„Die Wut des Verstehens“
Gedanken-Gedanken-Gedanken
(aus: Ich sehe was, was du nicht siehst – Komm in den totgesagten Park und schau, Koblenz 2002)
Ein Interview mit Jochen Hörisch, in: der blaue reiter Journal für Philosophie Nr. 8 (2/1998) Wer ist Jochen Hörisch, warum meine Resonanz in diesem Buch mit seinen kostbaren und kostspieligen Seiten auf dieses Interview? In „lieber Herr Fuchs, lieber Herr Schmatz... (S. 306-324) habe ich mich ausgiebig und selbstkokett mit dem Phänomen einer bewussten, gewollten(?), kalkulierten, einer all dies nolens volens einschließenden immer unvermeidbaren Verweigerung bzw. Blockierung von Fremdreferenz beschäftigt. Immerhin bringt man der modernen Lyrik gegenüber diesen Einwand der Unverständlichkeit gewohnheitsmäßig entgegen. Und zweifellos zerschellt an ihren schroffen Klippen häufig genug eine noch so ausgeprägte „Wut des Verstehens“. Aber die Hermeneutik als „die Lehre vom Verstehen“ wird ja nicht nur von der Literaturwissenschaft, sondern insbesondere ja auch von der Pädagogik (im Rahmen der Sozialwissenschaften) als wissenschaftliche Methode erster Wahl angesehen. Das Interview mit Jochen Hörisch - als „Text“ - lädt als provokative Anregung ein zur Reflexion bedeutsamer Facetten professioneller Selbstvergewisserung („Die Wut des Verstehens – Zur Kritik der Hermeneutik“ ist im Übrigen 1988 als Monographie im Suhrkamp Verlag erschienen). Im Rahmen dieses BLOGS gibt es keine „kostbaren und kostspieligen Seiten“ mehr. Ich kann meinen Gedanken Raum geben – unendlichen Raum. Wie schön!
Bei Jochen Hörisch gibt es zu Beginn des Interviews folgende Selbstbeschreibung seines wissenschaftlichen Werdeganges:
„... Ich bekam ein Stipendium und ging nach Paris. Ich saß bei Jaques Lacan, in dem berühmten, ja berüchtigten Seminar ‚Encore’, bei Michel Foucault und bei Tzvetan Todorov. Auf einmal habe ich gemerkt, dass da ein ganz anderer Denkduktus möglich ist. Besonders radikal war es bei Lacan. Ich habe mich gefragt: Wie kann jemand so militant daran desinteressiert sein, sich verständlich zu machen? Und ich merkte, dass davon eine ganz starke Überzeugungskraft ausging. Ich las Arno Schmidt, Stéphane Mallarmé, las James Joyce und Paul Celan. Und ich dachte: Es ist doch blödsinnig zu sagen, dass die verstanden werden wollen. Mit denen zu ‚kommunizieren’ schien mir völlig unmöglich. Und daraus ergab sich meine nächste Einsicht: dass auch ‚Kommunikation’ ein zweifelhafter Begriff ist. Damals waren alle für Kommunikation: der frühe Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel sowieso, der ‚modernisierte’ Heidegger... Kommunikation war ein Wort mit einer ungeheuren Signalwirkung. Wer die Götter Kommunikation und Konsens nicht anbetete, flog raus mit dem Argument: das ist doch ein pragmatischer Widerspruch – man kann nicht nicht kommunizieren, und wer kommuniziert, setzt auf Konsens. Dieses Argument hat große Suggestivität. Aber da gibt es auch die kleinen Evidenzen (Einsichten), aus den Seminarbesprechungen, aus den Kneipengesprächen, dass Kommunikation anders verläuft und Konsens nicht das Ziel von Kommunikation sein kann. Luhmann hat das später am besten auf den Punkt gebracht. Kommunikation würde in dem Augenblick zusammenbrechen, in dem sich alle einig sind. Kurz: Dissens macht es (Hörisch, 61).“ Also ist Hörisch aus der Hermeneutik ausgestiegen und „Dekonstruktivist“ geworden.
Mich interessiert brennend, wie man Lehre und Lehren auf dieser Grundlage als sinnvolles Unterfangen betreiben kann? Was passiert eigentlich, wenn man in eine „dekonstruktivistische Haltung“ hinüberrutscht, sich nicht als machtvoller und machtbewusster Hermeneutiker dekonstruktivistischen Theorie- und Gedankenguts in Szene setzt, sondern Hörisch ernst nimmt; beispielsweise bei der Bearbeitung von Goethes Wahlverwandtschaften? „Verstehenshorizonte, verlässliche Erwartungen an die eigene Lebensführung oder die Partnerschaft werden gerade in Goethes Wahlverwandtschaften in einer Art und Weise aufgesprengt, die nicht nur intellektuell bedrohlich sind. Das greift körperlich an. Das geht an die Grenze des Verstehens und darüber hinaus (Hörisch, 62).“ Mein Gott, wie tut es gut, die Auslegungspäpste aufs Menschlich-Allzumenschliche zurückgestutzt zu sehen und durch das Hauptportal die eigenen Vorverständnisse und Vorurteile - Obsessionen und Abgründe mit eingeschlossen - rehabilitiert zu sehen; und (!) sich immunisieren zu lassen gegen jegliche interpretations- und verstehenshoheitliche Arroganz und Attitüde: Nein – so Hörisch –, es gehe noch viel schrecklicher zu: „Das Denkschema, das wir im Kopf haben, will aus den vielen Texten ein paar wenige machen. In der Goethezeit zum Beispiel haben wir ganz verschiedene Optionen – aber es muss auf den ‚Geist der Goethezeit’ hinauslaufen. In Emil Staigers ‚Kunst der Interpretation’ kann man sogar lesen, dass die Größten im Grunde alle dasselbe sagen. Wahrscheinlich wäre ihm dieser Satz heute peinlich... (Hörisch, 62).“
Betonen wir hingegen den Dissens, gibt es Brücken zu einem Verstehensbegriff, wie er von Niklas Luhmann zuletzt vertreten worden ist: „Verstehen“ bietet sich hier an als die ständige prozessuale Differenzbildung zwischen Information und Mitteilung. Die jeweilige Entzifferung dieser Differenz ist und bleibt immer eine Leistung des um Verstehen Bemühten. Kommunikation bricht zusammen oder erschöpft sich, wenn Differenzlosigkeit eintritt: Jemand schweigt und sagt damit: „Ich verstehe, ich folge dir“, ohne dass wir auch nur die Chance hätten, jemals zu erfahren, ob dieser jemand die Differenz zwischen dem Gehörten, dem Gelesenen und dem, was unseren Mitteilungsabsichten ent-spricht „angemessen“ entziffert hat (einmal ganz abgesehen davon, dass sein Schweigen vieles mehr bedeuten kann: „Ich verstehe nicht die Bohne – leck mich am Arsch!) Manchmal bekommen wir freilich mit, dass jemand zum Schweigen gezwungen wird, weil er Differenzen zwischen Information und Mitteilung nicht „angemessen“, nicht korrekt (re)konstruiert hat: Sigrid Löffler verlässt das Literarische Quartett, weil sie Haruki Murakami und Sharuya Shalev nicht „richtig verstanden“ hat. Viele Schüler müssen am Ende eines Schuljahres ihre angestammte „Driftzone“, ihren Klassenverband verlassen, weil sie den „Informationsgehalt“ der angebotenen Symbolwelt nicht angemessen (re)konstruiert haben (siehe in diesem BLOG die Ausführungen zur Vorlesung: Ich sehe was, was du nicht siehst).
Jochen Hörisch meint, die Grundbegriffe der Hermeneutik seien solche, die auf Einheitsfantasien hinausliefen und die „eine Wut des Verstehens“ (und ich füge hinzu, auch eine Wut gegenüber denjenigen, die des „Verstehens“ nicht fähig oder nicht willens sind), zur Folge hätten (nicht wahr Herr Reich-Ranicki!?): „Man lässt sich nicht mehr auf Texte ein, um ihre Kraft zu erfahren. Stattdessen versteht man, um ‚Herr’ eines anderen Textes zu werden (Hörisch, 61).“
Und auch hier lässt sich hinzufügen: Vielleicht nicht nur Herr eines anderen Textes! Hörisch zitiert im Übrigen den frühen Schleiermacher als einen der Gründerväter der Hermeneutik mit einem „einfachen anti-hermeneutischen Argument“: „Wer Gott verstehen will, hat ihn nicht verstanden. Wer Gott quasi hermeneutisch auf die Schulter klopft und sagt: ‚Wir verstehen uns’, der hat theologisch gesprochen das mystische tremendum fascinosum verfehlt... Bei Nietzsche kehrt das in der bösen These wieder: Verstehenwollen ist eine Form des Willens zur Macht (Hörisch, 61).“
Was lehrt denn Jochen Hörisch, seit 1988 als Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse, wenn für ihn klarsteht: „Man muss an die Textstruktur herankommen. An die Textscharniere. Und letztlich hat man keine Methode, die man bei Ferdinand de Saussure, Sigmund Freud, Tzvetan Todorov oder irgendeinem Hermeneuten lernen kann. Man kriecht in die Texte hinein, bis man ins Offene kommt. Dann bürgt kein Konglomerat von Verfahrensschritten mehr für die Stimmigkeit (Hörisch, 61).“
Aus der „Wut des Verstehens“ folgt aber in der Regel weit mehr: Wer verstanden hat, ist im Besitz von Wahrheit und Moral. Hörisch vertritt die These, dass es das Schema vom „Wahren, Guten, Schönen“ sei, das uns auf Einheitlichkeit verpflichte und fügt hinzu: „Dabei denke ich, es spricht vieles dafür, dass etwa der moralische Standard von Dichtern und Denkern beklagenswert gering ist, noch unterhalb der Normalpopulation (Hörisch, 62).“
Taucht denn hinter den „Widersprüchen“ ad personam – dem, was Menschen sagen, schreiben, fordern und dem, was sie tun, denn Menschen tun ja doch nur immer, was sie tun – ein „Strukturproblem“ auf? Hörisch meint ja: Zunächst ist er der Auffassung, dass es zwischen der „Stimmigkeit eines Werkes und der einer Person keine Ableitungszusammenhänge“ gebe. Er nennt sogar Namen: Heidegger, Rimbaud; aber auch – antithetisch – Lichtgestalten wie Theodor Storm, Heinrich Böll, Siegfried Lenz; aber Vorsicht, auch diese „Lichtgestalten“ sind ja nur Menschen (viele haben kopfschüttelnd die „Weibsbilder“ von Heinrich Mann zur Kenntnis genommen, ganz zu Schweigen von den Tagebuchenthüllungen seines Bruders). Viel grundlegender stört ihn allerdings „der Wille zur Übereinstimmung in unseren Köpfen“. Genau wie Niklas Luhmann ist er an Paradoxien interessiert. Sein Lieblingsbeispiel aus Goethes Faust: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Diese Paradoxie verlange darüber hinaus sofort nach ihrer Umkehrung, dass man das Gute will und das Böse schafft. Hörisch nimmt Bezug auf die große Diskussion zwischen Gadamer und Derrida, über den guten Willen zur Verständigung, zur Kommunikation und fragt: „Wie wäre es, wenn diese Gutwilligkeit häufig böse Konsequenzen hätte (Hörisch, 62)?“
Die entscheidende Konsequenz für Hörisch liegt darin, dass man mit hermeneutischen Mitteln an solch paradoxe Zusammenhänge nicht herankomme: „Man kann nicht fragen, was bedeutet das? Was ist der Sinn davon? Der Dekonstruktivist fragt anders. Er fragt: Wie funktioniert dieser Text? Wenn man Sinnfragen durch Funktionsfragen, Strukturfragen ersetzt, kommt man weiter. Dann hat man die aufregenderen Einsichten (Hörisch, 62).“ Dies bringt Hörisch dazu ein „Projekt der ‚unreinen Vernunft’“ zu fordern: „Da man schaut, welche schmutzige Vorgeschichte hat die vermeintlich reine Wissenschaft (Hörisch, 63).“
Ich fühle mich zutiefst bestätigt in meiner Art „Texte zu lesen und gegen den Strich zu bürsten“, wenn Hörisch die These aufstellt, dass die dekonstruktivistische Haltung in der Analyse (literarischer) Texte einen Zugang zu Problemstellungen eröffne, die uns kein Soziologe, kein Psychologe, kein Historiker und im Übrigen auch kein Philosoph in entsprechender Weise und Schärfe liefern könne. Je besser Texte seien, desto dunkler seien sie. „Das ist eine Art Gesetz (Hörisch, 63).“ Und literarische Texte sollen nach der Auffassung von Hörisch provozieren, neue Deutungen provozieren. Er nimmt einmal mehr Bezug auf Niklas Luhmann: „Wenn sie sich dabei an Luhmann halten, gibt es diesen Merkvers: Ohne Probleme keine Systeme. Hätten wir das Problem Knappheit nicht, hätten wir das System der Ökonomie nicht. Hätten wir das Problem der schwierigen Unterscheidbarkeit von Wahr und Falsch nicht, hätten wir die Wissenschaft nicht (Hörisch, 63).“ Hörisch fragt danach, was also das X sei, auf welches das Literatursystem spezialisiert ist. Mehrdeutigkeiten, mit Paradoxien, die kein analytischer Philosoph je wird austreiben können. Allzu strahlende Evidenz lässt uns erblinden (Hö-risch, 63).“ Hörisch setzt dagegen die Lust am Text: „Die fremden Buchstaben schauen mich so verführerisch an, dass sie sagen: folg mir in die Fremde. Nicht: folg mir in die Heimat (Hörisch, 64).“ Naiv könnte man sagen, nach der Methode von Hörisch sind wir Astronauten, die in den unendlichen Textwüsten fremde Galaxien erforschen. Hörisch wählt ein anderes Bild. Er lehnt sich an den Foucaultschen Sinn von Archäologie an. Es sind „Grundprobleme, anthropologische Konstanten“, die er in ihren kulturell und historisch hochvarianten Ausformungen aufspüren will: „Man muss ja kein Kulturrelativist sein, um zu sehen, dass Kulturen solche Probleme ganz unterschiedlich schalten. Ich sehe aber auch keine Kultur, die nicht das Problem hätte, dass wir alle mal sterben müssen. Dass wir Tausch organisieren müssen. Dass wir von A nach B kommen müssen. Jede Kultur errichtet eine Liebesordnung. Jede Kultur muss das Problem regeln, wer was sagen darf... (Hörisch, 66).“ Und vor allem: Auch der gemeine Mensch kann zum Archäologen werden. Auch der Alltag lässt sich dekonstruieren: „Denken sie an frisch Verliebte. Die haben das große Problem, wie sie mit so viel Harmonie zurechtkommen. Was macht man, wenn man sich völlig einig ist (Hörisch, 66)?“
Der Phänotyp der Postmoderne kann nur als „Dekonstruktivist“ durch die Welt kommen: „In gewisser Weise müssen sie sich entscheiden, ob sie als Hermeneuten durch die Welt gehen oder als Dekonstruktivisten. Ob sie den Dissens als ein Problem verstehen, das durch Verstehen gelöst werden muss – oder ob sie von der albernen Vorstellung wegkommen, dass Dissens bedrohlich ist (Hörisch, 66).“ Für die hermeneutischen Sinnsucher ist die Welt zum unwirtlichen Ort geworden: „Wer verstehen will, will eine heile Welt und ein reines Gewissen. Wer versteht, der will auch Gut und Böse scheiden. Der will bestimmen, was er versteht. Aber nicht zeigen, dass es so ist, wie es ist... (Hörisch, 66).“