Lyrographie - bevor es losgeht! Die "Lyrographie" ist mein nächstes größeres Projekt
Da will einer hoch hinaus – das Gedicht als die Königsform der Verknappung und Verdichtung – und weil es so schön ist in der neuen Medienwelt, erliegt der Romantiker ab und zu der symbiotischen Verbindung bzw. Verschmelzung von Wort und Bild. Und er entsinnt sich Niklas Luhmanns Hinweis, wonach es uns nicht an gelehrter Prosa fehle. Er meint für anspruchsvolle Theorieleistungen sollte es eine Art Parallelpoesie geben, „die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist“.
Aber ich will ja noch höher hinaus. Die Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns hat mir mit der Idee, dass der Lebenslauf aus Wendepunkten bestehe, an denen etwas geschehen sei, was nicht hätte geschehen müssen, die Zufallsabhängigkeit unser aller Lebensläufe vermittelt. Diese unaufhebbare Kontingenz und die Aufmerksamkeit für das, was (m)einen Lebenslauf wendet, ist bei mir zuweilen auf lyrische Weise spurenmächtig geworden. Der Urknall, der den starting point meines Lebenslaufes oder den (Endpunkt des Lebenslaufs) meines Bruders, den meiner Schwester (vor allem im Zusammenhang mit dem unserer Mutter) markiert, zentrifugiert nicht nur das Leben selbst, sondern auch seine symbolische Verdichtung in sprachlicher Form.
Die kontingenten Schnittpunkte (m)eines Lebens gehen auf diese Weise in gerinnungsfähigen Wortstoff/Wertstoff über. Die Stockungen und Ausfällungen bilden die Rohmasse, aus der die Gebilde entstehen, die als Verdichtungen oder Gedichte in den sozialen Raum mäandern. Die Gerinnungsfaktoren resultieren aus der mir je möglichen Komplexitätsreduktion - manche Leser mögen es auch als Komplexitätsexplosion empfinden - und markieren den Sinn- und Bedeutungsraum, den ich (auch) für mein Leben halte. Ich nehme Max Frisch beim Wort und halte den Variationsraum - Biografie ein Spiel - für ebenso beschränkt, wie er: "Wir erzählen uns allen eine Geschichte, die wir für unser Leben halten". Und im Erzählen, im Erinnern, im (Neu-)Bewerten - eingedenk aller mitlaufenden Inkonsistenzbereinigungsprogramme - kann sich hingegen eine gleichermaßen umfängliche wie raffinierte Variationsbreite entfalten. Ein einziges meiner Urknall-Gedichte soll hier platziert sein, um erahnen zu können, was sich in den nächsten Monaten hier abspielen wird:
Orte
Ich heiße Josef (neben Franz),
und bin der Enkel
einer deutschen Eiche:
Josef -
stark und breit,
sanft und gewogen,
leicht gebeugt
- ein Kraftwerk.
In Deinem Haus
- keine Bilder, keine Bücher,
da hingen keine Gainsbouroughs
der Volksempfänger bis zuletzt!
Und doch:
Jede Sekunde gelebten Lebens
respektvoll:
Du trugst uns (Enkel)Kinder auf Händen
- alle!
Und herausgeschnitzt
(auch diese) Linie(n)
- erzählten Lebens:
Der Eigensinn, die Unvernunft -
da spürte schon mal ein brauner Uniformträger,
wie rotes Blut und brauner Boden schmeckt!
Nein!
Über Politik und Geschichte wurde wenig gesprochen.
Masuren 1914 -
steckte in Deiner Seele –
und
Eisen
als lebenslange Depotgabe
in Deinem Körper.
Warst kein Schweijk,
und kein
Jünger der Stahlgewitter.
Merkwürdig konstruierte Intuition,
assimilierte Facetten jiddischer „Kultur“ -
Ja, ja!
Gelernt hast Du das Schächten
(dein Werkzeug liegt jetzt in meinen Händen).
Metzger wolltest du werden -
und warst früh schon geschätzter Experte,
wenn es die
Gottschalks,
die Oppenheimers,
die Wolffs
und Lichtendorffs
koscher haben wollten.
Merkwürdige Synchronizität:
Die Mischpoke ist Dir abhanden gekommen –
wolltest Du jemals wissen wie?
Alles Millionäre in Amerika!?
Und Du?
Ohne Profession!
Verlust bei Verlust.
Stiller Gewinner die Stadt:
Zumal die untersten Chargen
- die städtischen Arbeitskolonnen -
besetzt mit Spitzenkräften.
Für mich warst du
der immer schon alte, starke Mann:
Im Schiefer der Weinberge;
als Führer
zu den mythischen Orten der Kindheit,
wo die Maiglöckchen (noch heute) blühen.
In den lehmigen Gruben,
stiller Bereiter der letzten Wege,
wo selbst Du deine Grenzen erfuhrst,
wenn jemand im Tod noch auf Wanderschaft musste.
Dann wieder ein Ort
- im städtischen Schwimmbad -
wo Leben quirlt und sprüht!
Lebendige Kindheit
- Salz und Sonne auf unserer Haut!
Geheimnisvoll aber,
mythisch,
dionysisch
und gewaltig jener Ort.
Die Hallen,
in denen
Anfang und Ende zusammenfließen:
Wir lebten am Rande,
der letzten Bastion zivilisierten Lebens.
Von dort 3000 Meter
wildes Land:
Zuerst die Abraumhalden der Stadt
- Schutt!
In der anderen Welt,
jenseits der Ahr,
gesäumt von Alleen immer blühender Kastanien
die in den Hades übergehenden Prozessionen,
wo Staub kommt zu Staub.
Auf unserer Seite die Niederungen,
Sumpf- und Schwemmgebiet,
worin sich alle Urgewalt verläuft:
Hier duckt sich der Ort,
hinter Haselnüssen und Hainbuchen,
ein Bunker,
flach
und bestimmt von Diagonalen
- sanft ansteigende Schrägen.
Zuerst lockt eine Stube,
verwinkelter, tetraedischer Kubus,
kristalliner Raum einer ganzen Welt:
Der Körper spürt wohlige Ewigkeitswärme -
fossiles Urfeuer im Kanonenrohr;
die Augen gehen über.
Im Restlicht erscheint das Panoptikum (D)einer Zeit:
An den Wänden das illustrierte Feuerwerk
der formierten Gesellschaft:
Beauties und Katastrophen,
Abziehbilder medial markierten Raums.
Ein fernes, geheimnisvolles Rauschen liegt über Allem.
Dünn und vernehmlich,
bedrohlich,
aber (noch) gebannt
im Kreis der alten Männer:
Schwerer Moschus
aus Tabak, Manschester -
sinfonische Höhepunkte,
wenn Bohnen und Speck,
Schweinebraten und Kohl,
Wirsing und Gulasch
Geruchsnischen besetzen,
wie Flaschengeister jenem Kessel entsteigen,
der die Kleinode unserer Küche bewahrt;
und doch nichts als Irrlichter im olfaktorischen Inferno.
Von Zeit zu Zeit
- in der rush hour kollektiver Biorhythmen alle Stunde -
verlässt Du die Stube.
Dann ergreife ich Deine Hand
selig geborgen,
gerade genug,
um standzuhalten!
Denn wir treten ein in den Bannkreis der düsteren Hallen,
anschwellendes Rauschen,
noch wie fernes Trommelfeuer vor dem Sturm.
Welche Schätze lagern hinter metallenen Toren
an des Wächters Hand -
vor dem Allerheiligsten?