist?):

"'Ohne diesen russischen Roman', sagt Enzensberger (und man merkt, wie sehr es ihn erleichtert, dass er diese leichthändige Metapher für so etwas Persönliches zur Hand hat), 'kann man gar nicht verstehen, was diesen jungen Mann (von immerhin 36 und mehr Jahren, Anm. Verf.) zu diesen irren Bewegungen über den Planeten veranlasst hat. Was macht er da plötzlich in Kambodscha, in Amsterdam, in Stockholm? Dafür muss es ja Gründe geben, die eben auch mit einer Dynamik der Gefühle zu tun haben'."

Der "junge Mann wird zu irren Bewegungen über den Planeten veranlasst"; fast schon ein Wunder, dass er dabei selbst nicht irre wird. Aber irgendwie lässt mich die Tochter noch nicht ruhen, ich meine die Frage, wie sie in der Dynamik der Gefühle von Ost nach West und von Süd nach Nord über den Planeten bewegt worden ist, ohne irre zu werden. Oder ist sie möglicherweise gar nicht bewegt worden?

Wie viele Töchter hat HME eigentlich? Ach ja, pardon - er hat zwei Töchter: Tanaquil (die ältere) und Theresia (die jüngere) - also kann es nur um Tanaquil gehen! Und beide pflegen noch Kontakt zu HME und arbeiten zuweilen sogar gemeinsam mit ihm (und es gibt schöne Fotos im Internet).

Zeitgeschichte als Ablenkung: Ein hart erarbeitetes Privileg des Geistesriesen HME

Kommen wir noch einmal zurück auf den Ego-Tripp, der als von Enzensberger und Mangold gleichermaßen euphemistisch wie psycho-hygienisch entlastend geschildert wird: "Es ist, als griffe er die Ablenkungen der Zeitgeschichte dankbar auf, um nicht dem absehbaren Scheitern seiner Liebe zu Mascha ins Auge schauen zu müssen. So wird in diesen kunstvoll beiläufigen Texten immer ununterscheidbarer, ob der Tumult mehr auf den Straßen oder in seinem Herzen herrscht." Aber schlussendlich muss HME dem Tiger in den Rachen schauen - Anfang der siebziger Jahre trennen sich Mascha und er.

Interessant bleiben die Legitimation und gleichzeitig die ambivalent daherkommende Überwindung, die HME mit der Preisgabe von Intimem verbindet: "'Als ich', sagt Enzensberger, 'meine ersten Versuche zu diesem Buch Vertrauten zum Lesen gab, sagten die: >Mehr davon! Sei nicht so keuch, diese Keuchheit ist blöd!<' Gemessen an unserer heutigen Zeit mit ihrem Brachial-Exhibitionismus allerdings ist auch Tumult noch ein keuches, diskretes Buch." Keuch und diskret! Jawohl, wir erfahren viel über Mascha, wenig, aber doch nicht zu wenig über HME, der ja unbeschadet und fast schon ein wenig als Opfer erscheint. Ein Glück, dass er die Tumulte seines Jung-Männer-Lebens - soeben einmal auf die vierzig zusteuernd - heil überstanden hat.


Zuletzt möchte ich auf einen formalen Kunstgriff aufmerksam machen, der mir grundsätzlich Sinn gibt, um auch Anfängern im (autobiografischen) Schreiben mehr Abstand zur eigenen Geschichte zu ermöglichen. Die höchste Stufe autobiografischen Schreibens nutzt auf effektive Weise jene von Niklas Luhmann erwähnten Inkonsistenzbereinigungsprogramme, die dafür sorgen, dass im Rückblick die Symbiose von Öffentlichem und Privatem als glattes, kantenfreies Gesamtkunstwerk in Erscheinung tritt. HME beherrscht sie in souveräner Manier:

Er inszeniert ein Zwiegespräch zwischen dem Enzensberger von heute und dem von damals: "Er spaltet seine Person - so Mangold - kunstvoll auf und inszeniert die Fremheit zwischen beiden möglichst drastisch: 'Keiner von uns beiden erkennt sich in dem anderen wieder', lautet gleich der erste Satz. Und der junge sagt zum alten Enzensberger: 'So wie du wollte ich nie werden. Zum Glück sind wir einander ziemlich unähnlich'."

Aber auch Ijoma Mangold unterstellt HME "Koketterie (Enzensbergers größtes Laster)" und sieht hier "vielleicht die einzige echte Schwachstelle dieses klugen Buches". Die beiden Alter Egos seien keineswegs so verschieden. So tue der alte Enzensberger so, als hätte er gerne noch ein paar saftigere Happen von dem "russischen Roman". Und so sagt der Alte zu dem Jungen, weil er hinter den filigranen politisch-zeitgeschichtlichen Miniaturen im Buch Ablenkungsmanöver vermutet: "Das hat alles gar nichts mit dir zu tun. Du erinnerst mich an das Märchen vom Rumpelstilzchen. 'Ach wie gut, dass niemand weiß...' Kommen wir lieber wieder auf Mascha und dich zurück." In Wahrheit - so Mangold - steckten die beiden unter einer Decke. Sie seien anmutige Versteckspieler, die in perfekter Kollaboration dafür sorgten, dass nie jemand Enzensberger bei seinem wahren Namen nennen könne.

Schlussendlich ringt sich HME einen überaus sympathischen Zug ab, der wiederum etwas zu tun haben könnte mit der Luhmannschen Haltung der "Selbstdesinteressierung" (siehe dazu Sloterdijk):

"Fehlbar sind wir alle. Meine Verranntheiten sind mir nicht heilig."

Und trotzdem kann ich mich selbst nicht des Eindrucks erwehren, dass sich in den beiden Fotos vom alten und vom jungen HME nicht das Rumpelstilzchen zeigt, sondern vielmehr das Kasperle: Das "Tri-Tra-Trulala" passt eben doch besser, denn das: "Ach wie gut, dass niemand weiß"... verfängt nicht mehr. Wir wissen eben jetzt doch viel zu genau, wer Mascha war!

Und wie ist das mit der Selbstreferenz? Und sind die Glättungen - Altersheiterkeit hin oder her (oder auch: ist das nicht sehr Tri-Tra-Trulala?) - nicht allzu glatt? Und degenerieren Mascha - und was an ihr hängt - nicht nur noch zu einer leblosen historischen Staffage, um z.B. die (Reise-)Obsessionen eines jungen Mannes euphemistisch zu verklären? Wie schrieb Jochen Jung noch 2003 in der ZEIT zum Erscheinen der "Geschichte der Wolken":

"Die Oberlehrerfrage 'Was will der Dichter uns damit sagen?' war bei Enzensberger nie ganz so blöd wie üblich; denn er hat uns tatsächlich und häufig etwas sagen wollen, weil er unser Denken nachlässig, unverantwortlich fand und uns gern auf das eine oder andere aufmerksam machen wollte."

Jedenfalls ist es spannend zu erleben, wie jemand, der sich selbst "nicht so rasend für sich selbst interessiert" von seinen eigenen Geschichten ein- und überholt wird. Auch dafür: Danke HME!

 

Und schließlich HME zu Ehren und zur Erinnerung:

 

U-Bahn Wittenbergplatz

(und noch mehr)

 

Die dir da entgegensinken,

abwärts in den alltäglichen Hades

auf der Rolltreppe, dieser alte Mann,

ganz bei sich in seinem mürrischen Herzen,

und die zerknitterte Frau,

die etwas Bitteres vor sich hinmurmelt -

 

die waren doch auch einmal entflammt,

früher, irgendwann, selbstvergessen,

außer sich, strahlend

vor Übermut, oder nicht?

Wie kam es? Seit wann? Und warum?

Draußen der Schnee ist auch schon wieder

 

zu Matsch geworden.

   
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