Erziehung als Formung des Lebenslaufs
Gedanken zur biographischen Selbstkonstruktion in Anlehnung an Niklas Luhmann (siehe dazu auch den entsprechenden Foliensatz)
(Einleitung II zu: Ich sehe was, was du nicht siehst - komm in den totgesagten Park und schau)
Vorsicht – Theorie! Theorie kann spannend und anregend sein; Theorie vermag das Nachdenken über und das Ordnen von Erfahrungen zu erleichtern und im besten Fall auf den Begriff zu bringen – vielleicht lässt sich der Zusammenhang am besten mit einem – Immanuel Kant zugeschriebenen – Aphorismus verdeutlichen, wenn er sagt: Ohne Anschauung sind unsere Begriffe blind und ohne Begriffe bleibt alle Anschauung leer (im Sinne erzählten Lebens eben stumm).
Um Spaß und Vergnügen an diesem Buch zu haben, zumindest Interessantes, Amüsantes, Tragisches, Komisches oder alles miteinander vermischt vorzufinden, kann man diese Einleitung II getrost überspringen und da ansetzen, wo ich mit meinen Erzählungen und Aufzeichnungen beginne. Mich selbst interessieren aber auch theoretische Aspekte dieser Selbstbeschreibung. Daher gibt es in diesem Buch immer wieder „Theorieschübe“, die allein schon an ihrer äußeren Erscheinungsform erkennbar sind.
„Alle Theorie ist grau“ – wie weiter oben schon erläutert, gibt es einen Leitfaden, der es erlaubt, schon an der Gestaltung der Kopfzeilen und ihren Leitbegriffen zu erkennen, ob man es mit Theorie, mit erzählenden oder lyrischen Passagen zu tun hat.
Hier in dieser „Einleitung II“ folge ich einer Skizze, die Niklas Luhmann 1997 – kurz vor seinem Tod – unter dem Titel „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“ (Frankfurt 1997 – Zitierungen im folgenden nur mit Seitenzahl angegeben) vorgelegt hat. Bereits Ulrich Beck steht Pate, bei dem Versuch „eigenes Leben“, wie er es nennt, auf der Grundlage von 15 Thesen zu reflektieren. Damit beansprucht er eine „Gesellschaftstheorie des eigenen Lebens“ zu skizzieren (siehe in diesem Buch, S. 331-349). Er unterscheidet dabei noch den „Lebenslauf“ als die Verkettung tatsächlicher Ereignisse, während die Biographie als „Erzählform“ die Ereignisse beschreibend, erklärend und bewertend zu einer Art (Selbst)Erzählung verdichtet.
Die Ausgangsfrage bei Niklas Luhmann gilt zunächst gar nicht dem „Lebenslauf“, sondern beschäftigt sich mit Fragen, die sich in einer Gesellschaft stellen, die das „lebenslange Lernen“ propagiert und die im Prozess funktionaler Differenzierung ein eigenes Erziehungssystem ausgebildet hat. Die Theorie der Erziehung – so Luhmann – sei zunächst kindbezogen als Pädagogik entwickelt worden: Dabei werde Erziehung denen zugemutet, „die es nötig haben“, während man sich auf Erwachsenenbildung einlasse, wenn man Zeit und Interesse dafür erübrigen könne. Erst über die Frage, was denn daraus resultiere, wenn man bedenke, dass der Begriff des Kindes durch den „Gegenbegriff“ des Erwachsenen definiert werde und Erziehung damit auch nur auf Familien- und Schulerziehung anwendbar sei, stößt Luhmann auf eine eigentümliche Sprachregelung, die sich – zumindest im deutschen Sprachraum – begrifflich im Wechsel vom „Erziehungssystem“ zum „Bildungssystem“ manifestiert.
Den folgenden Argumentationsfaden finde ich höchst interessant, weil es mit seiner Hilfe gelingt, ein zentrales theoretisches Element in der Luhmannschen Systemtheorie zu nutzen, um alle heterogenen Erziehungsbemühungen und Bildungsangebote (auch im tertiären Sektor der Erwachsenenbildung) doch noch als ein Teilsystem in einer funktional differenzierten Gesellschaft abgrenzen zu können. Dieses Theorieelement bezieht sich auf die Unterscheidung von Medium und Form. Veranschaulichen kann man dies am „Medium“ Sprache, das als lose gekoppelter Zusammenhang von Worten die Formung von Sätzen ermöglicht. Die Elemente des Mediums Sprache (die Worte) konfigurieren zu sinnkonstituierenden Formen (zu Sätzen, zu Texten), über die sich die Selbstorganisation von Kommunikation vollzieht. Hierher gehört der von Luhmann kreierte Begriff der „generalisierten Kommunikationsmedien“ (siehe dazu Detlef Krause, 1999 und Claudio Baraldi, 1998).
Nach Luhmann bezeichnet der Bildungsbegriff nur die „innere Form“, die das Individuum sucht und annimmt, indem es sich bildet. Die Frage bleibt zunächst unbeantwortet, was denn das Medium dieser Form sei; das Medium, in dem und durch das diese Form gebildet werden könne und die sowohl für Kinder als auch Erwachsene gleichermaßen instruktiv sei. Luhmann sucht also einen „Transformationsbegriff“, der – auf Individuen zugeschnitten – verdeutlichen könne, was die Frage „wer bin ich?“ für den Einzelnen bedeute, und wie sich die Möglichkeit darstelle, sich an sich selbst zu orientieren.
All dies führt Luhmann schließlich zu der Idee, „dass der Lebenslauf das allgemeinste Medium des Erziehungssystems sein könnte mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen, je nach dem, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt“ (18). Lesen wir bei Ulrich Beck noch, im „Lebenslauf“ manifestiere sich „die Verkettung tatsächlicher Ereignisse“, während die „Biographie“ sich als Erzählform verstehen lasse, verzichtet Niklas Luhmann auf diese begriffliche Unterscheidung: „Ein Lebenslauf ist, um einen hochabstrakten Einstiegsbegriff zu wählen, eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert wird. Der Lebenslauf schließt die vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft ein... Die Einheit des Lebenslaufs muss also Vergangenheit und Zukunft umgreifen, ohne doch eine teleologische Struktur aufzuweisen. Sie liegt in einer Integrationsleistung von Nichtselbstverständlichkeiten. Sie ist eine rhetorische Leistung, eine Erzählung. Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (18f.)."
Für mich ist es eindrücklich im folgenden die Argumentationslinien Niklas Luhmanns zu skizzieren und dabei immer wieder überwältigt zu werden von der distanzierten und abgeklärten Schärfe dieser Gedankengänge, in denen sich meine Selbsterzählung spiegeln lässt, in denen sich tiefe Bestätigungen finden lassen für meine individuelle Ausformung eines „Lebenslaufs“, der sich bewusst auch als „Erzählung“ aufgenötigt hat, bevor mir Becks oder Luhmanns Theorien zum eigenen Leben bzw. zum Lebenslauf begegnet sind. Dass zum Beispiel die Komponenten eines Lebenslaufs aus „Wendepunkten“ bestehen, spiegelt sich in den (selbst)therapeutischen Erfahrungen meiner Heidelberger Zeit wieder. Dort ist mir zum ersten Mal die kraftvolle und ressourcenorientierte Variante einer Visualisierung des eigenen Lebenslaufs begegnet, die „Tiefpunkte“ zugleich als „Wendepunkte“ erscheinen lässt mit der schlichten Konsequenz, dass sich eine Kurve an ihrem Wendepunkt wendet, eine Richtungsänderung vornimmt, sich Selbstbeschreibung infolge veränderten Selbstverstehens und Selbstbefindens qualitativ wandelt.
Und in der Tat beginnt all dies mit der (eigenen) Geburt, wie Niklas Luhmann bemerkt: „Sie wird als Faktum deklariert, ist aber zugleich, wenn man mitberücksichtigt, wie es dazu gekommen ist, ein extrem unwahrscheinlicher Zufall...“ (19) Genau diese extreme Unwahrscheinlichkeit hat in mir einen mächtigen existenziellen Schwindel verursacht. Die Hintergründe und die Umstände, die mich und meine Geschwister in diese Welt - und im Falle von Willi auch wieder aus ihr hinaus - befördert haben, sind von einer Aura des Unwirklichen umgeben; ein extrem unwahrscheinlicher Zufall und vielleicht auch genau gerade dies nicht.
Alle weiteren Ereignisse – so Luhmann – schließen sich an. „Einerseits gilt: wäre man nicht geboren, wäre es nicht zu einem beschreibbaren Lebenslauf gekommen. Andererseits gilt, dass damit so gut wie nichts festgelegt ist. Das Muster wiederholt sich von Ereignis zu Ereignis. Immer gewinnt etwas Bestimmtes Form. Man erhält einen Namen, lernt seine Eltern kennen (oder nicht), lässt sich durch dieses oder jenes beeindrucken, arbeitet sich spielend in die Welt hinein, beginnt eine Karriere mit der Erfahrung von Erfolgen und Misserfolgen und schiebt mit all dem eine noch nicht bestimmte Zukunft vor sich her (19)." Was Luhmann so lapidar bemerkt durch einen Klammerzusatz – „man erhält einen Namen, lernt seine Eltern kennen (oder nicht)“ – ist für die Dynamik eines individuellen Lebens und die systemische Perspektive einer Familie von fundamentaler Bedeutung. Und so geschieht hier genau das, was Luhmann als die bedingte und bedingende Aktualisierung eines Lebenslaufs, genauer von vielen Lebensläufen, bezeichnet:
„Das Grundmuster der bedingten und bedingenden Aktualisierung kann sich nur wiederholen – jedenfalls dann, wenn als Beschreibung das Konzept des Lebenslaufs gewählt wird. Der Lebenslauf selbst ist eine Komponente des Lebenslaufs. Er tritt in sich selbst ein und erzeugt sich selbst als einen Rahmen, dem er auf die ein oder andere Weise Rechnung zu tragen hat. Der Begriff ist also ‚autologisch’ zu verstehen. Im Sinne Derridas ist der Lebenslauf ‚Schrift’, denn er kerbt Unterschiede in eine Welt ein, die das nicht nötig hätte. Ob aufgeschrieben oder nicht, man vergisst und erinnert, füllt und entleert ein Gedächtnis, um Kapazitäten für neue Operationen und vor allem für Unvorhergesehenes zu gewinnen.“ (19f.) Und so bleibt in der Tat die „Unvorhersehbarkeit“ das mächtigste Motiv der Selbstbeschreibung.
Oder ist jemand wirklich interessiert an einem schonungslos vorhersehbaren „Lebenslauf“, selbst wenn uns allen sein individuelles Ende mit unserem Tod auch unausweichlich ist? Ich meine eine Sichtweise, wie sie Jean Paul bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert (Fundstelle in Niklas Luhmann, 18, Anm. 10): „Wahrlich da mein künftiger Lebenslauf ja aus nichts bestehen kann als aus meinem wirtschaftlichen Feld- und Hausetat, den ich sehr klar beschreiben will, und aus der Frau, zu der ich vorher die Braut suche, und mir als Hausvater und aus meiner letzten Oelung und Todtengräberszene...“
Gegen Vorstellungen einer Einförmigkeit wendet Niklas Luhmann ein, der Lebenslauf lasse sich immer nur begreifen als der Lebenslauf jeweils eines Individuums, also als ein anderer als der jedes anderen Individuums. Schon deshalb werde alles, was einen Lebenslauf ausmache, als kontingent dargestellt. Dies impliziert die Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit gleichermaßen. Weder ergebe sich der Lebenslauf aus der Gattungsnatur des Menschen, noch lasse er sich verstehen (hier muss man das „noch“ unterdessen als ein „noch nicht“ in Erwägung ziehen, siehe im Anschluss an die Einleitung II: Dolly...), wie man heute sagen könnte, als die Ausführung eines genetischen Programms: „Im Lebenslauf präsentiert das Individuum sich selbst in seiner Individualität, in seinem Anderssein, in seiner Unvergleichbarkeit. Obwohl alle Komponenten eines Lebenslaufs auch auf andere zutreffen – alle werden geboren, alle sündigen, viele gehen zur Schule, selbst Geschlechtsumwandlungen kommen auch bei anderen vor – ist die sequentielle Kombination jeweils auf Einzigartigkeit hin stilisiert (20)."
Und dennoch mag es so etwas geben, wie „Gesetzmäßigkeiten“ – vielleicht in dem Sinn, dass Heinz von Försters Imperativ „Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst“ sich in unterschiedlichen Lebensaltern (als Möglichkeit) auch unterschiedlich ausprägt: Dass die Möglichkeiten im Leben zunächst zunehmen und später, wenn man „unbeweglicher“ wird, eher wieder abnehmen, gehört sicherlich zu den Standarderwartungen, wobei Niklas Luhmann eine entscheidende Korrektur vornimmt: Er meint, vor allem die Vergangenheit sei nicht ein für allemal gegeben. Vielmehr führe der Lebenslauf mit neuen Lagen immer auch zu einer Neubeschreibung der Vergangenheit: „Nach der Scheidung findet man sich wieder als jemand, der das erreicht hatte, was er gewünscht hatte, und dann einsehen musste, dass es nicht so gut war, wie er gedacht hatte (21)." Er müsse dann ein Inkonsistenzbereinigungsprogramm erfinden, wofür es natürlich Muster gebe (Therapie). Auch der Verlust an Wahlmöglichkeiten sei durchaus eine Beschreibung, die Sinnfindungsfunktionen erfülle und immer wieder modifiziert werden könne. Diese „Inkonsistenzbereinigungsprogramme“ besitzen offensichtlich einen mächtigen Aufforderungscharakter, wenn Selbstbeschreibung auch für einen selbst überzeugen soll.
„Denn die Zukunft bleibt unbekannt und hält Überraschungen bereit. Die Beschreibung ‚Lebenslauf’ legt eine ständige Wiederbeschreibung nahe mit jeweils neuen Kompromissen zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Sie mag erklären, weshalb man so geworden ist, wie man sich vorfindet; aber sie garantiert nicht, dass diese Beschreibung auch morgen noch überzeugt. Diese Auffassung des Begriffs Lebenslauf hat keine teleologische Struktur. Sie formuliert keine Erziehungsziele. Sie ist abgestimmt auf die Unterscheidung von Medium und Form. Der aus Wendepunkten bestehende Lebenslauf ist einerseits ein Medium im Sinne eines Kombinationsraumes von Möglichkeiten und andererseits eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen und verschließen (21f.)."
Das Medium des Lebenslaufs sei keineswegs amorph, auch wenn es unabsehbar Vieles und vor allem Unerwartetes zulasse. Es müsse sich immer um den Lebenslauf nur eines Individuums handeln, das, weil ‚unteilbar’, zum Beispiel nicht gleichzeitig leben und sterben, nicht gleichzeitig Prüfungen bestehen und durchfallen könne. Und es müsse aus Momenten bestehen, von denen erzählt werden könne, dass und wie sie auseinander hervorgehen.
„Andererseits ist der Lebenslauf nicht nur eine für sich bestehende Entität, sondern nur ein Schema, durch das die Formen, die es ermöglicht, Sinn gewinnen. Beide Seiten dieser Differenz, Medium und Form, sind nur im Bezug aufeinander realisierbar. Der Lebenslauf ist diese Differenz. Oder besser: er geschieht als Prozessieren dieser Differenz. Er ist eine Form für die unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens – eine Kontingenz, die sich allein schon daraus ergibt, dass es sich um Individuen handelt, die ihr Leben zugleich hinnehmen und zu gestalten haben mit nur einem natürlichen Ende, das als Ziel nicht in Betracht kommt: dem Tod (22)."
Ganz nebenbei beantwortet Niklas Luhmann die für mich im vorliegenden Kontext eher untergeordnete Frage, wie sich denn das Erziehungssystem eine allgemein etablierte Form aneignen könne, um sie als Medium für eigene Formbildungen zu verwenden. Noch präziser gefragt: „Wie kann das allgemeine Medium der Personwahrnehmung, der Lebenslauf, so zugeschnitten werden, dass es Erziehung (unter Einschluss von Erwachsenenbildung und Geragogik) als Medium der Bildung spezifischer Formen dienen kann?“ (26) Die Antwort Luhmanns liegt ganz in der Logik seiner generellen Argumentationslinie, und sie erlaubt vor allem einen Blick auf das von Luhmann als „inkongruente Perspektive“ in den Raum gestellte Verständnis von Erziehung:
„Gleichviel ob es Kinder sind oder Erwachsene: die Erziehung hat es immer mit ‚Individuen’ zu tun, die so sind, wie sie sind, und sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Die ‚Individualität’ (Unteilbarkeit) der Individuen garantiert, dass man sie auch in anderen Situationen als dieselben vorfinden kann. Zwar handelt es sich um dynamische, sich selbst organisierende Systeme, die über sich selbst disponieren. Aber das heißt für den Erzieher zunächst ja nur, dass er sich überraschen lassen muss. Und so ist es ja auch. Zum sozialen Konstrukt ‚Erziehung’ kann es erst kommen, wenn sich Interaktionssysteme bilden, denen das Medium Lebenslauf zugrunde gelegt wird. Dann beschreibt man die Situationen an Hand eines Schemas, das einerseits retrospektiv angesetzt werden kann und zugleich für die Zukunft Möglichkeiten unterschiedlicher Formgewinnung offen lässt. Die Annahme, dass sich durch Lernen andere Möglichkeiten erschließen lassen, wirkt als ‚self-fulfilling-prophecy’, und dies unabhängig von der Frage, ob die Annahme zutrifft oder nicht. Sie validiert sich selbst, indem sie ein Verhalten motiviert, das neue Bedingungen für weiteres Verhalten schafft. Ob die Erziehung gesetzte Ziele erreicht oder nicht, ist eine zweite Frage, und bekanntermaßen kommt beides vor. Die erste und grundlegende Frage ist dagegen, wie das Erziehungssystem dazu kommt, in einem Kombinationsraum von Möglichkeiten, genannt Lebenslauf, Optionen zu sehen (26)."
Luhmann geht davon aus, dass Medien selbst keine teleologische Information enthalten. Die Spezifikation kann sich nur auf die Formen beziehen, die im Medium Profil gewinnen. Es könne nicht darum gehen, denen, die erzogen werden sollen oder wollen, einen Lebenslauf beizubringen. Das Problem liege vielmehr in der Lebenslaufrelevanz bestimmter Formen. Niklas Luhmann bezeichnet solche Formen als ‚Wissen’. Darin ist eingeschlossen „das Wissen, dass man etwas kann (zum Beispiel schwimmen)“ (26f.).
Damit meint Luhmann nicht nur, dass man Wissen bei Bedarf anwenden könne, sondern auch und vor allem: „dass es eine Art Sicherheit gibt, mit der man sich auf neue, unvertraute Situationen einlassen kann"(27).
(Man beginnt bei den eigenen Kindern – und hat je schon begonnen – die Situationen anhand eines Schemas zu beschreiben, bei dem der eigenmächtige, der fürsorgliche, der erwartungsträchtige Einfluss auf die Formbildung sich in je unterschiedlicher Ausprägung bemerkbar macht. Dass auch die eigenen Kinder dynamische, sich selbst organisierende Systeme sind, die über sich selbst disponieren, führt zu Überraschungen. Überraschungen, die sich je individuell ausprägen in Richtungen der Erwartungsbestätigung oder Erwartungsenttäuschung, immer bezogen auf die Absichten, die dem Willen zum „formgebenden“, „formprägenden“ Einfluss zugrunde liegen. Erziehung ist eine Zumutung und Bildung ein Angebot. Wer von uns versteht sich im Sinne von Luhmanns Unterscheidungen nicht in je besonderer Weise als jemand, der dem Medium des Lebenslaufs in eigensinnigster Weise durch die individuelle Spezifikation von Formen Profil gegeben hätte. Und was haben diese Spezifikationen zu tun mit den Erwartungen, die zum Beispiel unsere Eltern hinsichtlich dieser Profilbildung je gehabt haben mögen?)
Die Reflexion unseres eigenen Lebenslaufs dürfte allen klar machen, dass eines seiner zentralen Merkmale darin zu sehen ist, dass er nicht begründet werden muss. Luhmann sagt dazu: „Wollte man nur die Ziele und Erfolge hervorheben, wäre sofort einsichtig, dass etwas verschwiegen wird (20)." Erzählung wird von Luhmann mit Verweis auf reichhaltige Literatur als „funktionales Äquivalent für Argumentation“ angesehen. Für mich ist dies ein entscheidender Anstoß, mich im Erzählen mehr auf die beschreibende Ebene zu beschränken. Argumente, Begründungen, Rechtfertigungen importiere ich über die Hintertüre theoretischer Reflexionen. Daher das starke Motiv, der „Dignität der Praxis“ (Schleiermacher) die begriffliche Anstrengung hinzuzugesellen. Ich hoffe, damit nicht den existenziell bedeutsamen Identitätskern zu verwischen, der sich über erzählende und lyrische Passagen einstellen mag.
Bezogen auf unsere erzieherischen Bemühungen in der Familie und im professionellen Raum wäre eine Haltung hilfreich, mit der Luhmann uns allen eine Perspektive eröffnet: „Mit der Übernahme der Unterscheidung Medium/Form in die Theorie des Erziehungssystems könnte ein Anfang gemacht werden. Damit wären für weitere Schritte Konsistenzbedingungen vorgezeichnet. Zum Beispiel könnte das Erziehungssystem dann nicht mehr teleologisch und auch nicht mehr adaptionistisch begriffen werden. Statt dessen findet es sich der eigenen Autonomie ausgesetztund damit auf Selbstorganisation, Selbstbeschreibung oder allgemeiner: auf ‚sensemaking’ verwiesen... Ferner ergeben sich Konsequenzen für das, was man an pädagogischem Wissen erwarten kann. Erziehung ist schemabasiertes, nicht wissensbasiertes Verhalten. Es fehlen die Voraussetzungen für eine quasi technologische Wissensanwendung – allein schon deshalb, weil das Interaktionssystem, das die Erziehung durchführt, gar nicht die Zeit lässt, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Anwendung von Wissen gegeben sind oder nicht (so dass es auch gar nicht darauf ankommt, ob es ein solches Wissen gibt oder nicht). Eher geht es um das Durchziehen einer self-fulfilling prophecy mit hartnäckig wiederholten Versuchen, die eigenen Erwartungen bestätigt zu sehen und aus dem, was man getan hat, zu lernen, was man hätte tun sollen. Das ist kein abschätziger Kommentar, sondern nur ein erneuter Hinweis darauf, dass der Erziehung ein anderes Medium zugrunde liegt als der Wissenschaft und dass die festen Kopplungen, die sie anstrebt, nicht im technisch anwendbaren Wissen liegen, sondern in den Formen der Lebensläufe, an denen sie mitwirkt (29)."
Dolly ist nicht nur ein Schaf - Luhmann ist tot, und mir ist auch schon ganz schlecht - Ausblicke!?
Wie lange hätte eine solche Perspektive wohl Bestand, wenn sie denn das Handeln in pädagogischen Feldern beeinflussen könnte. Droht nicht mit den Entwicklungshorizonten der Biowissenschaften das „Junktim“ eines vielleicht irgendwann nur noch vermeintlichen „Technologiedefizits“ in der Machbarkeit des von manchen Gewollten dahinzuschmelzen? Was machte den Menschen bisher zum Menschen? Vielleicht, dass man sich nicht verstehen kann unter Menschen, „denn das eigene Innerste lässt sich dem Äußeren, der Sprache, nicht bruchlos mitteilen. Unsere Individualität, so will es die Tradition seit romantischen Zeiten, ist das, wo wir ganz bei uns sind. Einzigartig, unteilbar, originär (Niels Werber in: Literaturen, 10/01, 69 - in seiner Würdigung von Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt 2001)." Das zentrale Motiv der Romantik ist von der „nüchternen“ Systemtheorie wieder in zentraler Weise zur Geltung gebracht worden: „Noch Systemtheoretiker haben im Einklang mit Friedrich Schiller oder Johann Georg Hamann die Individualität außerhalb aller Kommunikation verortet, als ein Konstrukt des psychischen Systems, das sich aller externen Beobachtung grundsätzlich verschließt (Werber, 69)."
Von Stefan Rieger wird diese systemtheoretische Einsicht in die „Unmöglichkeit, psychische Systeme auf der Ebene ihrer aktuellen Operationen und Prozesse zu beobachten“, übernommen und zu einer eigenwilligen These erweitert. Diese These wirkt gleichermaßen retro– wie prospektiv: „Selbstverhältnisse und Icherfahrungen“ müssten gerade auf diesem Hintergrund kommuniziert und diskursiviert werden. Freilich sind es ganz andere Medien als Sprache und Buchdruck, die für Stefan Rieger die „unzugängliche Innerlichkeit“ öffnen: Medien wie Drehstühle und Tachistoskope, Mikrophone und Kameras, Stoppuhren und Intermittenzblenden.
Niels Werber resümiert diesen eigenwilligen Parforce-Ritt von Stefan Rieger durch die Geschichte der Wissenschaften vom Menschen: „Ein ständig wachsendes und immer präziseres Arsenal psychotechnischer Messgeräte und Auswertungsmethoden kommt seit Beginn des 19. Jahrhunderts in den zahllosen Laboren der Humanwissenschaften zum Einsatz. Mit ihm wird errechnet, was der Mensch als Durchschnitt ist, um von dort aus seine Individualität zu bestimmen: als ‚Störgröße‘ oder Abweichung vom Standard (Werber, 69)."
Vielleicht ist dies der Konversionspunkt, an dem der Moralist Habermas in seinen Ängsten und der Systemtheoretiker Luhmann in seiner nüchtern bis fatalistischen Grundhaltung („Menschen tun immer nur, was sie tun“) sich begegnen. Habermas sagt: „Mit den humangenetischen Eingriffen schlägt Naturbeherrschung in einen Akt der Selbstbemächtigung um, der unser gattungsethisches Selbstverständnis verändert und notwendige Bedingungen für autonome Lebensführung und ein universalistisches Verständnis von Moral berühren könnte (Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt 2001)." Niklas Luhmann würde vielleicht schlicht die Auflösung des Technologiedefizits innerhalb der „Humanwissenschaften“ konstatieren.
Gleichwohl können wir mit Slavoj Zizek der Frage nachgehen, wie wohl die (Re)Konstruktion eines Lebenslaufs unter entsprechenden Vorzeichen aussehen würde - möglicherweise, ich bin mir nahezu sicher - so, dass ich zumindest keine Lust mehr gehabt hätte, dieses Buch zusammenzuschustern: „Wie wird ein Heranwachsender auf die Information reagieren, dass seine ‚spontanen‘ - sagen wir: aggressiven oder auch friedlichen - Eigenschaften das Ergebnis absichtsvoller Eingriffe anderer in seinen genetischen Code sind? Wird das nicht den Kern seiner personalen Identität unterminieren, nämlich die Vorstellung, dass wir unsere moralische Identität durch Bildung, durch den schmerzvollen Kampf um die Formung und Ausbildung unserer natürlichen Eigenschaften entwickeln? Also macht die Aussicht auf direkte biogenetische Eingriffe unsere Vorstellung von Erziehung bedeutungslos?“ (Slavoj Zizek, Literaturen 10/01, 47)