Mach dir einen Plan! - eine Replik auf Edgar Hammes: Bessere Bildung konkret (PDF)
BALLADE VON DER UNZULÄNGLICHKEIT MENSCHLICHEN PLANENS
Der Mensch lebt durch den Kopf.
Sein Kopf reicht ihm nicht aus.
Versuch es nur, von deinem Kopf
Lebt höchstens eine Laus.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlau genug.
Niemals merkt er eben
Diesen Lug und Trug.
Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höhres Streben
Ist ein schöner Zug.
Ja, renn nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr
Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht anspruchslos genug.
Drum ist all sein Streben
Nur ein Selbstbetrug.
Der Mensch ist gar nicht gut
Drum hau ihn auf den Hut.
Hast du ihm auf dem Hut gehaun
Dann wird er vielleicht gut.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht gut genug
Darum haut ihm eben
Ruhig auf den Hut!
Bertolt Brecht
Das Alter kann uns weise machen - doch die Weisheit des Alters wird heute vielleicht zu wenig gewürdigt und geachtet. Früher hat man mit weisen, alten Männern und Frauen den Diskurs gesucht. Altersweisheit ist häufig unbequem und unangenehm. Sie provoziert uns. Bestensfalls regt sie Zweifel in uns und begegnet der Hybris der Allmachbarkeit und einem grenzenlosen Kontrollwahn mit einem milden Lächeln. So fragt man sich, was treibt eigentlich einen älteren Herrn um, der in ehrenwerter Haltung unser Institut seit Jahren mit unbesoldeten Lehraufträgen unterstützt? Zuletzt ist es eines von vielen - in der Regel kurz gehaltenen - Statements, das einmal mehr meinen Unmut weckt.
Das letze Statment ist mit Juni 2016 datiert und trägt die Überschrift: "Bessere Bildung konkret - Schulentwicklung gegenperspektivisch reflektieren". Der Titel erfährt eine Präzisierung durch den Hinweis: "Ohne Ziel stimmt jede Richtung - Von unzureichenden Soll/Ist-Analysen". Die Ausführungen beginnen mit der Wiedergabe eines knappen Dialogs zwischen einem jungen Mann und seiner Mutter:
"Ein junger Mann sagt zu seiner Mutter: 'Mutter, ich will mein Leben ändern!' - Fragt die Mutter: 'Hast du ein Konzept?' - Sagt der Sohn: 'Ja, ich will ein besserer Mensch werden!' Daraufhin die Mutter: 'Also hast du kein Konzept!'"
Es gibt einen zweiten Hinweis darauf, welche didaktische - und weit darüber hinausgehend - welche lebensphilosophische Grundorientierung jungen Menschen angeboten werden soll:
"Würden Sie ein Haus renovieren ohne konkrete Soll-Beschreibung, wie Sie sich - zu welchem Zwecke, zu welcher späteren Nutzung, nach welchen heutigen Standards und nach welchen neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen - Ihr Haus vorstellen? Würden Sie damit beginnen, es einfach drauflos umzubauen ohne konkrete Ist-Analyse über dessen genauen Detail-Zustand?
Möchte man dem Eltern-Kind-Dialog literarisch mit Bertolt Brechts BALLADE VON DER UNZULÄNGLICHKEIT MENSCHLICHEN PLANENS begegnen, so legt die bemühte Analogie von der Hausrenovierung nahe, doch einmal die zugrundeliegenden Argumentationszusammenhänge genauer anzuschauen:
- E.H. beklagt, die "Konkretisierung von 'besserer Bildung'" finde - selbst bei den Vergleichstests der Bundesländer durch die Bertelsmann-Stiftung - über die Rahmenbedingungen statt, kaum über inhaltliche Qualität: "Selbst die Formulierung von Kompetenzzielen, z.B. in den staatlichen Bildungsstandards, ist so allgemein gehalten, dass daraus jede und jeder alles und jedes für sich als 'bildungs-wirksam' auslegen kann." Er zitiert aus den Bildungsstandards Deutsch, Klassenstufe 4: "Lesen ist ein eigenaktiver Prozess der Sinnkonstruktion. Die Schule führt zum genießenden, informierenden, selektiven, kritischen, und interpretierenden Lesen und legt damit die Grundlage für ein weiteres selbstbestimmtes Lesen." E.H. schließt daran die Frage an:
- "Wann, wo und wie stellen wir durch welche Ist-Analyse denn fest, ob eine Lehrerin der 4. Klasse diese Soll-Formulierung überhaupt versteht und auf der Anwendungsebene umzusetzen vermag? Wie diagnostizieren wir, ob sie z.B. 'das intensive Lesen diskontinuierlicher informierender Sachtexte auf welchen der fünf Lesekompetenzstufen' jemals zum Einsatz bringt und mit welchem Lernfortschritt ihre Kinder die Inhalte nicht nur 'eins-zu-eins entnehmen und wiedergeben', sondern auch 'text-immanent und/oder wissens-basiert reflektieren und bewerten' können?"
- E.H. beklagt weiterhin, die Beschreibung der Methoden sei "ähnlich 'konkret', nämlich 'beliebig'. Und erst recht beklagt er, was das alles jeweils "konkret auf das jeweilige inhaltliche Ziel bezogen heißt, bleibt der 'freien Interpretation' des Einzelnen überlassen.
- Und damit alle Studierenden der Lehrämter wissen, mit welchen Erwartungen sie sich jetzt und künftig konfrontiert sehen, rückt mit der Kardinalfrage von E.H. der Kern eines Professionalitätsverständnisses in den Mittelpunkt, der schon von Dieter Lenzen 2003 (Texte öffnen mit Passwort: wiro2015) umrissen worden ist im Sinne eines Lehrprofis auf höchstem Niveau (ohne Beamtenstatus!): "Das erfordert diagnostische Fähigkeiten, die anspruchsvoller sind als die eines Arztes." Hier fügt sich die Fragestellung von E.H nahtlos ein: "Wie kann ich aber individuell, differenziert, und kindgerecht auf das Potential des einzelnen Kindes hin mit meinem Kommunikationsverhalten, mit Aufgabenstellungen und Methoden reagieren, wenn ich nicht durch eine individuelle Ist-Analyse u.a. Sprachvermögen, Denkfähigkeit, Zusammenhangwissen, fachliche Kenntnisse, Fertigkeiten, Haltungen, Einstellungen, 'biografische und Milieu bedingte' Vorerfahrungen des ganz bestimmten Kindes diagnostiziert habe?"
- Das reicht E.H. aber bei Weitem nicht. Die nächste Frage beruht auf Visionen, die immer schon von der Hoffnung getragen waren, endlich doch die operative Geschlossenheit und Intransparenz psychischer Systeme überwinden zu können und sie gewissermaßen für Kontrallinstanzen lesbar zu machen: "Gibt es Ist-Stand-Analysen an den Schulen, die den neuesten Kenntnis- und Bewusstseins-Stand(! - Hervorhebung, Verfasser) der Kolleginnen und Kollegen betreffen, in Bezug auf ihre Beziehungs-Expertise, Fach-Expertise und die Vermittlungs-Expertise, was sie an Bildungsinhalten vermitteln und wie sie vermitteln? Gelten selbst konzipierte Klassenarbeiten, grob definierte persönliche Erfahrungswerte von einzelnen Pädagogen aus ihrem Unterrichtsalltag, 'über den Daumen gepeilte' Einschätzungen von Schülern oder ungeprüfte 'Vermutungs-Diagnosen' schon als Ist-Analyse für das Einstufen von Erkenntnis, Bewusstsein und Handlungswissen bei den einzelnen Schülerinnen und Schülern? Wie konkret zielbezogen auf eingegrenzte und exakt definierte Kompetenzbereiche hin laufen Tests und Klassenarbeiten in den Schulen denn überhaupt ab?"
Man liest und staunt; man staunt nicht zuletzt über den kritischen Seitenhieb der Bertelsmann-Stiftung gegenüber. Dabei implizieren die Fragen von E.H. ganz offensichtlich Antworthorizonte, in deren Spiegel die Bertelsmannschen Bemühungen um Einfluss und Kontrolle im Bildungswesen wie Sandkastenspiele anmuten: E.H. misstraut Lehrerinnen und Lehrern zutiefst und stellt ihre Professionalität radikal in Frage:
- "Wann, wo und wie stellen wir durch welche Ist-Analyse denn fest, ob eine Lehrerin der 4. Klasse diese Soll-Formulierung überhaupt versteht und auf der Anwendungsebene umzusetzen vermag?
- "Gibt es Ist-Stands-Analysen an den Schulen, die den neuesten Kenntnis- und Bewusstseinsstand der Kolleginnen und Kollegen betreffen [... und] gelten selbst konzipierte Klassenarbeiten, grob definierte Erfahrungswerte von einzelnen Pädagogen aus ihrem Unterrichtsalltag, über 'den Daumen gepeilte' Einschätzungen von Schülern oder ungeprüfte 'Vermutungs-Diagnosen' schon als Ist-Analyse für das Einstufen von Erkenntnis, Bewusstsein und Handlungswissen bei den einzelnen Schülerinnen und Schülern?"
Werte Kolleginnen und Kollegen (auch im Schuldienst), werte Lehramtsanwärterinnen und -anwärter, werte Studierende der Lehrämter - hier formuliert jemand Positionen, der lange als Lehrer in Schulen und der lange als Schulaufsichtsbeamter in der Schulaufsicht sowie in der Ersten und Zweiten Phase der Lehrerausbildung aktiv war und ist. Kann es sein, dass E.H. dies tatsächlich so meint, wie man es zu lesen glaubt?
Gewiss: "Lesen ist ein eigenaktiver Prozess der Sinnkonstruktion." Über Sinnkonstruktionen kann man diskutieren. Klassenarbeiten kann man gemeinsam stufenbezogen konzipieren - das gehört zum Standardrepertoire professionell arbeitender Lehrerinnen und Lehrer. "Grob definierte Erfahrungswerte von einzelnen Pädagogen aus ihrem Unterrichtsalltag, über 'den Daumen gepeilte' Einschätzungen von Schülern oder ungeprüfte 'Vermutungsdiagnosen'" bilden die Ausgangslage und die Bezugswelten für jeden professionellen pädagogischen Diskurs - was sonst??? Behauptet E.H. etwa er hätte jemals über einen anderen - womöglich einen singulären, privilegierten - Zugang zu den elementaren alltäglichen pädagogischen Herausforderungen verfügt??? Die Rahmenbedingungen sind wichtig und entscheiden über Raum und Zeit als Voraussetzungen über unser Planen und Tun tatsächlich auch professionell reflektieren und kommunizieren zu können. Das Bewusstsein von Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern markiert hingegen operativ, aber auch im Sinne von Takt und Diskretion, jenen Raum, der mit einem Tabu belegt ist. Hier ließe sich einiges über Beziehungsgestaltung anfügen, um den übergriffigen Lehrer vom professionell arbeitenden Lehrer zu unterscheiden!
Mein eigener Text macht sich inzwischen unnützer Redundanzen schuldig. Aber man muss die Ausführungen von E.H. mehrfach lesen, um sich auch der Konsequenzen bewusst zu werden. Rheinland-Pfalz hat die AQS - wenn auch aus vorwiegend anderen Motiven - soeben auf den Müllhaufen der obsoleten TOP-DOWN-Strategien entsorgt. E.H. bleibt in seinem Papier die Antwort schuldig, wem denn die Durchführung der "Ist-Analysen" und die Überprüfung der "Soll-Formulierungen" hinsichtlich ihrer Einlösung obliegen soll? Man könnte vielleicht darüber nachdenken, ob wir die historisch desavouierte Diktatur des Proletariats ersetzen durch die Diktatur freigestellter Ruhestandsbeamter aus Schulaufsicht und Schulleitung? Es fehlen uns nur noch die Bewusstseinsscanner!
Was spricht dagegen, und warum sollten wir uns einer AQS genauso konsequent entledigen wie einer Diktatur der vermeintlich Besserwissenden? Einige systemtheoretisch inspirierte Hinweise (siehe dazu auch die grundlegenden Erwägungen zu einem kontingenzgewärtigen Unterrichtsverständnis im Anschluss an Wolfgang Meseth u.a.)
Niklas Luhmann fragt in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichen Aufsatz (Frankfurt 1997), was das allgemeinste Medium sein könnte, in dem sich die Wirkungen des Erziehungssystems beobachten lassen: Er gelangt zu der Auffassung, dies sei der Lebenslauf. Den aus Wendepunkten bestehenden Lebenslauf beschreibt er unter anderem einerseits als ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms von Möglichkeiten und andererseits als eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen oder verschließen. Setzt man sich bis ins hohe Alter einer Hochschulsozialisation im Sinne eines lebenslangen Lernens aus und nimmt dabei öffentlich das Wort, muss man mit Kritik und Einwänden rechnen. Auch die Wissenschaftstraditionen stellen so etwas dar, wie ein Kombinationsprogramm, das einem weitere Möglichkeiten (der Reflexion) eröffnet oder verschließt. Aus den Ausführungen von E.H. spricht eine Orientierung an linearen Fortschrittsmythen, die die technokratische und industrielle Planungsmetapher unreflektiert auf den Unterricht überträgt. Hier wird mit Ist- und Soll-Analysen operiert, als würden wir Schülerinnen und Schüler wie eine x-beliebige Ware herstellen.
Die These Luhmanns, dass sich Erziehung - vor allem im Kontext pubertärer Entwicklungsdynamiken - unvermeidbarer Weise als eine Zumutung elterlicher und gesellschaftlicher Ansprüche und Erwartungen offenbart, ist ein Allgemeinplatz. Bildung hingegen erscheint uns im besten Falle als ein Angebot, das uns hilft zu uns selbst und zu unseren Möglichkeiten zu kommen. Mit Blick auf ihre Schülerinnen und Schüler sehen viele Kolleginnen und Kollgegen im Schuldienst hierin eine ihre vornehmsten Aufgaben - alltägliches Scheitern inbegriffen!
Insbesondere Eltern, aber auch Lehrerinnen und Lehrer erleben dabei, dass auch (die eigenen) Kinder dynamische, sich selbst organisierende Systeme sind, die über sich selbst disponieren. Das führt - so Luhmann - zu Überraschungen... Überraschungen, die sich je individuell ausprägen in Richtungen der Erwartungsbestätigung oder –enttäuschung, immer bezogen auf die Absichten, die demWillen zum „formgebenden“, „formprägenden Einfluss zugrunde liegen.
Niklas Luhmann leitet aus diesen Erfahrungen Konsequenzen für unser "pädagogisches Wissen ab:
- „Mit der Übernahme der Unterscheidung Medium/Form in die Theorie des Erziehungssystems... könnte das Erziehungssystem dann nicht mehr teleologisch und auch nicht mehr adaptionistisch begriffen werden. Statt dessen findet es sich der eigenen Autonomie ausgesetzt und damit auf Selbstorganisation, Selbstbeschreibung verwiesen."
- Ferner ergeben sich Konsequenzen für das, was man an pädagogischem Wissen erwarten kann: Nach Luhmann fehlen die Voraussetzungen für eine quasi technologische Wissensanwendung (z.B. - um es an der Begriffswahl von E.H. zu verdeutlichen - mit Blick auf "exakt definierte Kompetenzbereiche"). Dies allein schon deshalb, weil das Interaktionssystem, das die Erziehung durchführt, gar nicht die Zeit lasse, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Anwendung von Wissen gegeben sind oder nicht.
- Luhmann betont, das dies kein abschätziger Kommentar sei, sondern nur ein erneuter Hinweis darauf, dass der Erziehung ein anderes Medium zugrunde liege als der Wissenschaft und dass die festen Koppelungen, die sie anstrebe, nicht in technisch anwendbarem Wissen liegen, sondern in den Formen der Lebensläufe, an denen sie mitwirkt.
Diese Einsichten habe im übrigen auch das Denken jenes Dieter Lenzen entschieden beeinflusst, der weiter oben den "Lehrerprofi auf höchstem Niveau" fordert:
In einem Beitrag zu Niklas Luhmanns 70sten Geburtstag äußert Lenzen die radikale These: "Die Figur des 'Nicht-mehr-Gebildeten' gibt es im Bildungsdiskurs nicht... Für die klassische soziologische Vorstellung von der Sozialisationsfunktion der Gesellschaft gegenüber dem Individuum hat dieses eine radikale Folge: Es gibt sie nicht. Sozialisation ist Selbstsozialisation... Die wesentliche Differenz [zu einem Bildungsbegriff z.B. Klafkischer Prägung] liegt in dem Verzicht auf eine Humanitätsfiktion. Das ist im Übrigen nicht wirklich neu oder originell. Auch diejenigen, die die Luhmannsche Perspektive zurückweisen, stoßen bereits 200 Jahr früher - z.B. bei Johann Friedrich Herbart - auf ähnlich radikale Positionen: "...Die beste Erziehung mißlingt gar oft. Vorzügliche Menschen werden das, was sie sind, meist durch sich selbst ... (Herbart, Päd. Schr. Bd. 2, S. 386, Aphorismus 9)."
Ingeborg Schüßler und Rolf Arnold (2003) vermeiden im Übrigen die Verkürzung Lenzens auf die Kognition und sprechen von der „Logik der selbst gesteuerten Aneignung durch selbstreferentiell operierende, autopoietisch geschlossene kognitiv-emotionale Systemiken“, deren Erfolge nicht „erzeugt“, sondern lediglich „ermöglicht“ werden könnten (Arnold/Schüßler 2003).
Lieber E.H.: Wie wäre es mit dem Eingeständnis, dass auch die empirische Bildungsforschung - im Sinne von Wirkungsforschung - dieser komplexen Ausgangslage nicht annähernd gerecht werden kann, sieht man einmal von der epochemachenden Erkenntnis John Hatties ab, dass die alles entscheidende Einflussvariable hinsichtlich beobachtbarer nachhaltiger Lerneffekte bei Schülern - im Sinne von Ermöglichung - in einer vertrauensvollen Beziehungsgestaltung zwischen Schülern und ihren Lehrern zu sehen ist.
Zum Schluss möchte ich mit Jörg Schlömmerkemper (in. Pädagogik 7-8/16, S. 85) dafür plädieren, auch das pädagogisch nachhaltige Wirken von Gerold Becker und Hartmut von Hentig - jenseits der Verfehlungen des einen und der fragwürdigen Haltung des anderen dazu - wieder zur Kenntnis zu nehmen. Hartmut von Hentig habe ich noch einmal dazu befragt, was denn den Menschen eigentlich bilde:
Ja, was bildet den Menschen? "Alles – selbst wenn es langweilt oder gleichgültig lässt oder abschreckt. Dann ist dies die bildende Wirkung. Alles, weil der Mensch ein – wundersam und abscheulich – plastisches Wesen ist: veränderbar, beeinflussbar, reduzierbar, steigerungsfähig auch gegen seinen Willen, gegen seine Einsicht, gegen seine Natur. Er lässt sich durch geeignete Maßnahmen dazu bringen, Gewichte von zwei Zentnern zu stemmen, mit Hurra in den Tod zu stürmen, sich – auch angesichts einer überwältigenden Lebensmittelfülle – von Körnern oder Salatblättern zu ernähren, sich – unter Qualen – Sonnenbräune zuzulegen wie auch – mit komplizierten Vorsichtsmaßnahmen oder unter Entbehrungen – diese zu vermeiden. Eine einzige Geste eines anderen, in seinem Gemüt gespeichert, kann ihn ein Leben lang mit Eifersucht oder Hass oder Hypochondrie erfüllen, ein einziges Wort ihn mit Sehnsucht oder Heilsgewissheit oder Verblendung schlagen. Der Mensch hat aus diesem Grund als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung."
Literaturhinweise:
Arnold, Rolf: Ich lerne, also bin ich. Eine systemisch-konstruktivistische Didaktik, Heidelberg 2007
Arnold, Rolf/Ingeborg Schüßler: Ermöglichungsdidaktik. Erwachsenenpädagogische Grundlagen und Erfahrungen, Baltmannsweiler 2003
Hentig, Hartmut von: Bildung, München 1996
Klafki, Wolfgang: Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungsrezepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme, in: Ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 3. Aufl., Weinheim 1993, S. 43-81
Ders.: Allgemeinbildung heute. Grundlinien einer gegenwarts- und zukunftsbezogenen Konzeption, in: Pädagogische Welt, 3/93, 47. Jg.
Lenzen, Dieter: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab?Niklas Luhmann zum 70. Geburtstag, in: Z.f.Päd. 43. Jg., Nr.6
Ders.: Fitte Vierjährige in die Schule. Dieter Lenzen über die Zukunft unseres Bildungssystems und den Standort Deutschland, in: STERN, 47/2003
Luhmann, Niklas: Lesen lernen, in: Short Cuts. Frankfurt/Main 2000, S. 150-157
Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft (2 Bde.), Frankfurt 1998
Ders.: Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann: Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, Frankfurt 1997, S. 11-29