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Das lyrische Ich als Instanz der Selbst- und Weltbeobachtung – neue und alte Gedichte neu gerahmt (Einleitung zu meinem geplanten Gedichtband: Kurz vor Schluss III) - ach Quatsch: Ich stelle die Mosaiksteine dazu schon einmal nach und nach online(:-)

Einleitung

Wie viel Selbstbeobachtung ist sinnvoll, (v)erträglich – zielführend? Zielführend? Welches Ziel sollte man mit Selbstbeobachtung verfolgen, möglicherweise mit einer kritischen Selbstbeobachtung? In welchen Verhältnis stehen Welt- und Selbstbeobachtung zueinander? Leben ist immer jetzt, sagen die einen: Schau nicht zurück, lebe Dein Leben nach vorn – in vollen Zügen! Es gibt keine Zukunft ohne Vergangenheit sagen die anderen – oder wie Odo Marquard bemerkte: Zukunft braucht Herkunft! Vergangenheitsbewältigung war eines der geflügelten Worte in der jungen Bundesrepublik – von den einen vehement gefordert, von den anderen als unnützer Ballast in Zeiten des Wirtschaftswunders empfunden. Wie immer, wenn ich das Wort ergreife, umgehe ich nicht die Fallstricke, die uns alle umgeben, die sich verführerisch drapieren, wenn Vergangenheit, Gegenwart  und Zukunft ineinandergreifen. Das ist selbstverständlich in besonderem Maß der Fall, wenn die Vergangenheit schon bei weitem überwiegt – 72 Jahre angehäuft hat – und Zukunft wohl mehr als überschaubar erscheint. Am Ende braucht man eine Geschichte, dass das Leben nicht vergeudet war, meint Eva von Redecker. Einen Freund aus alten Zeiten -  wie mancheine(n) versetzt diese Idee mächtig in Harnisch.

Nun also noch einmal Gedichte! Man kann sehen, dass sie in erster Linie der Selbstvergewisserung dienen – Selbstvergewisserung? Ja, dem Bedürfnis folgend, irgendwie doch noch einmal Geschichten zu erzählen, die einem die Idee, meinetwegen die Illusion erlauben, dass das Leben nicht vergeudet war. Um sowohl Fallstricke als auch die Tatsache blinder Flecken zu gewärtigen, geht es auch dieses Mal nicht ohne ein wenig Theorie:

In der Regel hilft mir bei aller Unübersichtlichkeit eine Unterscheidung, die aus systemtheoretischen Überlegungen resultiert: Im Anschluss an Niklas Luhmanns Unterscheidung von System und Umwelt verabschiede ich mich schon lange von der Vorstellung eines in sich schlüssigen, kohärenten, sich seiner selbst sicheren und ganz und gar sich selbst auch durchsichtigen Individuums. Ich halte die Vorstellung individuell begründeter Ganzheitlichkeit für eine Illusion und folge – zumindest mit Blick auf die Schwierigkeiten einen schlüssigen und operativ tauglichen Kommunikationsbegriff zu skizzieren – der Idee, wenigstens drei füreinander in sich geschlossene und insofern intransparente Systemebenen zu unterscheiden; gewissermaßen im Sinne der System-Umwelt-Unterscheidung als füreinander nicht zugängliche Umwelten: Ich folge der Unterscheidung von gelebtem Leben (Bios), von erlebtem Leben (Psyche) und von erzähltem Leben (soziale Ebene). Gerade die letzte Ebene ist uns außerordentlich vertraut, meint sie doch nichts anderes als sozialen Austausch in Form von Kommunikation, also das, was Gesellschaft in Gang hält und uns alle miteinander in Beziehung. Zieht man allerdings eine radikale Konsequenz aus der Abgrenzung dieser drei Systemebenen voneinander, kann man an altvertrauten Unterscheidungen eben nicht mehr festhalten. Peter Fuchs, ein Schüler Niklas Luhmanns, hat dies einmal im Rahmen einer Vorlesung auf anschauliche Weise folgendermaßen verdeutlicht:

„Der eigentliche Unterschied besteht in einer Kränkung, die ähnlich wie die Freudsche oder die Kantsche Kränkung oder die Kopernikanische Kränkung den Menschen zutiefst verletzt hat. Und dies war einer der Hauptgründe, warum Luhmanns Werk so sehr umstritten und bekämpft gewesen ist. Die Grundidee ist, dass dieses umfassende System der Gesellschaft bewusstseinsfrei operiert. Das heißt innerhalb der Gesellschaft – ganz im Gegensatz zu der Tradition, die wir kennen, behauptet Luhmann gebe es keine Menschen, keine Subjekte, keine Individuen; all dies seien Phänomene, Einheiten, die jenseits der Gesellschaft stünden, in deren Umwelt. Also, der entscheidende Gesichtspunkt in dieser Art von Gesellschaftstheorie ist die Bewusstseinsfreiheit von Gesellschaft.

Und sie können sich das relativ leicht vorstellen, wenn ich einen Moment schweige..., so werden sie bemerkt haben, dass keine Leuchtschriften über ihre Stirnen liefen, das niemandes Gedanken sozusagen durch die Luft schwirrten, es herrschte einfach nur eine relative Stille. Es wäre auch absurd anzunehmen, dass dieses System, das wir jetzt im Augenblick bilden, wächst, wenn ihre Fußnägel wachsen, ihre Leber arbeitet; dass das sozusagen das System beeinflusst, das als ein soziales aufgefasst werden kann. Und genau dies waren die Gründe, die Luhmann dazu führten, den Menschen exzentrisch zu Gesellschaft in ihrer Umwelt zu positionieren.“

Auch wenn wir gelernt haben uns als Individuen zu verstehen – also als ungeteilte Ganzheiten – wird uns relativ schnell klar, dass wir selbst Mühe haben, diese Vorstellung von individueller Ganzheit alleine für uns selbst schon durchzuhalten – geschweige sie denn für andere glaubhaft oder auch nur nachvollziehbar zu vermitteln? Die viel entscheidendere Frage geht vermutlich auch in eine andere Richtung: Wer könnte denn daran interessiert sein, dass wir wechselseitig etwas anderes wären als füreinander intransparente Wesen? Vermutlich ist diese Intransparenz ja nicht nur ein Schutz, der Intimitätsgrenzen und-bedürfnisse gewährleistet, sondern gleichzeitig eine Ausgangsbedingung menschlicher Identitätsgrenzen und –vorbehalte, die es uns gewissermaßen auch verunmöglicht uns selbst immer und in jeder Lebenslage transparent und selbstverständlich vorzukommen.

Alle drei genannten Phänomenbereiche (gelebtes, erlebtes und erzähltes Leben) wirken als Umwelten füreinander. Die Elemente dieser Systeme treten nicht in das jeweils andere System ein, sondern operieren nur jeweils im eigenen, operational geschlossenen Bereich. In allen drei Bereichen findet eine charakteristische Form der Selbstorganisation statt, die als Autopoiese bezeichnet wird: Gelebtes Leben (Bios), operiert im Modus bio-chemischer Prozesse, die autologisch unseren Organismus in Gang halten und organisieren. Erst wenn hier etwas aus dem Lot gerät, suchen wir ärztlichen Rat, greifen unter Umständen mit Medikamenten in diese Prozesse ein. Erlebtes Leben (Psyche) operiert (intransparent und undurchschaubar für andere) in Gedanken, die an Gedanken anschließen. Auch hier neigen wir allenfalls dann dazu psychiatrische oder therapeutische Hilfe zu suchen, wenn die Eigenmächtigkeit dieser Prozesse aus dem Ruder läuft, wenn wir das Gefühl haben, möglicherweise nicht mehr Herr/Frau unserer selbst zu sein. Schließlich bleibt die soziale Ebene (Gesellschaft), das was hier erzähltes Leben genannt wird. Sie operiert ausschließlich über Kommunikation - Kommunikation, die an Kommunikation anschließt und sonst nichts.

Am Beispiel des Phänomens der doppelten Kontingenz lassen sich die operationale Geschlossenheit und die wechselseitige Undurchsichtigkeit der Systeme anschaulich illustrieren:Ich greife auf ein Comic zurück, das zumindest uns älteren vertraut sein dürfte (im Einzelnen - inclusive Folien - unter diesem Link nachzuvollziehen).

Kontingent nennt Niklas Luhmann etwas, was zufällig so ist, aber auch anders sein kann. Von den unendlich vielen Möglichkeiten in der komplexen Welt wird also eine Handlung, ein Ereignis gewählt; es könnte genauso gut etwas anderes gewählt worden sein... Dies führt dann etwa zu Situationen, wie sie der nebenstehende Comic thematisiert: Lucie kann den Ball halten, so dass Charlie Brown ihn treffen kann. Sie kann ihn aber auch fallen lassen, so dass er auf die Nase fällt... Charlie weiß nicht, was sie machen wird, hat aber seine Vermutungen. Darauf will er sich in seinem Handeln einstellen. Beide – Lucie und Charlie – haben eine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten, und das wissen beide von sich und ihrem Gegenüber. Wenn nun einer dem anderen eine bestimmte Handlungsweise unterstellt und sich selbst danach einrichtet, das Gegenüber aber eine andere Möglichkeit wählt, dann geht die Kommunikation schief. Lucie kann also wissen, dass Charlie Brown weiß, dass Lucie weiß, das Charlie Brown nicht wissen kann, was Lucie tatsächlich vorhat. Umgekehrt kann Charlie Brown wissen, dass Lucie weiß, dass Charlie Brown nicht wissen kann, was Lucie machen wird.

Diese etwas vertrackten Situationen kennen wir alle. Sie bedeuten Unsicherheit, lösen Ängste aus. Wir alle wollen wissen, welche Lösungen sich hier anbieten, zumal doch die meisten Menschen ein Grundbedürfnis nach Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit in der Kommunikation verspüren. Die Antworten sind - je nach theoretischer Ausgangsposition - unterschiedliche. In der Diskurstheorie von Jürgen Habermas steht das Problem der Verständigung durch „wechselseitige Perspektivenübernahme“ im Mittelpunkt. Niklas Luhmann spricht eher von der „erfolgreichen Kalkulation fremder Verhaltenswahrscheinlichkeiten“ und definiert damit eine funktionale Sichtweise. Soll Kommunikation wahrscheinlich und „erfolgreich“ in Sinne einer gewissen Stabilität sein, dann könnte eine „Qualität“ von Kommunikation darin bestehen, dass das fremde Handeln sich am eigenen Handeln orientiert: „Ich tue, was du willst, wenn du tust, was ich will.“ Dieser Zirkel bildet eine Einheit, die letztlich auf keines der beteiligten Systeme zurückgeführt werden kann.

Was geschieht nun in dieser von Niklas Luhmann als instabil gekennzeichneten Situation? Jeder der Beteiligten sagt zunächst einmal: „Ich lasse mich nicht von dir bestimmen, wenn du dich nicht von mir bestimmen lässt.“ Nach Luhmann handelt es sich um eine extrem instabile Kernstruktur, die sofort zerfalle, wenn nichts weiter geschehe. Anderseits – argumentiert Luhmann – genüge diese Ausgangslage, um eine Situation zu definieren, die die Möglichkeit in sich berge, ein soziales System zu bilden.

Mag all dies auch recht querstehen zu unseren gewohnten Auffassungen und Vorstellungen, findet man sich als jemand der Gedichte schreibt, um noch einmal auf die These von der Bewusstseinsfreiheit der Gesellschaft zu kommen, hier exakt positioniert:

exzentrisch zur Gesellschaft.

Um dies noch ein wenig deutlicher erscheinen zu lassen, greife ich auf Henning Mankells Die fünfte Frau (Wien 1998) zurück: Im ersten Kapitel begegnet uns Holger Eriksson, bevor Mankell uns in seine Abgründe schauen und verstehen lässt, warum er auf so abgründig-brutale Weise vom Leben zum Tod befördert wird. Bis dahin erscheint uns ein skurriler Zeitgenosse, in dem ich mich teils durchaus wiederfinde (gespiegelt finde). Denn Holger Eriksson ergeht sich in Selbstzweifel, nachdem er sein letztes Gedicht geschrieben hat (in der Folge die Wiedergabe in Mankellschem O-Ton, Seite 21f. - Hervorhebungen FJWR):

Ein alter Mann wie ich sollte keine Gedichte mehr schreiben, dachte er. Die Gedanken eines Achtundsiebzigjährigen haben kaum noch Wert für andere, nur noch für ihn selbst. Gleichzeitig wusste er, dass dies falsch war. Nur in der westlichen Welt blickte man herablassend oder verächtlich mitleidig auf alte Menschen herab. In anderen Kulturen wurde das Alter als die Lebensphase der abgeklärten Weisheit respektiert. Und Gedichte würde er schreiben, solange er lebte. Solange er einen Bleistift halten konnte und sein Kopf so klar war wie jetzt. Etwas anderes konnte er nicht, jetzt nicht mehr. Früher war er einmal ein tüchtiger Autoverkäufer gewesen, viel tüchtiger als andere Autoverkäufer. Er stand zu Recht im Ruf, bei Verhandlungen und Geschäften ein harter Knochen zu sein. Und ob er Autos verkauft hatte! In den guten Jahren hatte er Filialen in Tomelilla und Sjöbo gehabt. Er hatte ein Vermögen geschaffen, das ihm erlaubte, sich das Leben zu leisten, das er führte. Dennoch waren es die Gedichte, die ihm etwas bedeuteten. Alles andere war flüchtige Notwendigkeit. Die Verse dort auf dem Tisch gaben ihm eine Zufriedenheit, wie er sie sonst kaum empfand.“

Henning Mankell beherrscht die Dramaturgie, in der das Beliebigkeitszufällige ins Schicksalszufällige hinübergleitet (diese Unterscheidung verdanke ich Odo Marquard). Folgende Gedanken erfüllen Holger Eriksson – wenige Minuten vor der ihm drohenden finalen Schicksalsfügung, weil es ihm beliebt noch einen nächtlichen Spaziergang zu machen: „Der Herbst des Alters, dachte er. Ein passender Titel. Alles, was ich schreibe, kann das letzte sein. Und es ist September. Es ist Herbst. Im Kalender wie in meinem Leben.“ Man ahnt schon, dass Unheil droht, wenn Henning Mankell Holger Eriksson wenige Minuten vor seinem Ende noch einmal träumen lässt: „Noch einmal betrachtete er das Gedicht, das fertig auf dem Tisch lag. Das Klagelied über den Mittelsprecht. Es war schließlich so geworden, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht würde er lange genug leben, um genügend Gedichte für eine zehnte und letzte Sammlung zusammenzubekommen?“

Lyrische Absonderungen haben häufig eher die Aura kryptisch daherzukommen; nicht immer und grundsätzlich, aber eben doch häufig genug, dass andere irritiert bis verärgert reagieren. In diesem jetzt vorliegenden kleinen Gedichtband setze ich die eigensinnige Tradition fort, Gedichte in einen Kontext einzubetten. Vollkommen unmöglich und abstrus werden mir viele – an reiner Lehre und Purismus orientiert – entgegenhalten, für die ein Gedicht schon kein Gedicht mehr ist, wenn Kontext bemüht wird. Ich sehe das anders: Im bescheidenen Licht, das mein Geist in diese Welt wirft, hilft es mir – je älter ich werde, desto mehr – mich des Kontextes, des Zeitgeistes und der teils unerträglichen Weltläufte der kleinen wie der großen Geschichte(n) zu entsinnen. Und wer würde bestreiten, dass junge Menschen, die in diese chaotische Welt hineinwachsen, große Lyrik – im wahrsten Sinne des Wortes – nur begreifen können, wenn sie kontextfähig und –sensibel werden? Wer mag beispielsweise Paul Celans Todesfuge denn heute noch begreifen, ohne je Aufklärung erfahren zu haben darüber, was denn gemeint ist mit den sieben weltbildenden Worten, dass der Tod ist ein Meister aus Deutschland?

Auch in lyrischen Absonderungen offenbaren sich ja (Selbts-)Beobachtungen, die jemand als Unterscheidungen in diese Welt trägt: Triff eine Unterscheidung! In diesem Sinne bricht sich auch im vorliegenden Bändchen einmal mehr Selbstentblößung und Selbstverhüllung gleichermaßen Bahn. Wie das eine vom anderen zu unterscheiden ist, bleibt mir zuweilen selbst ein Rätsel.

Rätselhaft bleibt man sich vielleicht am wenigsten als Vater oder Großvater; umso rätselhafter möglicherweise als Partner. Es gibt - aber nur aufgrund niemals valider Fremdbeobachtung - Ausnahmen; im Freundes- und Bekanntenkreis. Da gibt es in der Tat exotische Exemplare, die schwanengleich - von Raben sagt man Ähnliches - ein Leben lang in partnerschaftlicher Symbiose leben. Das wäre mir ja beinahe auch gelungen. Immerhin sind wir seit mehr als zweiundvierzig (42) Jahren verheiratet. Aber auf holprigem Terrain. Die nachfolgenden Reflexionen - auch in Form lyrischer Absonderungen - singen davon ein beredtes Lied. Allein schon das holprige Terrain versöhnt mich mit Detlef Klöckners Aussicht auf ein fürsorgliches Finale. Ich werde den unendlichen Fundes meiner seismografischen Aufzeichnungen nutzen und alles verlinken, was mir selbst zu einem annähernden Verständnis des Unwahrscheinlichen verhilft - in Demut und Dankbarkeit:

 

Paare - Passanten: Vom Driften in der Paarwelt

Details

Veröffentlicht: 13. Juni 2020

Botho Strauß oder der Mut zur Zumutung - Paare, Passanten

Ich hatte einmal einen guten Freund. Er hat mir den Unterschied zwischen Mut und Tapferkeit nahegebracht. Danach enthält der Mut immer auch ein gewichtiges Körnchen der Ignoranz gegenüber den unausweichlichen Gefahren in Grenzsituationen, während die Tapferkeit sehenden Auges den Gefahren und Gefährdungen trotzt. Botho Strauß' Paare, Passanten liegt mir in der Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahre 2004 vor. Dieser Lizenzausgabe wiederum liegt die Textfassung der 1981 im Carl Hanser Verlag erschienen Ausgabe zugrunde. Strauß war da etwa 37 Jahre alt - er lebt immer noch, hochdekoriert, eigensinnig und oft mißverstanden - oder zumindest als häufig Mißverstandener geltend. Mit knapp 37 war Strauß schon fertig - fertig mit der Welt der Paare und der Welt der Passanten. Was er seinerzeit - 1981 - publiziert hat, davon hatte ich auch schon eine Ahnung; und nicht nur eine Ahnung, sondern dem entsprach eines meiner frühen paardynamischen Traumata.

Was ist denn ein paardynamisches Trauma? In meiner Definition und Erinnerung enthält ein paardynamisches Trauma im Kern eine dilemmaartige Tragik, die sich nicht ohne weiteres wenden lässt in den leichteren Stoff einer Kommödie oder auch nur in die abgeschattete Leichtigkeit einer erinnerungsträchtigen Impression. Man kann vielleicht sagen, dass ein paardynamisches Trauma vom Ergebnis her einer Bootsfahrt auf einem reißenden Strom ähnelt, mit untauglichem Gerät und ohne rettende Engel. Sich in diesem Strom zu behaupten, heißt Handeln ohne Netz und doppelten Boden, Handeln ohne Grund schaffende Reflexion, Handeln - intuitiv und mit dem Rücken zur Wand. Überlebt man diese Fahrt und gerät zusehends in ruhigeres Fahrwasser, dann hat man im besten Fall die Chance, sich tapfer zu stellen; tapfer  und offenen Auges zu betrachten, was man angerichtet hat, welchen Strudeln und Untiefen man ausgesetzt war. Manchmal braucht's Jahre oder Jahrzehnte, um in ruhigeres Fahrwasser zu geraten. Dann stellt sich wiederum im besten Fall die Gelegenheit, diese Betrachtung in wechselseitiger Achtung und gegenseitigem Respekt vorzunehmen. Im folgenden drei Varianten aus Botho Strauß' Beobachtungen:

1. "Ich sah aus dem Auto in einer Passantenschar, die die Kreuzung überquerte, die geliebte N., mit der ich - einst! seinerzeit! damals! - gut drei Jahre lang die gemeinsamen Wege ging, sah sie über die Fahrbahn schreiten und auf irgendeine Kneipe zuhalten. Ihr Kopf, ihr braunes gescheiteltes Kraushaar. Und das ist diesselbe, die ich im Tal von Pefkos auf Rhodos, als wir von verschiedenen Enden des Weges über die Felshügel einander entgegengingen, so bang erwartet habe, in Sorge es könne sie jemand vom Wegrand her angefallen und belästigt haben, da sie nicht und nicht erschien am Horizont. Das ist dieselbe Geliebte. Im halben Profil flüchtig erblickt, indem sie dahinging und ich vorbeifuhr. Mir ein unfaßliches Gesetz, das so Vertraute wieder in Fremde verwandelt. Verfluchte Passanten-Welt!" (58)

2. "Mit dem Schlag einer ungewissen Stunde blicken in ihrem Heim, nach vielen Jahren der Ermüdung, der Benommenheit und der Trennungsversuche, zwei Menschen sich mit sperrangelweiten Augen an. Ein Erkennen zieht sie zueinander, ein Verlangen, als könnte zuletzt nur noch die Aufwiegelung aller sexuellen Kräfte, wie eine Revolution, sie von der Last der gemeinsamen Geschichte befreien uns diese beenden. Ein Schlussbegehren läuft aus allen Gassen ein, die sie mit gleichen Schritten je hinuntergingen. Ein Begehren, das sie selbst erfahren als das reine Aufbegehren. Sie umarmen sich mit Armen der Gewalt, in der ihr Vertrautsein, ihre Erinnerung, ihre ausweglos lange Begleitung - in der die ganze Materie der Gewohnheit sich verdichtet und wie ein verlöschender Stern ins Schwarze der Nacktheit stürzt." (8)

3. "Trotz und in mitten der entschiedenen Verstimmung, die nach einem Streit zwischen ihnen eingetreten ist und wodurch sie zwei Tage ihrer Reise unter dem Druck einer äußersten Wortkargheit verbrachten, erhebt die Frau, die eben noch appetitlos ihre Filetspitzen piekte, auf einmal den Kopf und summt laut und verliebt einen alten Schlager mit, der aus dem Barlautsprecher ertönt. Der Mann sieht sie an, als sei sie von allen guten Geistern, nun auch der Logik des Gemüts verlassen worden. Jede Liebe bildet in ihrem Rücken Utopie. In grauer Vorzeit, vom Glück und von Liedern verwöhnt, liegt auch der Ursprung dieser kärglichen Partnerschaft. Und der Beginn erhält sich als tiefgefrorener, erstarrter Augenblick im Herzen der Frau. Es ist immer noch illud tempus in ihr, wo im Laufe der Jahre alles schrecklich verfiel und sich verändert hat. Erste Zeit, tief gekühlt, eingefroren, nicht sehr nahrhafte Wegzehrung." (9)

Die erste Geschichte ist vielen vertraut, die nicht in der ersten Liebe die letzte gefunden haben, sondern die suchend erst ihrer anderen Hälfte gewärtig wurden, nicht frei von Zweifeln. Damit nicht gemeint sind freilich auch die, die im dauerhaften Sog des Eros an der von Botho Strauß beschriebenen Kreuzung nicht unterscheidungsfähig gewesen wären. Aber auch bei Strauß gewinnt die geschilderte Impression nicht die Mächtigkeit eines erinnerten Wendepunktes, an dem etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen und der in diesem Sinne spurenmächtig wird - und vor allem bleibt. Die Bangigkeit, von der Botho Strauß spricht, bedeutet hier gerade so viel, dass man sich ihrer erinnert - immerhin. Und die Erinnerung hat sogar noch ein Gesicht - und braunes gescheiteltes Kraushaar. Warum bei alledem - bei dieser ausgeprägten Nonchalance - dann aber zum Schluss dieser Ausbruch? "Verfluchte Passanten-Welt!" Vielleicht weil doch noch etwas nachwirkt, worüber Strauß kein Wort, keine Silbe verliert. Nichts spricht dafür, dass Botho Strauß uns hier ein Trennungsdrama offerieren will. Gleichwohl - jeder ist ja, wie Marcel Proust meint, der Leser seiner selbst - taugt dieser unvermutete Ausbruch bei dem/der ein oder anderen zu einem Erinnerungs-Flash, in dem sich noch einmal all die unerträglichen, bitteren, dramatischen Ereignisse/Umstände einer Trennung verdichten, die man aus purem Überlebenswillen zuerst verdrängt bzw. leugnet, sodann rationalisiert, um im besten Fall doch noch irgendwann seinen Anteil einräumen zu können an einem unseligen Trennungsgeschehen.

Auch Erich Kästner hat für das, was sich nach einer naheliegenden, vielleicht unausweichlichen Trennung unter ungünstigsten Umständen ereignet, keine Worte gefunden; er bescheidet sich mit scheidungsträchtigen Aussichten, zum Beispiel in der Sachlichen Romanze - pure Larmoryanz:

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.-
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café an Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

In der paartherapeutischen Literatur finden sich immer wieder Hinweise, wie man Trennungen erfolgreich und erträglich vollzieht. Gelingt dies nicht, beginnt im besten Fall die paartherapeutische - oder häufiger die individualtherapeutische Arbeit. Viele Menschen, trennungswillige - natürlich mehr noch trennungsgeschädigte - suchen therapeutischen Rat und Hilfe. Die Ziele sind jeweils Vereinbarungs- und Verhandlungssache und verbunden mit Fragen, die dieser Zielfindung dienlich sein sollen: "Was müsste am Ende dieser Beratung/Therapie geschehen sein, damit sie zufrieden sind, sich eine Lösung/Entwicklung in ihrem Sinne abzeichnet?" Oder: "Stellen Sie sich vor, heute Nacht geschieht ein Wunder. Was wäre dann morgen anders?" Mein eigenes Trennungs-Trauma ließ sich auf diese Weise nicht auflösen; eine Lösung ergab sich erst zwanzig Jahre nach dieser Trennung. Als ich meine damalige Lebensgefährtin acht Jahre kannte - und man darf sagen, ich kannte sie nicht gut - kam mir die Liebe (nicht) plötzlich abhanden. Betrug und Selbstbetrug markierten einen Wendepunkt, an dem ich meinen eigenen Weg finden und weitergehen wollte - finden musste. Ich bin diesen Weg vor mehr als vierzig Jahren mutig gegangen. Die Feigheit, die diesen Weg gleichemaßen ausmachte, fiel der Verdrängung und der Leugnung anheim. Sie durften erst zwanzig Jahre später Gestalt annehmen und sich aus dieser unseligen Paargeschichte verabschieden.

Kleine Auslassung aus aktuellem Anlass in Corona-Zeiten (inmitten des Jahres 2020):

So saßen wir am gestrigen Abend zu viert beieinander und erzählten uns, wie wir die Zeit der verordneten sozialen Distanz, das covid19 geschuldete Regelwerk in unserem Alltag gestalten und aushalten. Während wir als Paar - soeben unseren 39sten Hochzeitstag noch erinnernd - betonten, in der Tatsache unsere Familie in einem Radius von 500 Metern wohnend zu wissen, den glücklichsten aller Umstände zu erblicken und damit jederzeitige Begegnung und Fürsorge zu erleben, schilderten unsere Gäste uns ein völlig anders Bild: die Familie(n) zerstreut, die Kinder irgendwo  in der Welt verteilt, selbst als spätes Paar im Rheinland lebend - das alles ein großes, chaotisches Patchwork, lange getrennt und geschieden vom Vater bzw. der Mutter der jeweils eigenen Kinder, herrsche Sprachlosigkeit, soziale Distanz schon lange (und schon lange vor corona) zum/zur jeweils geschiedenen Partner/in. Mir zuckte durchs Hirn, dass das Glück meiner alten Tage weniger mein Verdienst sei als biografisch auf ein langes Leben hin gewendet vielmehr in seinem - seinerzeit absehbaren Verlust - mein drohendes Menetekel markiert (hätte), wäre aus all meinen Verfehlungen irgendwann jener point of no return resultiert, von dem unsere Gäste so beredt, so enttäuscht, so ernüchtert und gekränkt erzählten; jene Wendepunkte, an denen Familie, an denen Vater-Sein und Mutter-Sein zerbricht bzw. sich wandelt zu einem so nie ersehnten oder erahnten Unterfangen: nämlich hin zu Allein-Erziehenden, zu Geächteten, die von vorne beginnen müssen mit ungedeckten Checks, die in dem ein oder anderen Fall zum absoluten Kontaktabruch gegenüber den ehemals Geliebten, gegenüber dem Vater bzw. Mutter der eignen Kinder führen. Karl Otto Hondrichs Appelle verhall(t)en in solchen Fällen echolos im Familienchaos. So wird man nicht frei und spürt die Last, die aus der Ächtung des ehemaligen Partners, des Vaters, der Mutter resultiert und die man nahezu hilflos (er)trägt als Geächteter.

Botho Strauß' in der ersten Episode verdichtete Beobachtungen lassen freilich die begründete Vermutung zu, dass die auf drei Jahre bezifferte Verbindung kinderlos auseinanderging, so dass man sich mit Fug und Recht verlieren kann und sich nicht wiederfinden muss - gesegnete oder meinetwegen auch verfluchte Passanten, je nach dem wie man die unausweichliche Trennung erlebt hat und erst recht erinnert. Wird jemand krank - lebensbedrohlich krank im zeitlichen Kontext der Trennung, gerät das Trennungsgeschehen selbst unversehens in einen kausalen Nexus, der mit Schuldzuweisungen und ihrer Zurückweisung einhergeht. So läuft man davon und einmal um die Erde und wieder zurück, um auch nach Jahrzehnten zu begreifen, das Geschichte(n) nicht einfach zu Ende geht/gehen; dass sie sogar die Kraft und den Einfluss hat/haben, alles Neue unter Vorbehalt zu setzen und unbefangenes und unbedingtes Glück nicht zuzulassen. Man entdeckt auf diese Weise vielleicht die vier (oder mehr) Männer in sich, mit denen -  in denen - man gelebt hat:


Vier Männer (in mir)

Wachgeküsst mit siebzehn.
Knospen, Triebe blühn.
Den Himmel rosa sehn,
Wie Feuerfunken sprühn.

Riechen, fühlen, flehen.
Das Fremde, unerreichbar fern,
Tastend sich ergehen,
Bliebst ein fremder Stern.

Im Liebesschmerz
Versinkt die Welt.
Zum Himmel steigt mein Herz
Und fällt, und fällt, und fällt.

Die zweite Liebe: tief -
Umworben!
Herz im Herzen schlief,
Ganz unverdorben.

Nun sollt ich wachsen,
Sehn die Grenze -
Will noch spielen,
flachsen, Keine Kränze.

Und wieder fallen,
Schnitt und Wende.
Blind für Fallen
Und das Ende.

Ende heißt Beginn!
Das Neue kann beginnen?
Schulden und Gewinn!
Wenn zweie nur gewinnen?

So hoch wir fliegen,
Tapfer träumen.
Schulden wiegen,
Denn wir säumen.

Ordnungen der Liebe
Weisen uns den Weg.
Und wir werden Diebe,
Schmal und eng der Steg.

In der Lebensmitte
Darf ich wachsen.
Folgenreiche Dritte,
Sind wir nun erwachsen?

Bin gelassen,
Seh die Grenzen.
Sich und andre lassen
An Gräbern und vor Kränzen.

Die Lust zu leben?
Ja! Der Unterschied?
Nach jedem Beben
Sing ich nun mein Lied.

Augenscheinlich verstellt offenbaren sich im Abstand von Jahrzehnten die biografisch spurenmächtigen Paarringe, so dass eine Beschreibung - einmal ganz abgesehen von einer angemessenen Bewertung immer nur den subjektiven Blickwinkel vermittelt.

Ich habe mich 1978 als 26jähriger aus meiner ersten - immerhin sieben Jahre andauernden Beziehung, die ihre Wurzeln in einer Schülerlliebe hatte, auf wenig rühmliche Weise verabschiedet. Im Voranschreiten von einer zornigen, erbosten Zurückweisung eigenen Fehlens hin zur Anerkenntnis schuldhafter Verstrickung über die Jahrzehnte mag immerhin ein moralischer Fortschritt aufscheinen. Die Tatsache, dass sich die nach der Trennung einstellende, Gesundheit bedrohende und verletztende Diagnose bei der Frau, die ich zurückließ, nach vierzig Jahren auch ihre finale Bestätigung erfährt, erleichtert eine retrospektive Auseinandersetzung nicht. Allein die Versöhnung nach - und in diesem Falle - vor unterdessen zwanzig Jahren, hat diese Verstrickung dann endlich final aufgelöst. Sie eröffnet noch einmal die klare Perspektive, dass wir nicht nur sozial, sozusagen ausschließlich als Beziehungsmenschen existieren, sondern gleichermaßen monadisch als biologische und psychische Systeme mit all unseren Erblasten; gleichermaßen ausgestattet und in Erscheinung tretend als Intelligenzverkörperungen und blickdichte, abgeschattete Innenräume. Verstehen können wir uns letztlich nur annähernd als soziale Wesen einerseits, auf Kommunikation angewiesen und ihr ausgeliefert sowie als biologische Wesen, deren biochemisches Prozessieren gleichermaßen auf genetischer Ausstattung wie auf der Verarbeitung von Außenreizen basiert. Dies alles zu integrieren zu einer halbwegs plausiblen Ich-Erzählung, die Fremd- und Selbstperspektive in einer erträglichen Balance hält, stellt sich als lebenslange Herausforderung dar. All dies ist mir in der Auseinandersetzung mit dem Versuch Moritz von Uslars anlässlich seines 50. Geburtstages noch einmal umfassend bewusst geworden:

So fließen all diese Aspekte, gelebtes und erlebtes Leben in eine (Selbst-)Erzählung ein, mit der wir uns nach Außen wenden und mit der wir uns konfrontieren lassen. Manchmal kommen wir uns dann mit großem Abstand um so Vieles klüger vor, hätten das Eine gelassen und das Andere getan, wenn wir es nur früher schon gewusst hätten. Die oben zu Wort kommenden vier Männer in mir, wissen heute, dass es richtig war sich zu trennen und damals vor allem noch kinderlos neue Wege zu suchen; sie wissen, dass es wohl unumgänglich war aus jener Verstrickung neuerliche Trennungsabsichten zu hegen, um dann - gesegnet mit Kindern - erneut zueinanderzufinden; die damit aufgenommenen Hypotheken abzuzahlen und im Sinne Detlef Klöckners gemeinsam das fürsorgliche Finale zu suchen.

Darin und nur darin offenbart sich das unverdiente und unverhoffte Glück der späten Tage und Jahre.

Botho Strauß' weiter oben in (2) und (3) wiedergegebene Impressionen wenden sich dann dem Phänomen einer Ehe in der langen Weile zu. Hier überwiegt Ernüchterung. So weit wie Michael Haneke in Das weiße Band geht aber auch Botho Strauß nicht.

Ich meine hier - in diesem düsteren Film mit seiner unvergleichlichen bedrängenden Dichte des unfassbar trivialen Bösen - lediglich eine kleine, vielleicht 3 Minuten andauernde Szene, in der Rainer Bock (als Arzt) seine leibhaftige an ihrer Liebe und Verzweiflung zugrundegehende Triebabfuhr - Frau Wagner, die Hebamme (Susanne Lothar) - in aller Seelenruhe mit großer Abgeklärtheit vernichtet: als Frau, als Lebensgefährtin, als Sexualpartnerin! Wer vernichtende Kränkung und damit ausweglose Entfernung voneinander in ihrem Wesen begreifen will, der sollte Rainer Bocks und Susanne Lothars Spiel für einige Minuten aushalten, aber immer eingedenk des Risikos daran auch selbst Schaden zu nehmen. Danach weiß man zumindest, was Menschen einander, was Männer Frauen anzutun in der Lage sind.

Botho Strauß spricht die Veränderung sexueller Kultur in der langen Weile einer langen Ehe an; genauso wie den Verlust gegenseitiger Wertschätzung, die sich in der dritten Beobachtung noch einmal unvermittelt über die erinnerungsmächtige Kraft assoziativ ausgelöster Bilder-, Klang- und Gefühlswelten aus der Frühzeit einer Beziehung einstellt, um sogleich als solche auch entwertet zu werden. Sowohl die sexuellen Dimensionen als auch das allgmeine Abdriften in Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten in der langen Weile sind meinem lyrischen Ich nicht entgangen:


Paarlauf  

Schau, das Paar und seine Kreise
wie es sprüht und lebt
und auf synchrone Weise
über allen Niederungen schwebt.

Sieh nur ihre Augen strahlen
und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
während ihre Spuren ritzen

feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
ihre Seelen schimmern rein und weiß -
Engel hört man Halleluja singen.

Ach, so leben wir doch alle
für ein Jahr, auch mal für zwei -
tappen blindlings in die Falle
und aus Eigenart wird Einerlei.

 

Draw a distinction! (Heinz von Foerster)

Unterschiede,
die einen Unterschied machen
beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.

Fast nüchtern und unaufgeregt
pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne

regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
sitzt der Frosch auf der Mauer,
beginnt müde sein Lied.

Er weiß: Heute erhört ihn niemand!
Da bleibt er lieber gleich stille
und blickt in ein Land
voll Lust, doch mit nüchterner Brille.

Unterschiede,
die einen Unterschied machen,
beleben das Leben -
dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen?

Es vollzieht sich das Leben
und manchmal die Ehe,
mal wohl und mal wehe.
Draw a distinction – na eben!


Nähert man sich zweifelnden oder resignierten alten Paaren, die aber durchhalten bzw. die durchgehalten haben - eine lange, lange Weile -, dann kann man häufig beobachten, dass die Augen noch einmal blitzen und Strahlkraft gewinnen, wenn wir gemeinsam auf unsere jeweiligen Gründungsmythen zu sprechen kommen. Dies alles mag allerdings nur unter der Maßgabe gelten und überzeugen, dass da nicht jemand den anderen ansieht, als sei er - wie Botho Strauß bemerkt - von allen guten Geistern, und nun auch noch der Logik des Gemüts verlassen worden.

Jede Liebe sollte sich die Utopie in ihrem Rücken noch einmal als glänzendes Versprechen vor Augen führen und die Frage beantworten, ob man noch unterwegs ist nach Ou Topos (Heiner Geißler), dem Ort den es geben müsste. Nur wer hier im besten Sinne des Wortes durchhält - den Ort, den es geben müsste, immer vor Augen - hat eine Ahnung davon, dass es sich lohnt.

All dies führt mich zu einer neuerlichen Auseinandersetzung mit jenem Phänomen, dass durch Paarbeziehung begründet und immer wieder erneuert wird, und in dem Paare - in den unterschiedlichen Phasen (schaut euch hier die Seiten 85-88 an) ihrer Leidenschaft (Detlef Klöckner unterscheidet derer fünf) - im besten Fall einen übergeordneten, in Generativität aufgehenden Sinn erfahren: Familie!

Generativität - der Schlüssel zu einem erfüllten, zu einem sinnerfüllten Leben? Für mich zweifellos - gründend auf dem Schisma, das die Menschen in zwei vollkommen verschiedene Gruppen unterteilt: Menschen, die selbst Kinder haben, und Menschen, die keine Kinder haben: Bei beiden Untergruppen lassen sich wiederum Untergruppen bilden: Eine große Gruppe, in der sich einerseits Menschen befinden, bei denen sich mit Kindern ein Traum erfüllt und die diesen Traum relativ enttäuschungsfest leben. Andererseits Menschen, die ungewollt Eltern werden, sich dann wiederum zum einen Teil damit arrangieren - möglicherweise in einen Traum hineinwachsen. Zum anderen Teil befinden sich in dieser Untergruppe Menschen, die fortan in einem Albtraum leben, an sich und der Welt verzweifeln, die einerseits ihre Elternrolle nie wirklich annehmen und deren Kinder oftmals niemals das für sich erleben, was man vielleicht eine glückliche Kindheit nennt, und aus der heraus sich dann erst vollständige und erfüllte Generativität entfalten kann. Die andere Gruppe umfasst jene Menschen, die kinderlos bleiben: gewollt oder ungewollt. Auch darin bildet sich wiederum ein Schisma ab: Kinderlosigkeit als Lebensfluidum, das eigene Lebensgefühl (und möglicherweise die berufliche Karriere) beflügelnd. Dann so ganz im Gegenteil Kinderlosigkeit als Schicksal, das unfassbar tief die eigenen Sehnsüchte und Visionen beeinträchtigt und hintertreibt. Dazu passen die folgenden Beiträge wie der Deckel auf den Topf bzw. wie die Faust auf's Auge:

 

Generativität - Vielleicht ein Zauberwort für ein sinnerfülltes Leben I

Details

Veröffentlicht: 05. April 2020

Großväter – Großeltern - Tastversuche I

Nun bin ich also selbst Großvater – wir sind Großeltern!

Großeltern bezeichnet die 2. Vorfahrengeneration einer Person: die Eltern ihrer Elternteile, zwei Großmütter und zwei Großväter, auch Oma und Opa genannt. Im Wikipedia-Beitrag lässt sich lesen: „Bei einer Untersuchung in der Schweiz bezeichneten über 90 % der befragten Enkel und Großeltern die Beziehung untereinander als wichtig. Die Mehrheit der Enkel charakterisierte ihre Großeltern als liebevoll und großzügig, eine Minderheit als streng und ungeduldig.

Als besonders wertvoll wurde genannt, dass Großeltern für ihre Enkel da waren, ihnen zuhörten und Zeit für sie hatten. Die Befragung der Enkel ergab, dass für eine lebendige Beziehung eine relativ gute körperliche und psychische Gesundheit der Großeltern erforderlich ist und dass diese wichtiger ist als ihr tatsächliches Alter […] Mehrere Studien belegen eine positive Wirkung der Betreuung durch Großeltern auf den Spracherwerb der Enkel […] Ende der 1980er zeigten Untersuchungen an etwa 400 Großeltern, Eltern und Enkelkindern aller Altersgruppen, dass für die Zufriedenheit mit der Großeltern-Enkel-Beziehung und die Intensität dieser Beziehung weniger die Häufigkeit der Kontakte an sich als vielmehr genügender Kontakt unter vier Augen ausschlaggebend war. Als wichtige positive Faktoren wurden vor allem die emotionale Unterstützung einschließlich Schmusen und vertrauensvoller Gespräche, der fehlende Leistungsdruck, der fehlende Erziehungsauftrag, die verfügbare Zeit und die uneingeschränkte Akzeptanz der Enkel hervorgehoben.“

Was mich besonders fasziniert und herausfordert hängt mit einer Randbemerkung im Wikipedia-Kontext zusammen: Großeltern ermöglichen ihren Enkeln einen Blick auf die Familiengeschichte und dienen häufig als Vorbild.

In meiner eigenen Familie gibt es keine Tradition in dieser Hinsicht; es gibt keine Aufzeichnungen zur Familiengeschichte im Sinne einer Ahnentafel oder einer Familienchronik. Da beginnt mit mir etwas, was mit Blick auf meine(n) Enkel aber immerhin einen Blick zulässt bis in die Generation der Urgroßeltern. Wenn Leo – und wer da noch kommen mag – sich einmal die Frage stellt, wer ihm denn so vorausgegangen ist, dann hat er über meine Aufzeichnungen Anstöße und Gelegenheiten sich einige Fragen beantworten zu können, vermutlich aber auch neue zu stellen. Meine Hoffnung geht freilich in die Richtung, die der Wikipedia-Beitrag andeutet. All dies soll tief eingebettet sein in eine warmherzige, vertrauensvolle Beziehung, die allen Enkeln eben jenen Wind vermitteln, den ich meinem Großvater mütterlicherseits verdanke. Die hier zusammengestellten Erinnerungen sollen aber nicht bei den Großvätern (Großeltern) halt machen. Gleichwohl beginne ich mit einem Gedicht, das – en passant entstanden –, wie auch das darauf folgende, eine Hommage an meinen Großvater mütterlicherseits darstellt. Er hat mein Leben begleitet durch Kindheit und Jugend bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr. Das war insofern in besonderem Maß der Fall als die beiden Elternhäuser meiner Eltern Hausbacke an Hausbacke in der Kreuzstraße 111 und 113 standen, verbunden mit einem gemeinsamen, zaunlosen Gartenterrain. Meines Großvaters Berufswunsch – so gehen die Erzählungen – ist ihm zeitlebens versagt geblieben. Er wollte wohl Metzger werden und hat, da ihm seine Mutter dies nicht gestattete, als Autodidakt das Schächten erlernt, das betäubungslose Töten des Schlachttieres mit einem rasierklingenscharfen, schartenfreien Messer. Er hat – so lange Juden in Bad Neuenahr lebten – für jüdische Familien geschlachtet und hat es auf diese Weise in jüdischen Kreisen zu Wertschätzung und Ansehen gebracht. Im zweiten Gedicht – Orte – ist davon unter anderem die Rede. Zunächst aber die Hommage an meinen Opa Josef. Ich habe meinen Namen im Übrigen durch die Kombination der Vornamen meiner beiden Großväter erhalten: Franz Josef!


Was ich auch von meinem Ahnen genommen habe

Aus dem Ofen in den Laden,
und von dort auf unsern Tisch
große, kleine Fladen,
neben Wurst ein wenig Fisch.
Mit der Hand in meinen Mund,
eingeschleimt, zerkaut dann in den Schlund,
hinein in jenen Magen,
der nunmehr hat das Sagen:
Durchsäftet, angedaut
wandert dann der Brei
durch Dick und Dünn
- nein eher umgekehrt -
bevor er wurstet sich von dort
hinein in jenen Ort,
der heute
- komfortabel -
mittels Wasserspülung
alle Reste von dem Feste
schwemmt durch dunkelste Kanäle
fort!

Fort
in jene düstren Hallen,
wo einst mein Ahn
die Last von allen saubren Leuten nahm.
Klärwerk heißt der Ort,
an dem ich kam
vom Ahnen hin zum Wort,
dem ich fortan huldigte.

So dank ich ihm,
dem Ahn,
der mich beseelte,
in mir als Kind das Licht erweckte,
mit dessen Kraft
ich fortan Wort für Wort
und auch die Welt entdeckte.

 

Diese Entdeckungsfahrt nimmt so richtig Fahrt aber erst in Orte auf. Dieses ein wenig apokryph, dunkel und undurchsichtig daherkommende Epos offenbart einen merkwürdigen Widerspruch zwischen der schlichten und denkbar einfachen Herkunftsgeschichte meiner beiden Herkunftsfamilien und einer damit deutlich in Kontrast geratenden Sprach- und Wortgebung. Vor fünfundzwanzig Jahren entstanden, verführt es heute dazu, die schlichten, gleichwohl geheimnisvollen Welten hinter dieser Sprachwelt hervorzuholen. Der Reiz seinerzeit und bis heute liegt für mich vor allem darin, zu zeigen, wie sehr Herkunft und Ankunft und die Reise dazwischen Spannungen offenbaren, die in einer schlichten, realistischen Beschreibung von objektiven Gegebenheiten weder Leuchtkraft noch sprachliche Originalität beanspruchen könnten. Denn die Form erzeugt eben auch den ganz besonderen Zugang zu jenem Mythos und jener Aura, die ich meiner eigenen Kindheit und Jugend zuschreibe:


Orte 
– meinem Großvater mütterlicherseits

Ich heiße Josef (neben Franz),
und ich bin der Enkel
einer deutschen Eiche:
Josef -
stark und breit,
sanft und gewogen,
leicht gebeugt - ein Kraftwerk.

In Deinem Haus -
keine Bilder, keine Bücher,
„da hingen keine Gainsbouroughs“;
der „Volksempfänger“ bis zuletzt!
Und doch:
Jede Sekunde gelebten Lebens
respektvoll:
Du trugst uns (Enkel)Kinder auf Händen
- alle!

Und herausgeschnitzt
(auch diese) Linie(n)
- erzählten Lebens:
Der Eigensinn, die Unvernunft
- da spürte schon mal ein brauner Uniformträger,
wie rotes Blut und brauner Boden schmeckt!

Nein!
Über Politik und Geschichte wurde wenig gesprochen.
Masuren 1914 -
steckte in Deiner Seele,
und
- Eisen - als lebenslange Depotgabe
in Deinem Körper.

Warst kein Schweijk,
und kein Jünger der Stahlgewitter.

Merkwürdig konstruierte Intuition,
assimilierte Facetten jiddischer „Kultur“

- Ja, ja!

Gelernt hast Du das Schächten
(dein Werkzeug liegt jetzt in meinen Händen).
Metzger wolltest du werden -
und warst früh schon geschätzter Experte,
wenn es die Gottschalks,
die Oppenheimers,
die Wolffs
und Lichtendorffs
koscher haben wollten.

Merkwürdige Synchronizität:
Die Mischpoke ist Dir abhanden gekommen
– wusstest Du jemals wie?

Alles Millionäre in Amerika!?
Und Du?
Ohne Profession!
Verlust bei Verlust.
Stiller Gewinner die Stadt:
Zumal die untersten Chargen
- die städtischen Arbeitskolonnen -
besetzt mit Spitzenkräften.

Für mich warst du
der immer schon alte, starke Mann:
Im Schiefer der Weinberge;
als Führer zu den mythischen Orten der Kindheit,
wo die Maiglöckchen (noch heute) blühen.
In den lehmigen Gruben,
stiller Bereiter der letzten Wege,
(wo selbst Du deine Grenzen erfuhrst,
wenn jemand im Tod noch auf Wanderschaft musste).

Dann wieder ein Ort,
wo die Fontänen des Lebens sprühn!
Lebendige Kindheit -
Salz und Sonne auf unserer Haut!

Geheimnisvoll aber,
mythisch,
dionysisch
und gewaltig jener Ort.
Die Hallen,
in denen
Anfang und Ende zusammenfließen:

Wir lebten am Rande,
der letzten Bastion zivilisierten Lebens.
Von dort 3000 Meter
wildes Land:
Zuerst die Abraumhalden der Stadt
- Schutt.

In der anderen Welt,
jenseits der Ahr,
gesäumt von Alleen immer blühender Kastanien
die in den Hades übergehenden Prozessionen,
wo Staub kommt zu Staub.

Auf unserer Seite die Niederungen,
Sumpf- und Schwemmgebiet,
worin sich alle Urgewalt verläuft:

Hier duckt sich der Ort,
hinter Haselnüssen und Hainbuchen,
ein Bunker,
flach
und bestimmt von Diagonalen
- sanft ansteigende Schrägen.

Zuerst lockt eine Stube,
verwinkelter, tetraedischer Kubus,
kristalliner Raum einer ganzen Welt:
Der Körper spürt wohlige Ewigkeitswärme
- fossiles Urfeuer im Kanonenrohr;
die Augen gehen über.

Im Restlicht erscheint das Panoptikum (D)einer Zeit:
An den Wänden das illustrierte Feuerwerk
der formierten Gesellschaft:
Beauties und Katastrophen,
Abziehbilder medial markierten Raums.

Ein fernes, geheimnisvolles Rauschen liegt über Allem.
Dünn und vernehmlich,
bedrohlich,
aber (noch) gebannt
im Kreis der alten Männer:

Schwerer Moschus aus Tabak,
Manschester -
sinfonische Höhepunkte,
wenn Bohnen und Speck,
Schweinebraten und Kohl,
Wirsing und Gulasch Geruchsnischen besetzen,
wie Flaschengeister jenem Kessel entsteigen,
der die Kleinode unserer Küche bewahrt;
und doch nichts als Irrlichter im olfaktorischen Inferno.

Von Zeit zu Zeit
- in der rush hour kollektiver Biorhythmen alle Stunde -
verläßt Du die Stube.
Dann ergreife ich Deine Hand
selig geborgen,
gerade genug,
um standzuhalten,
denn wir treten ein in den Bannkreis der düsteren Hallen,
anschwellendes Rauschen,
noch wie fernes Trommelfeuer vor dem Sturm.
Welche Schätze lagern hinter metallenen Toren
an des Wächters Hand -
vor dem Allerheiligsten?

Hier sollte nun Teil zwei der Orte folgen. Angesiedelt in einer Kindheit in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat man den Eindruck, all dies entzieht sich vollständig dem Zugang der Nachgeborenen. Am ehesten ließe sich der Faden weiterspinnen mit den Spiel- und Jugendgefährten seinerzeit - gewissenmaßen auf Augen- bzw. in diesem Fall auch auf Riechhöhe. Mein Bruder ist vor 26 Jahren tödlich verunglückt, Bernd - unser verrückter Jopa - ist 1995 an der Nadel geblieben, Peter-Georg - mein alter ego in Kindheit und bis zum Ende der Volksschule - ist 2010 einer Krebserkrankung erlegen, sein Bruder, Karl-Heinz, der Jüngste von uns Fünfen, ist 2018 verstorben. Ganz sicher war es 2002 bereits angemessen meinen ersten biografischen Selbstversuch mit dem Titel zu versehen: "Ich sehe was, was Du nicht siehst - Komm in den totgesagten Park und schau". Willi, mein Bruder und Bernd/Jopa waren schon nicht mehr unter uns. Peter-Georg und Karl-Heinz haben meinen 50sten Geburtstag noch mitgefeiert - im Café Hahn.

So bleiben mir - auf die 70 zusteuernd - die durch Orte auslös- und erinnerbaren Phanatasien; als solche werden sie in der Regel bei dem Versuch, ihnen Gegenwartsrelevanz zuzubilligen, begrenzt bzw. zurückgewiesen. Je älter ich selbst werde, um so deutlicher steht mir allerdings vor Augen, wie prägend und persönlichkeitsfärbend die Einflüsse dieser Kindeheit und Jugend wohl waren:

Du lebst am Ende der Stadt, an ihrem östlichen Rand, deutlich separiert von ordentlichen, städtischen Straßenzügen, drei Häuser - wie ausgesiedelt, überhaupt nicht zueinander passend, vor allem Disharmonie und das Ende der Kreustraße signalisierend - der Asphalt ist glatt wie ein Spiegel, ideal für Hockeyschlachten auf Rollschuhen. Dort, wo die Menschen sich noch in Gruben entleeren, wächst Du auf - gemeinsam mit einer 10 Jahre älteren Schwester, Deinem 3 1/2 Jahre jüngeren Bruder, Deiner Cousine und Deinen Spielgefährten. Die Kreuzstraße führt ins Nichts. Das Nichts ist angefüllt mit Schutt - 200 Meter östlich, jenseits besiedelten Gebietes erstreckt sich der städtische Schuttabladeplatz, in Zeiten vor aller Mülltrennung, Metzgereiabfälle verrotten neben Hausmüll und Sondermüll nahezu jeder Kategorie. Die Müllhalden werden abgefackelt, kein Tag ohne Rauch, Knacken und Knistern, wehe der Wind weht aus östlicher Richtung. Dies ist das Paradies, nicht nur für uns, sondern für Myriaden von Ratten. Aber zwischen Schutt und dem Fußballplatz - auf der anderen Straßenseite, exakt auf der Höhe der Kreuzstr. 111 bzw. 113 - da ist nicht nur das Paradies, dort ist der Himmel, die Zirkuswiese, auf der Zirkus Krone und Zirkus Sarrasani gastieren und ansonsten das fahrende Volk. Heute würde man Sinti und Roma sagen, die mit ihren Karrossen und Wohnwagen ihr Lager dort aufschlagen, bei uns zu Hause um Wasser anfragen, bis das der städtische Wasserversorger dort endlich einen Hydranten installiert und so jederzeit einen Zugang zu fließendem, sauberem Wasser garantiert.

Es mag die Zeit zwischen meinem achten und allenfalls zehnten Lebensjahr umfassen. Auf einem Damenfahrrad mit tiefem Einstieg - am Lenker eine Einkaufstasche fixiert - verlasse ich die befestigte Kreuzstraße und gelange über einen Feldweg zwischen die Felder und Wiesen. Hier bewegt man sich nach und nach in die Uferzone der Ahr. Trauerweiden, Hainbuchen und im Herbst der gelbe Heinrich sorgen für eine üppige Vegetation. Es ist die Passage zwischen der Kurstadt Bad Neuenahr und den ahrabwärts folgenden Dörfern, Heppingen und Heimersheim. An der Brückenquerung, die Heppingen und Heimersheim verbindet, befindet sich unterhalb der Brücke mit einer rampenförmigen Zufahrt die städtische, mechanische Kläranlage.

Ich habe mich damals wie ein Prinzenkind gefühlt, das einem außerordentlichen Privileg huldigen durfte. Nicht im Entferntesten wäre ich auf die umgekehrte Idee gekommen und hätte eine Bewusstsein dafür ausbilden können, dass sich der Sachverhalt eher umgekehrt darstellte: Mein hochverehrter und geliebter Großvater gehörte zu einem im Schichtbetrieb arbeitenden Trupp von Klärwärtern, die die anfallenden Fäkalien abräumten, zu Abraumhalden auftürmten, die regelmäßig von Pferdefuhrwerken und Lastkraftwagen abtransportiert wurden. Und jedem, der auserkoren war, mich zuweilen dorthin zu begleiten, widerfuhr eine außerorderntliche Ehre.

Vielleicht kann ich an dieser Stelle verdeutlichen, warum ich wohl mit einem Abstand von mehr als 35 Jahren einen Wortzauber entworfen habe, den ich syntaktisch nur rudimentär in feste Strukturen gießen wollte/konnte. So galaktisch meine subjektive, kindliche Wahrnehmung von der öffentlichen, sozialen Wahrnehmung geschieden war, so sehr wollte ich dem kindlichen Mysterium sprachmächtig zu einer singulären Repräsentanz in der Welt der Kunst - der Sprachkunst verhelfen. Die Melange zwischen der gewaltigen Statur und Präsenz meines Großvaters und den Orten, die ich aufnehme und aufleben lasse, dient der liebevollen Würdigung großväterlicher Fürsorge und Liebe. Was ich auch von meinem Ahnen genommen habe (siehe oben), ist der Versuch, die Unmittelbarkeit einer allumfassenden Wertschätzung, einer besonderen Wahrnehmung durch den Großvater, die zwischen liebevoller Zuwendung und Zutrauen alle Facetten großväterlicher Aufmerksamkeit einschloss, in die Mittelbarkeit zu übersetzen, die sich in meinem Versuch manifestiert, die familiären Ermöglichungen in einem langen Bildungsweg für mich zu nutzen. Auf diese Weise gerät dann der Großvater auch noch einmal unmittelbar in den Blick des Enkels:

  • Es beginnt bereits mit der Namenspatronage, wobei mir die Tatsache, dass ich meinem Vatersvater - er starb, wie meine Großmutter väterlicherseits - vor meiner Geburt - nicht begegnen durfte, wie ein beharrlicher Stachel gegenwärtig bleibt. Und die deutsche Eiche schien mir ein angemessenes Bild, knorrig, schief, gebeugt - aber bei alledem kraftvoll und Schutz gewährend für den einen Großvater - den Großvater aller Großväter.
  • Die Bildungsferne ist Signum familiärer Ausgangslage nach beiden Seiten. Dass sich Bildungsferne nach Erwin K. Scheuch in den Attributen weiblich, ländlich und katholisch offenbare, war für uns, zu Beginn der 50er Jahre geborene Jungs hinsichtlich des Geschlechts noch nicht trennscharf genug - es umschloss uns nahzu ausnahmslos (fernab der ca. 15%, denen der Übergang aufs Gymnasium ins Stammbuch geschrieben war). Hier aber bereits mit Bildungsdünkel aufwarten zu dürfen und anzuschließen an Gottfried Benn (immerhin aus Pastorenhaus) ist ein unübersehbares Zeichen für sozialen - bildungsfundierten - Aufstieg. Der Kontrapunkt dazu ist Herzenbildung. Nicht von ungefähr sage ich in Rezos Messlatte, dass ich Herzenswärme und Urvertrauen aus meiner Herkunftsfamilie mit in die Welt genommen habe.
  • Lebensläufe - Biografien, erst recht in lyrische Formen gegossen, sind hochanspruchsvolle und ambitionierte Inkonsistenzbereinigungsprogramme! (Passwort: wiro2015) Diese Niklas Luhmann geschuldete Erkenntnis fordert bereits im dritten Abschnitt von Orte ihren Tribut. Mein Großvater - so gehen die Erzählungen - war ein Hitzkopf und vor allem nicht frei von Jähzorn; dazu passt Unvernunft - hier vielleicht die Kehrseite einer lebensgefährlichen Authentizität. In Bad Neuenahr kannte man sich, mein Großvater gehörte zur kaiserlichen Garde, ist möglicherweise in seinem Habitus ein Monarchist geblieben. Da kam ein Etappenhengst brauner Provinienz gerade recht, um sich Luft zu verschaffen gegenüber einer unerträglichen Arroganz der braunen Emporkömmlinge. So geht halt die Geschichte, dass man handgreiflich aneinandergeriet. Und da war in der Tat mit Lahnsteins Jupp nicht gut Kirschen essen. Beide haben überlebt - über das Ende des tausendjährigen Reiches hinaus.
  • Ja Habitus - vorbewusste, reflexionsfreie Zone. Eigene Überzeugungen mussten weder diskutiert noch legitimiert werden. An der Ostfront in Ostpreußen/Masuren - mein Großvater war Soldat im Ersten Weltkrieg - fand die Zu- und Ausrichtung statt, inclusive der eigenen Versehrtheit. Kurz vor seinem Tod bei einer Fußwaschung - nicht ganz, aber doch ein bisschen auch rituell, mehr aber der Hygiene geschuldet - habe ich noch einmal gehört, dass, wie im Übrigen bei meinem Vater, Splitter in seinem Körper unterwegs waren, sozusagen als lebenslange Depotgabe. Da er im Habitus gradlinig, eher stur war, waren Ideologien im fern. Er taugte weder zum Schweijk noch zu einem Arschloch wie Ernst Jünger (hier sollte man noch einmal Klaus Theweleit zu Rate ziehen).
  • Die heißeste Stelle beginnt mit den "assimilierten Facetten jiddischer Kultur". Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, wurde meinem Großvater der Berufswunsch Metzger versagt. Die Erzählungen, die ihn ausweisen als versierten Schächter - das schartenfreie Messer ist heute in meinem Besitz - verweisen darauf, dass er im "Judenbad" Bad Neuenahr wohl viele Jahre die rituellen Schlachtungen für jüdische Familien durchgeführt hat. Ich erinnere, dass er mir und meinem Freund Peter-Georg zu Zeiten der Räude unter den Kaninchenpopulationen auf der Bengener Heide in einem Schnellkurs beigebracht hat, wie man in Netzen eingefangene Kaninchen per Nackenschlag mit einem geeigneten Knüppel vom Leben zum Tod befördert. Bei uns wurden selbstverständlich auch Stallhasen und Hühner für den eigenen Verzehr auf angemessene Weise getötet und für den Kochtopf vorbereitet. Ich gehörte wohl zu den relativen Weicheiern, die dann aber nicht in der Lage waren Hühner oder Hasen auch zu essen. Er hat es mir verziehen, mehr als mein eigener Vater.
  • Zur Mischpoke muss besonders angesetzt werden: Irgendwann - ich vermute spätestens 1942 - war Bad Neuenahr "judenfrei". Das Geschäftsmodell meines Großvaters war da wohl schon länger obsolet. Verstrickungen lassen sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Ich weiß nicht, ob sich mein Großvater, der 1934 mit dem Rumpfbau des mütterlichen Elternhauses begann, Geld bei jüdischen Geldverleihern besorgt hat. Die Notarakten zur Kreuzstr. 111 sind weitgehend vernichtet und nicht mehr zugänglich. Vorwürfe und Schuldzuweisungen, die für unsere Generation unseren Eltern gegenüber typisch waren, sind im eigenen Familienkontext nie scharf gestellt worden. Die militärischen Zugehörigkeiten und Bewegungen im europäischen Raum habe ich über Recherchen bei der WASt minutiös vorgenommen - für alle, die eine Rolle im familiären Kontext spielen - am eindringlichsten für Franz Streit, den Vater meiner Schwester.
  • Mein Großvater hat nach dem Zweiten Weltkrieg als städtischer Arbeiter seinen Lebensunterhalt verdient, immer verbunden mit Kleinstlandwirtschaft und Kleinviehhaltung. Er tritt dann in mein Leben nicht nur als fürsorglicher Großvater, sondern als jemand, der alles konnte und alles wusste, um irgendwie durchs Leben zu kommen: als Friedhofsgärtner und Helfer bei Bestattungen und Umbettungen, als Hilfskraft im städtischen Schwimmbad, als Klärwärter, als Kassierer bei den Deutschen Meisterschaften der Tennissenioren.
  • Einzigartig und ohne Beispiel wirken die Zeiten und Umstände seiner Tätigkeit als Klärwärter in mir nach: Geheimnisvoll, mythisch, dionysisch und gewaltig wirkt in der Tat jener Ort, der so trivial, so schmutzig und gewöhnlich jenseits seiner Verklärung erscheint. Es sind die Schwefelwasserstoffverbindungen oder die durch Fäulnis freigesetzte Buttersäure, die eine Kläranlage zu einem der Unorte unter der Sonne machen. Woher also meine uneingeschränkte Faszination - die möglicherweise zu einer Desensibilisierung, manche behaupten zu einer Schädigung meines olfaktorischen Unterscheidungsvermögens geführt hat???
  • Zunächst einmal gilt es einzustimmen, den Schritt von den "zivilisierten Randzonen" hin zu dem Ort anzubahnen, an dem "Anfang und Ende zusammenfließen". Der Weg durch "wildes Land, durch Abraumhalden" - kontrastiert durch das pralle, gleichwohl morbide Leben auf der anderen Seite der Ahr; dort wo die Kurbetriebe, das städtische Schwimmbad, Lenné- und Kaiser-Wilhelm-Park die gediegene Seite der Kurstadt offenbaren. Das fruchtbare Schwemmgebiet, der Übergang zur "Goldenen Meile" enden für mich in einem bunkerartigen Gebäudekomplex, der die städtische Kläranlage beherbergt. Vor dem "Allerheiligsten" residieren die Klärwärter in ihrer Stube, jenem "tetraedischen Kubus", der von einem Kanonenofen dominiert wird und dessen Wände für Heranwachsende gleichermaßen die Welt einer formierten Gesellschaft mit ihren beginnenden Reizen und Schwellenwerten offenbaren: Statt gekälkter Wände überwältigte einen hier - zumal als Heranwachsender - die Patina eines Panoptikums, das Titelseite um Titelseite der seinerzeit gängigen Illustrierten mittels Kleister an den Wänden fixierte. So entstand ein illustriertes Feuerwerk zeit- und kulturgeschichtlicher Mächtigkeit aus der schlichten Perspektive der Unterschicht, in der die Schmuddelkinder spielen.
  • Zu Winterszeiten wärmte das "fossile Urfeuer im Kanonenrohr" und ließ die Augen übergehen - mit Blick auf die angesagten Beautis und Berichtenswertes in der formierten Gesellschaft der 50 und 60er Jahre; die "Abziehbilder eines medial markierten Raums". Dazu  gehörten Konrad Adenauer, John F. Kennedy, aber eben auch Marylin Monroe, Freddy Quinn, Hans Albers, Curd Jürgens, Hildegard Knef, Marlene Dietrich, Heinz Rühmann und und und.
  • Spannung entsteht über den Kontrast heimeliger Atmosphäre, eine eigentümliche Geborgenheit im Schutz der "alten Männer", wobei mein Großvater seinen Dienst in der Regel alleine versah. Der Zweck meines eigenen Da-Seins an diesem Ort lag ja in der Versorgung, im Verbringen des Esskesselchens. Der Esskessel war ein profanes Wunderwerk, dass die gustatorischen und olfaktorischen Essenzen zu einer solitären Melange entfaltete. Zehn bis fünfzehn Minuten benötige ich von der Kreuzstraße bis zur Kläranlage, eine Zeitspanne während derer die frisch zubereiteten Speisen ummantelt von einem mit heißem Wasser gefüllten Zwei- oder Dreikammersystem - fest mit einem geklammerten Deckel verschlossen - ein wahres Geruchsfeuerwerk entfalteten, das sich nach Öffnen des Kessels im überschaubaren Raum verströmte. Eine abstrus-verrückte, bis heute nachwirkende Folge dieses Arrangements offenbart sich in meiner Vorliebe für das, was aus frischem Blattsalat in einem gewissermaßen nahezu vakuumierten Raum entsteht, befand sich der Salat doch schon in seiner Marinade. Ich habe diese Vorliebe von meinem Großvater übernommen, der auch abends noch Reste vom mittäglichen Salat - dann bereits verfallen und schlaff - mit Genuss verkostete; ganz zu schweigen von den geruchsmäßigen und geschmacklichen Besonderheiten, die die eingekesselten Speisengewissermaßen im Nachgaren hervorbrachten. Sie kreierten Geruchsnischen, die Flaschengeistern gleich in der Tat die Kleinode, die Besonderheiten der großmütterlichen Küche offenbarten. Die Großmutter hatte in ihrer Jugend den Haushalt in einem großbürgerlichen Haus in Düsseldorf erlernt und versehen.
  • Und doch gerieten diese sinnlichen Geschmacks- und Geruchs-Feuerwerke nur noch zu Irrlichtern in einem Fluidum, das ich als olfaktorisches Inferno erinnere - ganz besonders im Sommer, wenn die Türe zur Stube weit offenstand und der spezifische Odem der Klärschlämmen alles andere dominierte. Was in bestimmten zeitlichen Abständen - in der rush hour kollektiver Biorhythmen stündlich - zu vollbringen war, lässt sich sprachlich nur sehr rudimentär und grenzwertig vermitteln. Es entzieht sich gänzlich der Vorstellungskraft von Menschen, die einen solchen Ort nie mit eigenen Augen, nie mit eigenen Ohren und Nasen buchstäblich in sich aufgenommen haben.
  • Es ist vollkommen angemessen an dieser Stelle das Mysterium auf die Spitze zu treiben, sich auch nach 60 Jahren noch selig geborgen vorzukommen, wenn dann das Unfassbare geschah. Zuweilen - und mit zunehmendem Alter - um so häufiger durfte ich an der Hand meines Großvaters die Schwelle zu den düsteren Hallen überschreiten. Näherte man sich dieser Halle, schwoll das Rauschen vernehmlich an - im Rückblick sicher nicht zum angedeuteten Trommelfeuer, aber eben zu einem Rauschen, verursacht von den verunreinigten Wassermassen, die Zug um Zug zuerst über grobe, dann immer feiner geschmiedete Eisenroste geführt wurden. Von grob bis fein lagerte sich auf diesen Rosten aller erdenkliche, kanalisierte Unrat ab - einschließlich der über Toilettenspülungen entsorgten Fäkalien. Die Aufgabe der Klärwärter bestand in der Entfernung dieses Unrats. Mit großen Schiebern wurde zuerst der grobe - in zweiten und dritten Arbeitsgängen - die feineren, verdichteten, schlammigen Rückstände zusammengerafft, zusammengeschoben, um dann mittels Schaufelarbeit in die zum Abtransport bereitstehenden Schubkarren verbracht zu werden. Die Schubkarren selbst wurden unterhalb des Bunkers entleert, dort wo sich der Unrat zu Haufen türmte, die dann in bestimmten Zeitabständen von Pferdefuhrwerken oder Lastkraftwagen zu ihrer weiteren Verwertung abtransportiert wurden.

Die städtische Kläranlage Bad Neuenahr war ein zentraler, tiefenwirksamer Ort meiner Kindheit. Das also sind Monumente akribischer Erinnerungsarbeit, die familiär selbstverständlich keines Wortes und keines Kommentars für würdig befunden wurden. Und was hätte man denn sonst mit ihnen tun sollen, als sie nachhaltig und konsequent zu verdrängen: Mein Vater/mein Großvater ist Klärwärter in der städtischen Kläranlage - das erwies sich doch als klamm-heimliches kommunikatives No-Go. Bei nicht vorbelasteten, durchaus an komplexen Sozialisationsgeschehnissen interessierten LeserInnen - so könnte ich mir vorstellen - könnten die vorstehenden Impressionen durchaus die Schwelle zu einer möglichen kommunikationsförmigen Reaktion auslösen.

Die folgenden Sätze setzen sich mit der tiefempfundenen Kränkung auseinander für die aufgezeigten Sinnzusammenhänge keine Adressaten mehr zu finden. Peter Fuchs - ein kaum zu lesender/kaum gelesener Soziologe in der Nachfolge Niklas Luhmanns, gelangt in seiner Schrift: Das Maß aller Dinge - Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen (Velbrück 2007) zu der Einsicht, dass "mit der Einführung der Schrift die Karriere des Menschen als Ausdruck für ein Wesen neben der Sozialiatät mit einer eigenen (irgendwann nicht mehr auslotbaren, letztlich inkalkulablen, aber unentwegt vorauszusetzenden) Innenwelt" beginne (S. 210).

Auch wenn ich hier mit Hilfe des w.w.w. die Schwelle überschreite, die mit meiner "Innenwelt" sozusagen markiert ist - Arnold Retzer würde wohl von einem Ab- oder Austropfen sprechen - komme ich zu der paradoxen Schlussfolgerung, das all dies nicht kommunikabel ist. Auch da verhilft mir wiederum Peter Fuchs zu - zugegebenermaßen - äußert schwierigen Schlussfolgerungen, die mein Dilemma offenbaren: Warum schreibe ich all dies auf - genausogut kann ich es doch in meiner Innenwelt bewahren, gar schützen!? Mich überzeugt dies allein deshalb nicht, weil für mich all dies nur über die akribische Anstrengung des Begriffs in eine (auch für mich selbst) nachvollziehbare Außenrepräsentation gerät. Aber auch hier - so könnte man einwenden - stellt sich nicht im Geringsten die Notwendigkeit, die mit dem w.w.w. markierte Schwelle zu überschreiten. Aber folgen wir an der Stelle noch einmal Peter Fuchs:

"Wir haben versucht zu zeigen, wie durch Schriftgebrauch ein auf Tiefe angelegtes Adressformular entsteht. Es ließe sich hinzufügen, dass mit der Schrift nicht nur die Differenz von Information und Mitteilung verschärft beobachtbar wird, sondern auch die Differenz von Ablehnung/Annahme der je mitgeteilten Sinnofferte (S. 210)."

In Annmerkung 206 (auf Seite 210) greift Peter Fuchs auf den Kommunikationsbegriff Niklas Luhmanns zurück (hier noch einmal im Rahmen einer PPP von mir aufbereitet): "Begreift man Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen, so ist Kommunikation realisiert, wenn und soweit das Verstehen zustande kommt. Alles weitere geschieht 'außerhalb' der Einheit einer elementaren Kommunikation und setzt sie voraus. Das gilt insbesondere für eine vierte Art von Selektion: für die Annahme bzw. Ablehnung der mitgeteilten Sinnreduktion. Man muss beim Adressaten der Kommunikation das Verstehen ihres Selektionssinnes unterscheiden von Annehmen bzw. Ablehnen der Selektion als Prämisse eigenen Verhaltens (Luhmann, Soziale Systeme, S. 203)."

Wir befinden uns also nur exakt an der Nahtstelle, an der ich - wenn es denn je eine Bezugnahme auf diesen Beitrag geben wird - alleine registrieren kann, ob ein Verstehensprozess in Gang kommt, der sich in irgendeiner Form des Annehmens/Ablehnens offenbart; lieber wären mir Anschlusssignale, die in Form von Differenzen eine kommunikationsförmige Interaktion erst zustande kommen ließen.

Dies trifft gleichermaßen zu auf den nachfolgenden Beitrag, in dem Generativität gegen den Strich gebürstet wird - in erster Linie von Marina Abramovic. Ich halte dagegen; auch lyrisch!

 

Generativität - Vielleicht ein Zauberwort für ein sinnerfülltes Leben II

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Veröffentlicht: 15. April 2023

Familie-soziologisch-therapeutisch-alltäglich

In die neue Rubrik des ZEIT-Magazins Was ich gern früher gewusst hätte schau ich sporadisch hinein. Ian Mc Ewan hat mich beeindruckt, aber vermutlich nur, weil ich ähnlich denke und fühle wie er. Im aktuellen ZEIT-Magazin hat Marina Abramovic Gelegenheit uns ihre Erkenntnisse mitzuteilen. Die ersten beiden Auslassungen lauten:

"Du kannst die Familie, in die du heineingeboren wurdest, hinter dir lassen" bzw.

"Die wahre Familie ist die, die du dir selbst schaffst".

Es stehen auf dieser Seite einige durchaus bedenkenswerte Anregungen. Und man mag mit der 1946 geborenen, weltweit aktiven und aufgrund ihrer aufsehenerregenden Performances beachteten Künstlerin Nachsicht üben, ihr meinetwegen eine gewisse Altersblindheit zugestehen. Und es kommt eben nicht von ungefähr, dass Marina Abramovic wenige Zeilen später meint:

"Physische Schmerzen zu ertragen und sie zu überwinden ist verhältnismäßig leicht, psychische Schmerzen sind eine weitaus größere Herausforderung."

Ja, Marina Abramovic, den Schmerz und den Umgang mit Schmerz - mit psychischen Schmerzerfahrungen - tragen Sie in die Welt. Um Himmels Willen - warumWoherWohin? Die, die da ihre Familie selbst schafftschafft ja nicht auf einer tabula rasa. Und es lässt sich vermuten, dass in den irrsinnigen physischen Schmerz demonstrierenden Performances merkwürdig-abstruse Akte der Eigenbluttherapie in Erscheinung treten. Aber der malträtierte Leib und die darunter zu vermutende malträtierte Seele sind ja nicht weg. Sie erfahren meinetwegen eine gewaltige Metamorphose. Das heißt schlicht: All diejenigen - verehrte Frau Abramovic, die sie mit ihrem (kreativen) Schaffensakt in eine wahlverwandtschaftlich begründete und legitimierte Familie einladen, stoßen auf eine Marina Abramovic, die - so ganz und gar geprägt, meinetwegen geschunden und geläutert daherkommt aufgrund ihrer nie aufhebbaren, nie zu löschenden familialen (Anlage und Umwelt gleichermaßen geschuldeten) Prägung.

Und ich selbst neige dazu genau dies mit offenen Augen sehen zu können, sehen zu wollen: Familie – soziologisch gegen den Strich gebürstet, psychologisch auf Dynamiken abgetastet, persönlich und privat als Keimzelle, Nährboden, Humus, Misthaufen betrachtet und mit den eigenen Entwicklungslogiken und –brüchen abgeklärt – eine solche Haltung durchzieht meinen Blog seit 2014. Seit 2019 ist eine entscheidende Facette hinzugekommen. Wir sind Großeltern. Ich bin leidenschaftlicher Großvater - eine Tatsache im Übrigen, die ohne leidenschaftliche (und zugegebenermaßen auch fehlbare) Vaterschaft nicht vorstellbar ist. Die folgenden Auslassungen gehen den umgekehrten Weg. Wir alle müssen die Familie in die wir hineingeboren wurden, hinter uns lassen. Im besten Fall steht dann hinter uns eine Ahnenreihe, aus der ein Kraftfeld strömt. Und wie man an Ihrem Beispiel sehen kann, sehr geehrte Frau Abramovic, führen ja auch negative Kraftfelder unter Umständen zu kreativen Schüben. Aber wie auch immer - was sie da hinter sich gelassen haben, hat Anteil an dem, was sie nun Kraft Ihres Willens als ihre familiale - besser wahlverwandtschaftliche - Kreation betrachten.

Von meinen eigenen Großeltern haben leider nur Oma und Opa mütterlicherseits ihren Prägestempel hinterlassen – zumindest wenn man die genetische Dimension einmal außen vor lässt und sich primär auf die kommunikativen und interaktiven Begegnungen in Kindheit und Jugend beschränkt. Diese begegnungsabhängigen Prägestempel habe ich aufgenommen und meinerseits nach Jahrzehnten auch wieder in Sprache rückübersetzt. Gleichzeitig beginne ich jetzt damit das unfassbare, so köstliche Erleben der Enkel-Großeltern-Beziehung aus der Sicht des Großvaters zu thematisieren. Früher hätte ich gesagt, ich kann halt nur schreibend durch die Welt gehen. Aber das Schreiben ist absolut nachgeordnet, weil ich das außerordentliche Privileg habe, meinen Enkelkindern fast jeden Tag begegnen zu können. Das Schreiben vermag dann etwas zu ordnen und festzuhalten, was für die meisten Menschen einfach im Alltag verblasst. Es entstehen dann in der Tat so Köstlichkeiten wie Der Nussknacker und mein Büblein (siehe auch hier und weiter unten)! Gleichwohl ist der Alltag um so unendlich viele Facetten reicher – Facetten, die allemal nicht dazu taugen, Kindheit (auch frühe und früheste Kindheit) einfach nur zu idealisieren. In der Dichte des Erlebens, des Unterstützens, des Erleidens auch von schmerzhaften Ereignissen und Einschnitten baut sich das ganze filigrane Kunst- und Netzwerk familialen Erlebens im intergenerativen Zuschnitt auf.

Mir ist es wichtig diese Botschaft in die Zeit hinüberzuretten, in der ich nicht mehr sein werde. Sloterdijks präzise Umschreibung essentiellen Daseins Zur Welt kommen – zur Sprache kommen ergibt für mich nur Sinn, wenn wir eben nicht nur zur Welt kommensondern wenn wir auch zur Sprache kommen. Sprache kann wenig und doch so unendlich viel. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass meinen Kindern und Kindeskindern die Gänsehaut kommen wird, dass sie gewiss fasziniert und fassungslos stehen werden vor dem, was ihnen ihr Vater/Großvater/Urgroßvater hier hinterlassen hat.

Der Begriff des Alternativlosen verbietet sich eigentlich. Alternativen gibt es freilich. In meiner eigenen Familie gibt es generationenübergreifend keine entsprechende Tradition Geschichten auch nur zu erzählen oder gar aufzuschreiben. Vielmehr gilt es die möglicherweise existentiell begründete Verweigerung überhaupt noch einmal zur Sprache zu kommen zu respektieren. Mit der Absicht, sich eine unvoreingenommene Selbstvergewisserung zu gestatten, mag man sich im besten Fall eine gewisse Strahlkraft in die kommunikative Kultur der eigenen Familie erhoffen; möglicherweise so etwas wie positive Impulse mit Blick auf emotionale Fundierung oder auch positive und identitätsstiftende Momente, um zu verhindern, dass man irgendwann buchstäblich in der Luft hängt.

Verständlich ist der Respekt und mehr noch die Angst davor mit dem identitätsstiftenden Schreiben etwas preiszugeben, von dem zwar alle in diffuser Weise wissen, von dem aber das Tabuverdikt Tag für Tag ablenkt und wegführt. Manche erfahren diese Mangelsituation in Form von Depression und Niedergeschlagenheit; andere haben zumindest die Kraft, dem eigenen Weg noch einmal eine zukunftsfähige Richtung zu geben. Alles in allem leiden aber viele Familien letztlich an jenem Phänomen einer tief verankerten Sprachlosigkeit. Ich halte an der Hoffnung fest, dass Beispiele, wie jenes von Christiane Hoffmann:

ALLES WAS WIR NICHT ERINNERN (München 2022) als Leuchttürme wirken mögen. Sie schreibt in ihrem Epilog 1 auf Seite 269 (nachdem sie die 558 Kilometer des Fluchtweges ihres Vaters zu Fuß zurückgelegt hat) mit Blick auf ihre Töchter, die Enkeltöchter ihres Vaters:

„Zwei Jahre nach Deinem Tod (dem Tod des Vaters von C. H.) fahren unsere Töchter nach Polen, Deine Enkelinnen, zusammen mit zwei Freundinnen, vier junge Mädchen im Auto mit Kochgeschirr und Zelt. Sie sind begeistert von Polen, seiner Natur, den Städten, den Menschen, sie sagen, es sei die schönste Reise ihres Lebens. Sie schwimmen in der Weichsel, sie fahren nach Danzig und in den Badevorort Heubude, wo ein anderer Urgroßvater aufwuchs, sie wollen die Geschichte verstehen, sie besichtigen das Konzentrationslager Stutthof und die Wolfsschanze, die paddeln auf einem masurischen See, sie fahren nach Warschau und Breslau und wandern auf der Schneekoppe. Sie trinken abends am Lagerfeuer Bier mit jungen Polen, sie werden überall freundlich aufgenommen, sie sagen, sie seien noch nie so herzlich zurechtgewiesen worden wie im Wald von Masuren, wo sie ihr Zelt an einem Seeufer aufschlagen. Der Förster weckt sie am Morgen mit seinen drei Worten Englisch, welcome to Poland, entschuldigt sich, sie sehen, wie unangenehm es ihm ist, sie vertreiben zu müssen, sie sollen sich Zeit lassen mit dem Zusammenpacken, welcome toPoland. Auf dem Weg nach Süden nehmen Deine Enkelinnen die Autobahn A4, gut fünfzig Kilometer von Wroclaw passieren sie die Ausfahrt nach Brieg, hier müssten sie abfahren nach Rosenthal, aber sie fahren an der Ausfahrt vorbei, sie biegen nicht nach Rosenthal ab, sie überlegen es nicht einmal ernsthaft. Es zieht sie nichts in dieses schlesische Dorf, das irgendetwas mit ihnen zu tun haben soll. Für meine Töchter ist Rosenthal nicht mehr die verlorene Heimat, weder Paradies noch Fluch. Sie brauchen Rosenthal nicht mehr.“

Was wir brauchen und was wir nicht mehr brauchen, lässt sich nicht rein voluntativ – als freie Willensentscheidung ableiten. Wir benötigen die offene, aktive Auseinandersetzung mit unserer Herkunft, mit unserer Geschichte, um entscheiden zu können, was „nahe genug“ ist oder was möglicherweise noch einmal angeschaut werden muss, um damit abschließen zu können. Großeltern tragen ein hohes Maß an Verantwortung dafür in welchem Maß Zugehörigkeit und Zuversicht zentrale Anker auch im Leben ihrer Kinder und Enkel sein können.

Will man sich selbst ein Bild machen, wo man steht, bieten sich die von Kurt Lüscher (bibliografische Angaben siehe weiter unten) entwickelten Dimensionen an: Er spricht von dynamischen und spannungsvollen Grundverhältnissen. Für die subjektive Dimension nennt er Konvergenz (Annäherung) vs. Divergenz (Distanzierung). Für die institutionelle Dimension spricht er von Reproduktion (Beharren) vs. Innovation (Veränderung). Lüscher entwickelt eine diagrammatische Darstellung und arbeitet vier Grundtypen der Beziehungsgestaltung und des Umgangs mit den dabei auftretenden Ambivalenzen heraus - Übergänge sind selbstredend möglich bzw. erstrebenswert (folgende Wiedergabe im Wortlaut):

  • Typ 1: "Solidarität": Es überwiegen die persönliche Vertrautheit und das Zueinander in überkommenen Lebenswelten und Tätigkeitsfeldern; Ambivalenzerfahrungen werden mit dem Hinweis auf das Gemeinsame weitgehend überspielt oder verdrängt.
  • Typ 2: "Emanzipation": Die gegenseitige Wertschätzung orientiert sich an der Vorstellung einer eigenständigen Persönlichkeitsentfaltung in sich wandelnden Lebenswelten; man gesteht sich Ambivalenzerfahrungen ein und bringt diese zur Sprache.
  • Typ 3: "Atomsierung": Distanz und Entfremdung sowie sich rasch verändernde Lebenswelten führen dazu, dass man sich auseinanderlebt; mögliche Ambivalenzerfahrungen werden verneint oder kommen nicht zum Tragen (guten Tag Frau Abramovic).
  • Typ 4: "Kaptivation": Man ist sich zusehends fremd und dennoch an überkommene Lebensformen gebunden; die Ambivalenzen äußern sich in Verstrickungen oder in einem instrumentellen gegenseitigen Umgang.

Ich hoffe mit diesen kleinen Häppchen Appetit geweckt zu haben. Viel Vergnügen im Familiendschungel! Dazu gehört beispielsweise auch der ironiegeschwängerte Blick eines Erich Kästners und nicht nur die blutgetränkte Selbstkasteiung einer Marina Abramovic. Zu Erich Kästner füge ich meine eigene Adaption hinzu und ergänze durch den Nußknacker!

 

F A M I L I E (hier auch ein Zugang zu den Unterscheidungen von Kurt Lüscher)


Die Großeltern haben Besuch 
(Erich Kästner)

Für seine Kinder hat man keine Zeit.
(Man darf erst sitzen, wenn man nicht mehr gehen kann.)
Erst bei den Enkeln ist man dann soweit,
dass man die Kinder ungefähr verstehen kann.

Spielt hübsch mit Sand und backt euch Sandgebäck!
Ihr seid so fern und trotzdem in der Nähe,
als ob man über einen Abgrund weg
in einen fremden bunten Garten sähe.

Spielt brav mit Sand und baut euch Illusionen!
Ihr und wir Alten wissen ja Bescheid:
Man darf sie bauen, aber nicht drin wohnen.
Ach, bleibt so klug, wenn ihr erwachsen seid.

Wir möchten euch auch später noch beschützen.
Denn da ist vieles, was euch dann bedroht.
Doch unser Wunsch wird uns und euch nichts nützen.
Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.

Wenn es gut sein (gewesen sein) soll - tot im Sinne Helga Schuberts(:-))


Meine Adaption zu Erich Kästerns: Die Großeltern haben Besuch

Die Großeltern auf Besuch (FJWR)

Für seine Kinder hat man wenig Zeit.
(Die Arbeit lässt uns schwitzen, und man hofft, die Eltern stehen ihren Mann.)
Erst bei den Enkeln steht man dann bereit,
so gut wie man noch kann.

Wir hocken mit im Sand und singen backe, backe Kuchen
und hoffen dort auf Nähe, wo man sich entfernt.
Und das Als ob – Herr Kästner – haben wir gelernt,
das ist der Abgrund, den wir nun verfluchen.

Wir spielen weiter brav mit Sand und bauen Illusionen!
Ein jeder weiß Bescheid:
Wir hätten gern ein Haus, gemeinsam drin zu wohnen,
doch unsre Zeit ist um, das tut uns leid.

Der Kästner hat ja Recht mit dem Beschützen,
zu Vieles haben wir versäumt, was heute euch bedroht.
Und unsre Wünsche werden da nichts nützen.
Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.

 

Der Nußknacker liegt mir gegenwärtig näher - doch ich weiß, wie trügerisch das ist(:-()

Dem Büblein zugedacht

Im Dezember 1858 hat August Heinrich Hoffmann von Fallersleben den Nußknacker veröffentlicht - eine folgenreiche Anregung:

Nußknacker

Nußknacker, du machst ein grimmig Gesicht -
Ich aber, ich fürchte vor dir mich nicht:
Ich weiß, du meinst es gut mit mir,
Drum bring ich meine Nüsse dir.
Ich weiß, du bist ein Meister im Knacken:
Du kannst mit deinen dicken Backen
Gar hübsch die harten Nüsse packen
Und weißt sie vortrefflich aufzuknacken.
Nußknacker, drum bitt ich dich, bitt ich dich,
Hast bessre Zähn als ich, Zähn als ich.
O knacke nur, knacke nur immerzu!
Ich will dir zu Ehren
Die Kerne verzehren.
O knacke nur, knack, knack, knack! immerzu!
Ei, welch ein braver Kerl bist du!

Der Nußknacker und mein Büblein, das heißt Leo

Du Büblein mir zur Seite,
Machst Freude mir und lässt  mich strahlen.
Ich wanderte mit dir
Durch Feld und Flur
Zu sammeln Nuss um Nuss!
Die trugen wir nach Hause voller Freude und Vergnügen.
Dort steht der Kerl, den unser Dichter meint, und wartet schon -
Stets hilfsbereit und uns zu Diensten.
Er hilft die Nüsse uns zu knacken
Mit seinen festen, dicken Backen.
Bei jedem knackknackknack
Seh ich dich nun vergnügt und ganz erwartungsfroh.
Denn auch wir beide wollen nun die Kerne gern verzehren,
Dem wackren Kerl, dem Nussknacker zu Ehren!

Der Nüsse sammelte ich schon viele und viele Jahre zieh ich durch die Flur.
Doch seit du da bist, strahlen alle Nüsse rein wie Edelsteine.
Mit dir zu sammeln, macht die Freude doppelt groß,
Weil deine Augen strahlen hell bei jedem knack, knack, knack!

 

Ja, wie verhält es sich eigentlich mit Wertvorstellungen - gar mit einer an Werten orientierten Praxis? Lässt sich diese Praxis nur als habitualisierte Ganzheit vorstellen, die allenfalls von denen gesehen und erspürt werden kann, die nach uns kommen? Mit Blick auf meinen Großvater mütterlicherseits und meinen Vater bin und will ich beredter Zeuge sein für ein solches Nachempfinden und Erspüren. Ob christliche Einflüsse  und Prägungen dabei eine Rolle spielen, ergab sich aus einer Diskussion mit meinem Neffen. Lassen sich solche Einflüsse wegdenken, wegretuschieren aus unserem geschichtlichen Selbstverständnis. Vor einen Jahr habe ich das mit meinem Neffen diskutiert. D'ont ask - d'ont tell scheint mir einer der Preise zu sein, die wir für Selbstverleugnung und Geschichtsklitterung bezahlen.

 

Zwischen Schweigespirale und Sprachlosigkeit


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Veröffentlicht: 21. Dezember 2022

D'ont ask - d'ont tell

In einer interessanten Replik auf mein neunzehntes Adventskalendertürchen (2022) steht unter anderem die Frage im Raum, warum ich eigentlich Christ sein will? Mir müsse doch klar sein, dass das gesamte Wertegerüst, dessen sich die christlich-abendländische Kultur rühme, doch erst gegen ihren erbitterten Widerstand erkämpft werden musste. Man möge doch damit aufhören, Geschichtsklitterung zu betreiben und wahrhaftig sein: Das Christentum habe nichts zum zivilisatorischen Fortkommen der Menschheit beigetragen. Ich habe daraufhin entgegnet:


Mein Lieber,

vielen Dank für Deine kritischen Anmerkungen. Bei der Suche nach Bewegungen, denen ich von vorne herein attestieren würde, dass sie etwas zum zivilisatorischen Fortkommen der Menschheit beigetragen hätten, habe ich Mühe fündig zu werden. Freiheitsbewegungen gab und gibt es zuhauf  – zuhauf endeten sie in Formen der Diktatur (des Proletariats) und des Despotismus. Die Linie, der wir uns zivilisatorisch und ideologisch zugehörig fühlen, versucht alle Formen der totalen Herrschaft dadurch zu zähmen, dass sie der Idee einer Souveränität des Volkes folgt. Das heißt die Ausnahme liegt in einem stetigen Prozess begründet, der die Legitimation von institutioneller bzw. staatlicher Herrschaft an demokratisch gerahmte Verfahrensregeln knüpft – wenn man so will: Legitimation durch Verfahren, aber nur in einem Rahmen der auf Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit beruht und der die Mandatierung der Ämtervergabe zeitlich begrenzt. Ich kenne und überblicke – mit meinem bescheidenen Blick in die Geschichte – keine bessere Form gesellschaftlicher Ordnung (da bin ich recht nahe bei Churchills Bonmot).

Eine andere Frage rührt aus der Ergründung dessen, was wir – jenseits formaler (staatlicher) Ordnung und Ordnungsprinzipien – unter einem Ethos verstehen können, an dem wir unser Handeln orientieren. Und hier widerspreche ich Dir insofern, als ich durchaus der Auffassung bin, dass „zivilisatorisches Fortkommen“ sich auch christlichen Wertvorstellungen verdankt (ein Wertegerüst - da folge ich Dir -, das bis heute gegen den erbitterten Widerstand der Amtkirche erkämpft werden muss). Es sind Millionen und Abermillionen von Menschen, die tagtäglich motiviert werden durch – im Kern – auch urchristliche Motive; ob das nun gegenwärtig Suppenküchen, Tafeln, Kältebusse, caritative Einrichtungen jeder Ausrichtung und jeder Zielsetzung sind oder Christen, die sich - der Schöpfungsidee verpflichtet - mit der Letzten Generation solidarisieren.

Das Schisma diesbezüglich ist schon lange eines zwischen Amtskirche und Gemeinden. Natürlich denke ich dabei auch an Menschen, wie meine Mutter. Und Du weißt – das begründet meine Nähe zu einigen Vertretern der Landeskirchen, dass ich Fulbert Steffensky folge, wenn er davon ausgeht, dass der Mensch ist, weil er sich verdankt. Das Motiv des Dankes und der Mildtätigkeit (im Übrigen auch von Menschen, die selbst am Rande der Bedürftigkeit leben) erscheint mir als zentraler Motor in einem bestimmten Segment zivilgesellschaftlichen Engagements. Und ich bin ganz und gar davon überzeugt, dass die Menschen, die dort jeden Tag handeln, organisieren, helfen, unterstützen und Anteil nehmen, gerade diesen Zwiespalt aushalten. Ich möchte sogar so weit gehen, dass dieses alltägliche Handeln geradezu die unfassbare Hybris und Arroganz der Amtskirchen konterkariert (jedenfalls gehörte beispielsweise meine Mutter zu jenen Menschen, die aus einem - meinetwegen ganz und gar naiven - christlichen Urmotiv zum Beispiel Krankenhausdienst und vieles mehr in der Gemeinde leisten bzw. geleistet haben).

Kleine Randbemerkung: Corinna Zisselsberger: „In meinem Alltag sind Kirchenmitglieder eine Minderheit. Ich erlebe täglich den Traditionsbruch und gleichzeitig, dass etwas von uns erwartet wird. Als Stadtkirche nahe dem Berliner Alexanderplatz kümmern wir uns um Arme und Bedürftige, es kommen aber auch ständig hilfesuchende Obdachlose und Drogenabhängige. Menschen ohne Berührung zum Christentum finden uns Pfarrerinnen exotisch. Wenn wir auftauchen bringen wir ein Stück Himmel mit. Das weckt Neugier.“

Verabschiedet man sich konsequent aus dem zivilgesellschaftlichen, meinetwegen auch politischen Tagesgeschäft, entgehen einem die unzähligen täglichen Aktionen, Aktivitäten, Initiativen, Aufbrüche, Bewegungen, Beharrlichkeiten, die das Schmiermittel dieser Gesellschaft bedeuten. Was glaubst Du, würde passieren, wenn alle Christen, wenn alle, sich einem christlichen Ethos verpflichtet fühlenden Menschen mit einem Schlag ihr Engagement einstellen würden? Es sind vielfach Menschen, die angesichts der Umstände über sich hinauswachsen; häufig genug eben Menschen der Tat, nicht des Wortes. Vor knapp 1 ½ Jahren waren es Menschen aller Herkunft, Überzeugung und Couleur, die beispielsweise an der Ahr einfach angepackt haben, angesichts der Umstände über sich hinausgewachsen sind – darunter waren auch viele Christen (und ich werde auf ein weiteres Türchen zurückgreifen und lyrisch noch einmal versuchen Dir nahezubringen, was ich meine. Corinna Zisselsberger sagt zu Beginn des Interviews in der ZEIT, sie könne sich nicht selber segnen. Dies kann niemandem eine Botschaft sein, der den Segen, der einem zugedacht ist – zum Beispiel von seinen Nächsten für eine leere Hülle hält. Ich denke und fühle da anders. Aber noch einmal zurück zur Bedeutung von Glaube und Ideologie:

Nehme ich nur die großen geschichtlichen Dramen und Katastrophen, dann fällt es (auch) mir leicht, die galaktische Differenz zu benennen, die sich zwischen den ideologischen Ansprüchen der meisten Bewegungen (die geschichtlich relevant geworden sind und Spuren hinterlassen <haben>) und den von ihnen zu verantwortenden Zuständen offenbart; das Kommunistische Manifest oder meinetwegen die Bergpredigt – moralisch befriedigende Weltverhältnisse sind ihnen weder zuzurechnen noch zu verdanken.

Ich habe mich über die Anregungen gefreut. Ich werde sie aufnehmen und bin überzeugt, dass sie mir helfen bei meiner Suche nach Orientierung und Gemeinschaft.

Ich habe Mühe mich zu einer konsistenten, irgendwie christlich begründeten Identität zu bekennen, aus der ich bruchlos Mut, Kraft und Zuversicht schöpfen könnte. Gleichwohl bin ich in eine Familie hineingeboren worden, die ohne christliche Identität nicht zu denken ist. Hier ist und war es die mütterliche Linie. Über die Großmutter und Urgroßmutter kolportieren und verbürgen sich christliche Haltungen. Ohne die echte und wahre Rückendeckung von Urgroßmutter und Großmutter (Großmutter und Mutter meiner Mutter), wäre die Exklusion meiner Mutter aus der christlichen Gemeinde unabwendbar und vollständig gewesen. Nur die verbürgte Zugehörigkeit, das Kümmern und Sorgen dieser starken Frauen hat meine Mutter in einem Leben gehalten, das für sie als siebzehnjährige eine allzufrühe Mutterschaft bedeutete. Und ja, diese unverbrüchliche Solidarität stellte sich gegen die HeuchlerInnen, gegen die bigotten KirchgängerInnen, die keine Kenntnis der Botschaft Jesu für sich reklamieren konnten. Auch heute gilt es gegen eine korrupte, verlogene Amtskirche und viele ihrer höchsten Würdenträger die Christenlehre zu verteidigen. Und so bekenne ich mich in nachfolgendem Gedicht, das ich zu meinen stärksten und gewichtigsten rechne, zu einer Sozialisation und zu einer Erziehung, in die sehr wohl christliche Werte eingeflossen sind - über die Mutter durch Wort und Tat, über den Vater, fundiert durch die Tat: Die Welt kommt zu uns, macht sich in uns breit, sinkt ab in Fühlen und in Habitus. Unser Habitus liegt nicht in unseren Händen. In ihm fließen Quellen und Bächlein aus allen Richtungen und Urgründen zusammen. Mir ist es heute aufgetragen, mir mit diesem Gepäck einen neuen Weg zu suchen, jenseits einer durch die katholische Amtskirche desavouierten christlichen Identität.


Don’t ask – don’t tell

Die Welt kommt zu uns,
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.

Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.

(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerreißt das dünne Eis der Contenance.)

Danach und manchmal auch zuvor
hilft uns dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.

Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird nun ja gezahlt!

Wenn’s  jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -

und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!

Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot!

*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320

 

Kommt reden wir zusammen - wer redet, ist nicht tot! Jorges Luis Borges hilft uns vielleicht in unserem schwachen Boot, so nah schon an den Klippen. Niemand sollte sich einbilden, dass er den Klippen entgeht. Drum öffne ich die Lippen, bevor es zu spät ist. Die ausgeprägteste und folgenreichste Hypothek, die Familiendynamiken lähmt und allenfalls auf unreflektierte, immer nur spontan erfolgende emotional und affektiv aufgeladene - meist eruptive und ruptive - Gefühläußerungen beschränkt, liegt in der Weigerung die Anstrengung des Begriffs sowohl in der Introspektive als auch in den darauf fußenden kommunikativen Positionierungen walten zu lassen. Im Privileg zur Welt zu kommen, indem man zur Sprache kommt, liegt die einzige Chance über das Rauschen hinauszugelangen, das uns insbesondere in unserer familiären Blase umgibt. Ich will dabei nicht verhehlen, dass mit Sprache hier ein so ungeheuer facettenreiches Medium gemeint ist, das in seinem Ausdrucksreichtum nicht nur unserer kognitiven Selbstrepräsentation Raum gibt - unserer emotionalen, affektiven, vor allem auch im Sinne einer liebevollen wechselseitigen Wertschätzung sind keine Grenzen gesetzt.


Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte

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Veröffentlicht: 16. April 2023

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte (Jorge Luis Borges)


Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen,
ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin.,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen,
ich würde nicht so gesund leben,
ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben
.
Nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie… ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.

Eine Wiederentdeckung – entnommen: Diana Drexler, Gelassen im Stress – Bausteine für ein achtsames Leben, Klett-Cotta – Stuttgart 2006, Seite 158 (Das Buch von Diana Drexler werde ich an gesonderter Stelle vorstellen).

Zunächst einmal zu Jorge Luis Borges und der Vorstellung Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte – auf Seite 191 von Kurz vor Schluss II habe ich mir selbst diese Frage folgendermaßen beantwortet (und Jorge Luis Borges verführt uns alle dazu, sich dieser Frage zu stellen):

„Und man kann vorab behaupten, dass die unvermeidbare Frage Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? nur folgendermaßen beantwortet werden kann: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, war der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen (wohl kaum jemand vermag wohl Lehren aus den Fehlern anderer zu ziehen – hätte ich einen Wunsch frei, so wünschte ich mir, dass ein solcher Höllenritt meinen Kindern erspart bleiben möge).“

Jorge Luis Borges würde versuchen im nächsten Leben mehr Fehler zu machen. Für mich gilt die Erkenntnis, der Fehler sind genug – aber (und ohne diese Erkenntnis erscheint die Sehnsucht nach Fehlern geradezu aberwitzig und selbstzerstörerisch) Fehler ohne Lerneffekt können halt tödlich enden. Dazu in Anlehnung an Hans Magnus Enzensberger: in diesem Link vor allem: Gegebenenfalls)

Fehler verursacht (Aus: Die Mohnfrau, Seite 49)

Unbekannt
hat
in
Unbekannt
einen Fehler verursacht.
Unbekannt wird geschlossen.
Unbekannt
fordert
Unbekannt
auf
einen Fehler zu verursachen.
Unbekannt
erwidert:
„Ja, vielleicht
gelingt es mir
unter den
mir gegebenen Fehlern
den richtigen zu wählen.
Ich erwäge
- Hans Magnus sei mein Zeuge -,
ob ich das Richtige
im falschen Moment
oder das Falsche
im richtigen Augenblick
tun soll.
Und selbst,
wenn es daneben ist:
Es wäre doch unverzeihlich,
den richtigen Fehler
zu versäumen,
zumal er so leicht
nicht wiederkehrt.

Jorge Luis Borge sieht seinen Hang zum Perfektionismus selbstkritisch und mit Bedauern. Ich kann es mehr als verstehen und habe vor fünfundzwanzig Jahren die Beugungen in der Seelenstube verfasst:

Beugungen in der Seelenstube (aus: Das Leben ein Klang, Seite 97)

Ich genüge nicht
Du genügst nicht
Er/Sie/Es genügt nicht
Wir genügen nicht
Ihr genügt nicht
Sie genügen nicht

Genug genügt – nie – genügt Genug

„Genug“ ist ein Attribut mit atemporaler Halbwertzeit:
Es weist immer schon über sich hinaus,
weil die Welt sonst zum Stillstand käme
und sich genügen müsste.

Dies aber ist möglicherweise
nur fernöstlichen Blickwinkeln genug,
jenseits der Moderne.

Und jenseits unserer Genügsamkeit,
die immer Hunger hat nach mehr,
weil das Ungenügen den Takt vorgibt
als Widerpart, als komplementäre Fratze
des PERFEKTEN!

Ich bin perfekt
Du bist perfekt
Er/Sie/Es ist perfekt
Wir sind perfekt
Ihr seid perfekt
Sie sind perfekt

Seid perfekt!

Mein Gott, sind wir fertig!?


Ja, lieber Jorge Luis Borges, das Perfektionsstreben macht uns zu jenen Unmenschen, die in der Fehlervermeidung ihr Heil sehen. Aber ernst nehmen sollte man, was ernst zu nehmen sich lohnt. Hättest du erheblich weniger gesund gelebt, Du könntest uns mit Deinen 85 – zwei Jahre vor Deinem Tod – all Deine Erkenntnis gar nicht mehr mitteilen; und das fände ich schade! Aber Du hast natürlich recht mit den Sonnenuntergängen und dem Bergsteigen (wer es denn mag). Und es reicht einmal in Flüssen geschwommen zu sein – nahe dem Ertrinken.

Klugheit ist gut – Besonnenheit, Wagemut und Humor seien seine GesellInnen. Und die Freude, für die gibt es vielleicht eine späte Erfüllung, wenn wir sie nicht verwechseln mit dem reinen Spaß; aber auch der ist gewiss nicht zu verachten.

Ich danke Dir für die Aura, die Du dem Augenblick verleihst. Aber Strahlkraft können Augenblicke ja nur haben, wenn man die schwarzen Löcher kennt, die sich augenblicklich vor uns auftun können. Dann vergisst man den jetzigen ganz sicher nicht, barfuß und im Spiel mit den KindernDas Spiel mit den Kindern lässt uns atmen, strahlen und den unfassbaren Wert des Augenblicks erst recht begreifen, weil wir wissen, dass wir bald sterben werden. Mein Enkel Leo, den ich - ebenso wie meine Enkelin Jule - das Vergnügen habe, fast täglich zu sehen, verstrickte mich beim Händewaschen auf dem Heyerberg, wo seine Großeltern wohnen, in folgendes Gespräch - Leo war vier und einviertel Jahr alt:

Leo: Opa, wohnt ihr eigentlich immer hier, auf dem Heyerberg?
Opa: Ja, ich denke schon - so lange wir leben, werden wir wohl hier auf dem Heyerberg wohnen.
Leo: Und wenn ihr nicht mehr lebt, wo seid ihr dann?
Opa: Wir schauen auf euch herab und halten die Hand über euch.
Leo: Und wer wohnt dann hier auf dem Heyerberg?
Opa: Vielleicht wohnst du dann mit deiner Familie hier, dann bis du vielleicht selbst einmal Papa und irgendwann Opa.
Leo: Ja, aber nur mit dir?

Dazu passt Aron Bodenheimers feinsinnige Unterscheidung wie ein fehlendes Puzzle-Teil in das Puzzle unseres Unviversums. Leo hat es das Puzzle-Teilchen auf seine Weise neu interpretiert, vielleicht sogar ein wenig umgekehrt - wir würden halt alle gerne (vor allem in Situationen der Bedrängnis) beieinanderein:

 

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Veröffentlicht: 20. Dezember 2022

Verstehen heißt antworten - so meint Aron Bodenheimer (Stuttgart 1992, S. 169f.).

"Fragen kann krank machen, sagen kann bewahren - selbst wenn der Tod schon vor der Tür steht. Sogar dann, wenn es der nukleare Tod ist, das Ende im atomaren Genozid. - Im Gespräch über diesen treffen wir, es ist nach Tschernobyl, eine Familie an, irgendwo rund um die Erde, und das Kind fragt: 'Was passiert, wenn die Atombombe losgeht?' Dieses Kind hat Eltern, denen Wahrheit die Deutlichkeit der Realität ist, nicht die bewegende Wirkung des Wortes. Und aus dem heraus, was ihnen als Liebe zur Wahrheit gilt, antworten sie ohne weitere Besinnung dem fragenden Kind: 'Dann sind wir alle tot.'

Nur, die Eltern überhören, dass das Kind sich nichts hat vorstellen können: weder unter den Realitäten noch unter den Bedrohungen dahinter, noch unter dem Text und dem Sinn dieser Antwort. Atomare Bedrohung ist diesem Kind, was der Tod jedem Kind ist, und wenn es fragt, was es mit der Bombe auf sich hat, so fragt es, wie und was es sonst zu fragen gewohnt ist, um zu erkunden, wo seine Eltern sind und wer sie ihm sind. Das Kind will wissen, ob es sich seiner Eltern vergewissern darf. Und darauf kann die Antwort nicht heißen:'Dann sind wir tot', sondern:

'Dann sind wir bei dir.'

Und sich, den Eltern, sagen sie damit: Auch wenn wir zugrunde gehen, es macht einen Unterschied, wie es sein wird, eh wir zugrunde gehen. Das Kind erkundet, was es von den Eltern zu erhoffen hat. Versicherndes und bewegendes Sagen versagt auch nicht vor vernichtender Bedrohung."

Diese Textpassage habe ich Aron Ronald Bodenheimer: Verstehen heißt antworten (Stuttgart 1992, S. 169f.) entnommen. Den kompletten Beitrag unter diesem Link.

Wir waren beieinander, sind zusammengerückt am 21. Juni 1994. Gleichwohl war nicht zu verhindern, dass die Atomisierung eines sozialen Mikrokosmos' unausweichlich war. Nach fast dreißig (30) Jahren können wir ansatzweise sehen, was diese Atomisierung zur Folge hatte. Es ist weitergegangen, es geht weiter - nicht immer so, wie wir es uns vorstellen und wie wir es gerne hätten.

 

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Veröffentlicht: 21. Juni 2019

Ein Fluggerät stürzt ab


Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.

In allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Ein Fluggerät stürzt ab und geht entzwei

In den Köpfen - spürt man - steigt die Flut.

Und die Gezeiten wechseln Wut-Mut-Wut.

Der Sturm ist da,

Die wilden Meere hupfen,

Und die Seele schwillt,

Um Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen weinen,

wie beim Schnupfen

Und stehn am Abgrund -

suchen Brücken.

25 Jahre ist es nun her, das dieses "Fluggerät" bei Landshut abgestürzt ist - an Bord mein Bruder Willi und drei weitere Männer aus Bad Neuenahr; die ihr Leben verlieren infolge der Egomanie und Fahrlässigkeit des Flugzeugführers. Meine Biologie ist auch 25 Jahre nach diesem Ereignis soweit in Ordnung. Das "gelebte Leben" - der Bios als Grundlage für ein zuträgliches und aktives Leben! Kein Krebs! Keine bedrohliche Herz- Kreislauferkrankung. Die Parametrisierung der letzten Befunde im Zielfeld einer nach allen Erkenntnissen zuträglichen Lebensweise, das heißt die Art und Weise das Leben zu leben und zu lieben scheint im Einklang mit dem, was man sich gleichermaßen zumuten, versagen und zugestehen muss bzw. darf.

Dramatisch im Abgleich mit  u n s e r e m  Kinderfoto hoch oben über dem Apollinaris-Brunnen - von links nach rechts: der Juppi, der Peter-Georg, der Karl-Heinz, der Willi und der Jopa - im Alter zwischen 8 und 12 Jahren. Der einzige Überlebende: der Juppi! Der ist heute 71 Jahre alt und erfreut sich - wie angedeutet - bester Gesundheit. Der Verlust und Mangel an vollkommener Unbefangenheit erklärt sich beim Betrachten diese Fotos aus der Odo Marquardt geschuldeten Einsicht, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind. Ich habe immer den Mythos und die kryptische Bildsprache dieses Fotos betont - vielleicht überstrapaziert! Jopa zeichnet verantwortlich für dieses magische Foto; er hat uns in dieses "zwanglose" Arrangement hinein gezaubert - drapiert - inszeniert; zu Beginn der 60er Jahre mit ein Voigtländer, ausgestattet mit einem "Selbstauslöser"; für uns Jungs vom Lande weder transparent noch nachvollziehbar! Jopa ist es gelungen, diesen Fotoapparat - diese Kamera obscura - ohne Stativ auf einer Erdanhäufung so zu platzieren, dass er sich in aller Seelenruhe zu uns begeben konnte; ein einziger Versuch!!!: Wir fünf schauen offen, zugewandt mit einer coolen, entspannten Mimik - mit einem Lächeln in diese Kamera; keiner von uns verfehlt diesen magischen Moment! Ein Anflug von Skepsis äußert sich in Jopas Blick: "Ob das wohl gelingen mag?" Er war der einzige von uns, der als neun- oder zehnjähriger Junge zu einer solchen Kapriole in der Lage war! Und wie das gelungen ist!

Wir fokussieren gespannt die Kamera. Außer mir, der ich meine Extremitäten seitwärts platziere und dadurch völlig entspannt auf dem linken Ellenbogen aufliege, haben sich die vier anderen rücklings gelagert, die Beine nach vorne ausstreckend. Im "Bildarrangement" fällt im Hintergrund die Umzäunung einer Art Koppel in den Blick, dominiert von drei Zaunpfählen, zwischen denen Stacheldraht aufgespannt ist. Würde man diesem "Gesamtarrangement" eine Art Regieanweisung unterstellen, würde sich unmittelbar die Duplizität einer himmelwärts strebenden Vertikalspannung aufzwingen. Für Jopas und Willis linken Unterschenkel drängt sich eine Parallelverschiebung mit Blick auf die beiden in der Zentralperspektive dominierenden Zaunpfähle auf, während einzig noch Peter-Georg diese Parallelbewegung dem am linken Bildrand aufragenden Zaunpfahl zugestehen mag. Meine und Karl-Heinzens Beine liegen hingegen flach auf dem Boden bzw. verschwimmen im linken Bildrand. Ich "rette" meine Extremitäten, die mich noch heute durch die Welt tragen und bin ganz offenkundig nicht ganz von dieser Welt.

Von alledem wissen wir nichts. Ich schreibe heute als einziger Überlebender: Willi ist 1994 mit noch nicht 39 Jahren aus dieser Welt gestürzt; Jopa 1995 mit knapp 41; Peter-Georg ist 2010 im Alter von 59 Jahren an einer heimtückischen Krebserkrankung gestorben und Karl-Heinz - sein Bruder - ist ihm 2017 im Alter von eben 60 Jahren gefolgt. Wir waren im ersten Leben - in der Volksschule - der K9-Club, wiederum eine Erfindung Jopas. Er hat als einziger die Realschule besucht, während ich - erst beginnend mit meinem zweiten Leben - das Are-Gymnasium besucht und sogar erfolgreich abgeschlossen habe.

Aber aufwärts - gewissermaßen himmelwärts, so wie es die Zaunpfähle weisen, sind Willi, Jopa und Peter-Georg als erste und Karl-Heinz vorerst als Letzter - korrekt als Vorletzter entschwunden. Und was hat Odo Marquadt damit zu tun? Willi war mein Bruder, so wie Peter-Georg und Karl-Heinz Brüder waren; einzig Jopa war in diesem fünfblättrigen Kleeblatt ein Solitär - aber eingebunden in eine Blutsbrüderschaft. Das Schicksal dieses Kleeblatts bzw. der einzelnen Blätter mag auf mehr oder weniger dramatische Weise belegen, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind! Der Zufall ist der Geburtshelfer und definiert folgenreich die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Familie. Die Ausprägung von Zugehörigkeit und Geborgenheit führt zu der je besonderen Ausprägung von Bindungsqualitäten - nicht der Bindung schlechthin, sondern eben ihrer Qualität und ihrer je besonderen Bedeutung für ein ganzes Leben.

 

Wir nähern uns einem existentiellen Phänomen, das - man mag es kaum glauben - selbst angesichts des Menschheitsverbrechens schlechthin nicht versiegt. Der Klappentext zu Paul Celan - ich hörte sagen (2001 bei Suhrkamp erschienen) lautet: "Sein Ziel, Worte für das Unaussprechliche zu finden, erreichte Pau Celan durch die höchste Verfremdung der Sprache. Jenseits des gewohnten Sprachgebrauchs ermöglicht sie erst die Dichtkunst, die seiner berühmten Todesfuge ihre grausame und unwiderstehliche Schönheit verleiht." Paul Celans Flaschenpost hat mich 64 Jahre nach seiner Bremer Rede erreicht. Seine Flaschenpost mahnt gleichzeitig unsere politische Verantwortung ernster zu nehmen. So erfolgt der Brückenschlag hinein in ein Zeitgeschehen, von dem die meisten meiner Generation - allesamt Nutznießer der sogenannten Friedensrendite - niemals angenommen hätte, dass es in Gestalt der Carl Schmittschen Freund-Feind-Ideologie nicht nur als Ideengut durch die Welt geistert, sondern das Handeln der Despoten und Verirrten anleitet.


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Die Flaschenpost

1958 hielt Paul Celan zur Verleihung des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen eine Dankesrede. Er beginnt mit dem Hinweis, das in unserer Sprache Denken und Danken ein und desselben Ursprungs sind: „Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von: >gedenken<, >eingedenk sein<, >Andenken<, >Andacht<. Erlauben Sie mir, Ihnen von hier aus zu danken.“

Paul Celan betont, dass ihm „inmitten der Verluste dies eine nah und unverloren blieb: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem.

So entstand Paul Celans unfassbares Gedicht Todesfuge – in der Sprache, in der die Akteure der Wannsee-Konferenz der Endlösung ihren amtssprachlichen Anordnungs- und Durchführungsrahmen verliehen. Und Paul Celan bekennt in tastender Manier:

„In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.“

Und er betont, gewiss sei ein Gedicht nicht zeitlos – gleichwohl es einen Unendlichkeitsanspruch erhebe; es suche durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg. Wenn ein Gedicht die Zeiten überdauert, so lange wir uns erinnern (und vor allem: so lange es uns zwingt zu erinnern – mit unauslöschlicher Macht, dann wird dies wohl die Todesfuge sein.

Paul Celan kommt nun – 1958 in Bremen – zu der Ansicht, das Gedicht könne, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch sei, eine Flaschenpost sein,

„aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.“

Verehrter Paul Celan, irgendwo und irgendwann ist heute und hier, am 13. Dezember 2022 – vierundsechzig Jahre nach Ihrer Dankesrede in Bremen. Ihre Flaschenpost ist einmal mehr an (Herz-)Land gespült worden und trifft auf ein ansprechbares Du. Ich habe die Ehre, und gehe mit Ihnen durch mein heutiges Türchen – in Corona-Land – und biete meinen wenigen treuen Lesern Corona dar (aus: Paul Celan - Ich hörte sagen <Suhrkamp>, Frankfurt 2001, Seite 17):

Corona

Aus der hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen  uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
Es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es  ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Es ist (seither) immer an der Zeit, den ewig Gestrigen, den Demagogen und Holocaust-Leugnern, den alten und neuen Faschisten die Stirn zu bieten - besonders hier bei uns, in dem Land, wo der Tod ein Meister aus Deutschland war, und wo heute ein perfides Subjekt, das man mit Fug und Recht Faschist nennen darf, von einem Mahnmal der Schande inmitten Berlins redet.

Ich gestatte mir, eine meiner mohngeschuldeten Impressionen anzufügen (Die Mohnfrau, Koblenz 2010, Seite 22):


Mohn

Der Mohn ist wie ein kurzes Lachen,
ein Wimpernschlag -
er strahlt
und prahlt,
malt jeden Tag
und stirbt schon beim Erwachen.

Erblüht zu voller Pracht
vergeht er über Nacht
und hält nicht ein Versprechen.

Er taugt als Sinnbild kaum,
gleicht eher einem Traum,
an dem die Träumer dann zerbrechen.

 

Nocheinmal die Enkel und ihre Großeltern

 

Bevor wir uns der Politik im engeren Sinne zuwenden, zuletzt noch einmal ein Ausflug in die großväterlich den EnkelInnen zugewandte Welt. Mit O'Bär an Enkel Samuel hat Peter Härtling (auch mir) ein Vermächtnis hinterlassen, dass so ungemein deutlich macht, dass es offenkundig eine Liebe gibt, für die es tatsächlich keine Worte zu geben scheint. Erst mit dieser Erkenntnis wächst sich die liebevolle Verbundenheit zwischen Großeltern und Enkeln ins Umermessliche aus. Dies kann und soll die Verbundenheit zwischen Eltern und Kindern nicht schmäler. Es liegt auf der Hand, dass die Liebe zu den Enkelkindern nur über die eigenen Kinder geht. Also auch den Kindern lockt damit die Verheißung irgendwann im Älterwerden - im Großelternwerden - das Kostbare und das Köstliche am generativen Geschehen gleichermaßen zu genießen. Am Rande sei bemerkt, warum Vieles für den mühelosen online-Zugriff auf das hier zwischen zwei Buchdeckel gepackte spricht. Denn online kann man sich Zugang zu allen verlinkten Beiträgen verschaffen, so auch zu den weiteren Verlautbarungen von O'Bär an Samuel!

 

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 Veröffentlicht: 17. Mai 2023

Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL II

Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)

Der zweite Brief (hier geht's zum ersten Brief)

O’Bär und den Kleinen Herrn trennen einige hundert Kilometer voneinander. O’Bär – so mitten in den Siebzigern – ist nicht mehr ganz fit. Im ersten Brief konnten wir davon eine Ahnung bekommen. Briefe sind eine Möglichkeit schriftlich nachvollziehbaren Kontakt zu halten – im Übrigen nicht nur über erhebliche räumliche Distanz, sondern auch die Zeiten überdauernd. Wie O’Bär bereits im ersten Brief andeutet, manche Botschaft wird der Kleine Herr erst später verstehen. Und dennoch mischen sich in den Briefen des alten, dicken Opas Episodisches mit Grundsätzlichem, wie der zweite Brief dann auch zu erkennen gibt (Hervorhebungen, FJWR):

„Liebster Samuel, mein Kleiner Herr, ein Krokodil ist auf Dich losgegangen, und Du bist fürchterlich erschrocken. So nah wie Du habe ich noch nie ein Krokodil gesehen. Immerhin beruhigst Du Dich nun, schreibt Deine Mama, mit der dicken Glasscheibe, die Dich von dem riesigen Tier trennte. Manchmal brauchen wir solche Scheiben zwischen der Welt und uns. Aber wie soll ich Dir ‚Welt‘ erklären? Ich denke nicht daran, ich warte lieber, bis Du so weit bist, mir Welt erklären zu können.
Bald kommst Du zu Besuch. Ich werde Dir nicht zeigen, wie sehr ich mich nach Dir sehne. Du sollst es nicht erfahren – ich sehe mich vor! O’Bär, der mit Dir spielt, Quatsch macht, sich manchmal brummend in seine Höhle zurückzieht, O’Bär, genau genommen eine Erfindung von Dir, O’Bär ist inzwischen vorhanden. Warum ich Dich liebe? (<--bitte anklicken!) Das kann ich nur schwer für mich selber begründen. Mir fällt dazu ein pathetischer, beinahe biblischer Satz ein: Ich habe Dich als meinen Anfang erkannt. Du wiederholst auf wunderbare Weise, was ich im Laufe vieler Jahre vergaß. Du findest und erfindest Wörter, und mir gehen sie verloren. Ich hoffe, mein lieber Kleiner Herr, dass Dein Spiel und Deine Anstrengung mir auf die Sprünge helfen. So wie ich Dir nun in Sachen Krokodil beistehen möchte. Die Angst – obwohl die dicke Scheibe Dich von dem Ungeheuer trennte – wird Dir vergehen, wenn Du es umnennst, zum Beispiel in Krikodol, in eine lächerliche Erscheinung, die nicht nur im Meerwasser, sondern im Mundwasser schwimmt. Ein geschrumpftes Monster, das meinem Samuel nichts anhaben kann. Was sagst Du jetzt? Wahrscheinlich müssen wir gemeinsam ein Krikodol neu malen, mit einem Körper wie eine Odolflasche und klein, sehr klein! Nicht so groß wie das Krokodil bei Hagenbeck.

Ich sehe Dich auf dem Foto, das Deine Mama von Dir in der Schrecksekunde gemacht hat, und ich denke wieder an Dein Wort, das Du mir geschenkt hast, an >alleinde<. Ganz alleinde stehst Du da. Ich kann dieses Alleinsein mit Dir teilen, das durch Dein >d< so groß und leer wird, wie Einsamkeit nur sein kann.
Heute, nachdem wir mit Deiner Mama telefonierten, als Du mir O’Bär ins Ohr riefst, ging ich rund ums Haus spazieren, meine Beine schmerzten, kamen mir wiederholt vor wie Hölzer ohne Mark, und ich dachte an Dich, wie Du durchs Zimmer hüpfst und rufst: ‚Hoppse, poppse, hoppse, poppse‘. Da flüsterte ich vor mich hin – hätte mich jemand humpeln gesehen und mein Gemurmel gehört, der hätte mich für verrückt gehalten. Du bestimmt nicht.
So schloss ich gestern meinen Brief. Heute früh sitze ich mit dummem Kopf nach einer üblen Nacht und versuche, Dir zu erklären, weshalb ich so schlecht geschlafen habe. Ich höre auch im Schlaf nicht auf zu denken, denke Sätze, die ich schreiben könnte. Nur bin ich mit den Sätzen nie zufrieden, fühle mich unglücklich, und die Wörter beginnen zu Knoten zu werden, die Sätze knäulen sich, ich bewege sie hin und her, ohne dass ich mich an ihren Sinn erinnern kann.
Oma und ich fahren jetzt zum Markt. Wir haben dort schon ein paar Wochen gefehlt und werden sicher vom Käsemann und der Gemüsefrau gefragt, wo wir gewesen sind. Stell Dir vor, manchmal erkundigen sie sich auch nach Dir, nach dem Kleinen Herrn, der so kundig Käse verkostete und eine einzige Kartoffel kaufen wollte.
Tschau, tschau, ruft Dir Dein O`Bär zu.

Lieber Peter Härtling, Dein Samuel müsste unterdessen noch nicht ganz zwanzig sein. Am 10. Juli jährt sich Dein Todestag zum sechsten Mal. Samuel war schon 2008 – bei Erscheinen von O’BÄR nicht mehr der jüngste Deiner EnkelInnen – Fanny ist neben Marie, Brigitta, Hannah, Paul und Frederik noch in Deine Widmung mitaufgenommen worden. 2017 war Samuel wohl so etwa 13 Jahre alt. Natürlich war der Verlust von O’Bär damals ganz sicher ein tiefgreifender und von sehr schmerzhafter Natur. Aber als Wärmespender und –tauscher bist Du in der Welt geblieben. Und Deine Vermutung wird sich gewiss erfüllen, dass Samuel – und gewiss die anderen EnkelInnen – Dich vielleicht mehr und mehr verstehen werden. Aber es wird wohl mehr sein, was da fließen kann und darf. Deine Kollegin Helga Schubert hat auf unvergleichliche Weise auf den Punkt gebracht, warum Deine EnkelInnen – wenn sie Dich erinnern – mit einem prall gefüllten Rucksack ihren Lebensweg erwandern können:

Auf die Frage nach der Freude (nach ihrem Tod) antwortet Helga Schubert: „Ich bin mir sicher, dass die mir nahen und wichtigen Menschen, auch nach ihrem Tod, in mir bleiben. Sie werden mich sehen und mich zu schützen versuchen, mich warnen und trösten, obwohl sie körperlich tot sind. Das würde aber auch bedeuten, und das habe ich noch nie bedacht, dass ich nach meinem Tod auch noch in den Menschen bleibe, denen ich nah und wichtig war, dass ich sie nun beschützen, warnen und trösten kann, wenn sie das wollen, auch wenn meine sterbliche Hülle, zu Asche verwandelt, schon lange auf dem wunderschönen Friedhof neben dem überlebensgroßen braunen Holzkreuz in der Erde ist. Darauf freue ich mich: auf eine Verbundenheit über den Tod hinaus, auf Leichtigkeit und Wohlwollen. Alle Schwere ist dann weg."

Daher danke ich Dir, lieber Peter Härtling, dafür, dass Du all die Sätze aufgeschrieben hast; dass Du Dich nicht hast irritieren lassen von den Knoten, in die sich Deine Wörter verknäult haben. Wir entziffern den Sinn Deiner Wörter – so, und dies will ich für Dich hoffen, wie es Samuel und alle Deine EnkelInnen vermutlich tun. Vielleicht gelingt es Dir im Elysium mit Dir ins Reine zu kommen. Du bist nicht schuldig geworden. Als das verantwortliche, ideologisch versiffte Nazi-Dreckspack den Hass und die Unmenschlichkeit in eure Herzen und Hirne säten, warst Du ein kleiner Junge – zuletzt eben einmal dreizehn Jahre alt -, als das tausendjährige Reich im Sumpf seiner Verbrechen und Lügen versank. Und es ist Dir zu danken, dass wir den heutigen hirnlosen, geschichtsvergessenen Verleugnern deutscher Schuld Deine Schriften entgegenschleudern können.

Teil III zu O'BÄR AN ENKEL SAMUEL hier!

 

Erich Kästners Marschliedchen

Ich bin ein großer Anhänger und Verehrer Erich Kästners. Er schreibt einfach, klar, prägnant und immer auf den Punkt. Und er zwingt uns alle miteinander, politisch Farbe zu bekennen. So stelle ich die nachfolgenden Überlegungen – samt ihrer lyrischen Absonderungen – in den Kontext meiner Selbst-  und Weltbeobachtung! Die nachstehende Adaption seines Marschliedchens zeigt einerseits, wie sehr wir Farbe bekennen müssen und wie erschreckend die Kontinuität mit Blick auf abgründige politische Dummheit ist – braun darf politisch niemals mehr politikmächtig und – gestaltend werden! Mir kommt in diesem Zusammenhang Jan Philipp Reentsmas arrogante, aber offenkundig doch so treffliche Sentenz von der unaufhebbaren Uninformiertheit der Mehrheit in den Sinn. Erich Kästner hat sich geirrt. Er hat - zumindest in seinem Marschliedchen – die ungeheure, kategorial verhängte genozidale Potenz des Faschismus unterschätzt. Ich hoffe zumindest, dass Reemtsma sich gleichermaßen irrt. AfD-Positionen in ihren faschistischen Wurzeln dürfen in Deutschland nie wieder mehrheitsfähig werden. Keine Stimme der AfD!

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 Veröffentlicht: 16. Januar 2022

Erich Kästner zu Ehren und uns zur Mahnung in Adaption seines Marschliedchens

Erich Kästners Marschliedchen wurde 1932 in der Weltbühne unter dem Titel "Denn ihr seid dumm" veröffentlicht. Ich habe versucht es zu aktualisieren- und war erstaunt, wie sehr Erich Kästner mit seinen Gedichten gegenwärtig ist. 1932 allerdings unterlag er leider - mit Blick, auf das, was da kam - einem fatalen Irrtum - das darf sich nicht wiederholen!

Das Marschliedchen (im Original)

Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen
In die Kasernen der Vergangenheit.
Glaubt nicht, dass wir uns wundern, wenn ihr schreit.
Denn was ihr denkt und tut, das ist zum Schreien.

Ihr kommt daher und lasst die Seele kochen.
Die Seele kocht, und die Vernunft erfriert.
Ihr liebt das Leben erst, wenn ihr marschiert,
Weil dann gesungen wird und nicht gesprochen.

Marschiert vor Prinzen, die erschüttert weinen:
Ihr findet doch nur als Parade statt!
Es heißt ja: Was man nicht im Kopfe hat,
Hat man gerechterweise in den Beinen.

Ihr liebt den Hass und wollt die Welt dran messen.
Ihr werft dem Tier im Menschen Futter hin,
Damit es wächst, das Tier tief in euch drin!
Das Tier im Menschen soll den Menschen fressen.

Ihr möchtet auf den Trümmern Rüben bauen
Und Kirchen und Kasernen wie noch nie.
Ihr sehnt euch heim zur alten Dynastie
Und möchtet Fideikommißbrot kauen.

Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärts drehen
Und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf.
Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf!
Nur eure Uhr wird nicht mehr richtiggehen.

Wie ihr's träumt, wird Deutschland nicht erwachen.
Denn ihr seid dumm und seid nicht auserwählt.
Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt:
Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!


Marschliedchen 2022 (FJWR)

Die Dummheit zog in Viererreihen (so zieht sie immer noch),
Heut schämt sich die Dummheit selbst der Dummen.
So dämlich wie ihr seid, mahnt sie euch zu verstummen
Statt Idioten gleich nach deutschem Wesen heut zu schreien.

Ihr kommt daher und wärmt die schalen Suppen,
In euren Schädeln haust ein brauner Geist,
Der euch verwirrt und alles mit sich reißt -
Nur nicht von euren Augen alle Schuppen!

Marschiert ihr nun in Chemnitz und in Halle…,
Ihr findet doch nur als Parade statt,
Denn das, was jeder da von euch im Kopfe hat,
Man nennt es Dum(pf)mheit wohl in jedem Falle!

Weil wieder predigt ihr den Hass
Und wollt die Menschheit spalten -
Statt schlicht an Recht und Ordnung euch zu halten,
Wähnt ihr das Volk zu sein und träumt vom völkisch-deutschen Pass!

Ihr habt die Trümmerwelt im deutschen Wahn vergessen,
Von Schuld und Sühne ist die Rede nie,
Ihr brüllt nach deutscher Größe selbstvergessen;
Ich hoff ihr schießt euch nur ins eigne Knie!

Ihr wollt die Uhren rückwärts drehen
Und stemmt euch gegen die Vernunft.
Dreht an der Uhr und doch: die Zukunft
wird euch als ewig gestrig sehen!

Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen,
Denn ihr bleibt dumm, nicht auserwählt!
Die Zeit ist nah, da man erzählt:
Das war’s: ein Staat ist mit Idioten (und auch der AfD) halt nicht zu machen!

 

„Melancholie ist der Überlebenskampf, den ein kluges Herz wagen muss:
Der Widerspruch zwischen begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung.“ (Wolf Biermann)

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 Veröffentlicht: 20. November 2022

Totensonntag - grauschattierte Impressionen mit Peter Sloterdijk und Wolf Biermann

Fraglos Grau: Die Kraft und Konzentration der Lyrik – alle Buntheit mündet in einer Verdichtung zu einem endlos gestuften Grau

Fraglos

Immer wenn die Welt sich offenbart,
Dann werde ich ganz still,
Weil meine Spur, die zielbestimmte Fahrt
Sich wendet und sich ändern will.
Immer wenn sich Größe zeigt,
Verwandle ich mich leise.
Wenn sich ein Irren hin zum Ende neigt,
Werd ich – trotz blinder Flecken – manchmal weise.
Wenn leise Klänge sich verdichten
Und großer Klang entsteht,
Wenn Fragen sich in Fragen lichten,
Ein Hauch von Weisheit uns umweht,
Wenn Farben sich vermischen,
Und Buntheit sich in Grau ergeht,
Wenn aller Hochmut dann verblichen,
Am Horizont ein Hoffen steht,
Dann geh ich auf die Reise
Und frage nicht mehr viel.
Ich wandle einfach still und leise,
mit sanfter Kraft – auch ohne Ziel!

Was ich schon immer wusste, was jetzt auch Peter Sloterdijk weiß: Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre, Berlin 2022

„Das Gleichgültige, das Trostlose, das Ungefähre, das Ungewisse, das Unentschiedene, das Unbestimmte, das in die Länge Gezogene, das Immergleiche, das Eindimensionale, das Tendenzlose, das Irrelevante, das Amorphe, das Nichtssagende, das Bedeckte, das Nebelhafte, das Monotone, das Zweifelhafte, das Mehrdeutige, das leicht Widerwärtige, das in ferner Vorzeit Versunkene, das von Spinnweben Bedeckte, das Aschenfarbige, das Archivarische, das Novembrige, das Februarische – es ist nicht wenig, was unter dem gleichen fahlen Segel über die Gewässer der Alltäglichkeit fährt (Peter Sloterdijk, a.a.O., Seite 10).“

Das ist noch nicht der nachhaltige Nährboden für eine Depression! Es reicht auch nicht – wie Peter Sloterdijk schreibt – „dass Alltagsschwere sich ausbreitet und die Empfindung überhand nimmt, das gewöhnliche Spiel der farblichen Valeurs sei außer Kraft gesetzt.“ Sogar dort sind Zweifel angezeigt, wo es jene „Momente gibt, in denen das Grau, als visuelles Datum und Stimmung in seiner Nähe zur Monotonie die Oberhand gewinnt“. Gleichwohl stimme ich ihm zu, wenn er fortführt, dass – wer im existentiellen Tief versinke – „spürt, wie aus chromatischen Kontrasten die Spannung entweicht: Die Kolorite der Dinge ringsum rinnen in einer neutralen All-Farbe, einem empfundenen Dunkelgrau zusammen (a.a.O., Seite 11).“

Der unterdessen 75jährige Peter Sloterdijk kommt im Prolog zu seiner Grau-Studie unter dem Titel Unter fahlem Segel über die Gewässer der Gewöhnlichkeit zu folgendem Resümee:

„Die polychrome Idylle trügt; die zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät. Aus der Summe der Einzelfarben entsteht, wie Experimente zeigen, keine leuchtende Allfarbe, vielmehr ergibt sich ein stumpfes bräunliches Grau (a.a.O., Seite 19).“

Nein, die Regenbogengesellschaft können wir nicht erzwingen. Wir können aber das vielschichtige Grau verteidigen, das den Typus unserer westlichen Demokratie gewiss zur besten aller Welten geraten ließ/lässt, die jemals auf dieser Erde Gestalt angenommen hat:

„Grau ist der maßgebliche Farbwert der Gegenwart. In tausend Stufen deklinierbar, erschreckt diese Farbe die Betrachter nicht mehr wie vormals die weiße Dämonie, doch besitzt sie auch nicht die mobilisierende Kraft, die dem Roten und Schwarzen in den Tagen ihrer hohen Attraktorstärke zukam …] Keine Politik der Pigmente wird Graues aus seiner Lethargie reißen, wenn sie auch neugrüne und altrote Kokarden aufsteckt. Jenseits von Gefallen und Mißfallen gibt Grau den Zeitgenossen unserer Tage die farblos Allfarbe der entfremdeten Freiheit zu sehen (a.a.O., Seite 20).“

Oder wie Wolf Biermann meint:

„Melancholie ist der Überlebenskampf, den ein kluges Herz wagen muss:
Der Widerspruch zwischen begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung.“

Grenzgänger

Wenn mein Herz zerfließt
Und alles in mir schreit,
Wenn aller Regen fließt
Und Leben wurzelt breit.
Wenn mein Herz vor lauter Freude weit
Und meine Arme voller Liebe breit,
Wenn alle Unterschiede dann zerfließen
Und Phantasien über alle Ziele schießen.
Wenn ja und aber mich erheitern
Und alle Blicke Horizont erweitern,
Wenn Kleinmut meinen Großmut weckt
Und Liebe unsre Wunden leckt,
Wenn es dann läuft,
Und Sonne meine Seele wärmt,
Und wenn mein Selbst in Liebe sich ersäuft,
Vor lauter Wohlsein nur noch schwärmt,
Wenn letzte Tage winken,
Und Frühjahr sich mit Herbst vermischt,
Wenn Hoffnung und Erfüllung ineinander sinken
Und letzter Unterschied sich dann verwischt,
Wenn Buntes sich in Grau ergeht,
Dann geh ich weg und komme heim
Und ahne jene Grenzen,
Die jenseits bleiben und geheim
Für alle – vor Gräbern und vor Kränzen.

 

Aber dabei bleiben wir nicht stehen - wir vergehen erst, wenn wir selbst nicht mehr vor Gräbern und vor Kränzen stehen. Wie sehr wir dann vergehen, hängt davon ab, ob sich noch jemand vor unseren Gräbern versammelt und dabei Gedanken hegt, in denen wir ihm nahekommen. Also brechen wir noch einmal auf. Nichts entrüstet die Profiteure der sogenannten Friedensrendite so sehr wie die Missachtung des zivilisatorischen Minimums. Allerdings liegen die Hürden für ein solches Minimum - betrachtet man die Zeitenläufte - enorm hoch: Sie bedeuten für unsere Gesellschaften die konsequente strukturelle Aufstellung im Sinne von Gewaltenteilung, Rechststaatlichkeit sowie die zeitlich begrenzte Vergabe politischer Ämter. Will Gesellschaft darüber hinaus Bestand haben - im Sinne einer mehrheitlichen Identifikation der in ihr lebenden Mitglieder mit ihr - muss nicht nur die Gewährleistung sozialstaatlicher Prinzipien hinzukommen.

 

Der Friedensmaler von Frederik Vahle

Die eigenen Kinder waren schon auf der Welt, Vietnam sozusagen im Nacken und Afghanistan vor Augen, ebenso wie der Wahnsinn auf dem Balkan, war doch für uns (Nachkriegs-Sozialisierten) überdeutlich, dass alles ohne eine Friedensordnung, die allen Luft zum Atmen gewährte, nichts sei. Nun angesichts des unfassbaren Angriffskriegs Rußlands auf die Ukraine, erreicht uns einmal mehr die Infragestellung genau dieser sich entwickelnden Friedensordnung (KSZE-validiert und pacta-sunt-servanda-geschuldet mit dem Blick auf den Zerfall des Warschauer Pakts und der Sowjetunion). Carl Schmitt ist wieder in aller Munde im Sinne eines Rückfalls weit hinter die UN-Menschenrechtscharta und das erreichte Niveau internationalen Rechts. Dass die UN zu einem Papiertiger degeneriert ist allein der Hybris und der Missachtung internationaler Konventionen durch brutale Ego-Shooter geschuldet. In der Folge beginnt die hilflose Geste, die uns Frederik Vahle mit der heilsamen Vermischung individueller Dramen (... sein Vater fiel im Krieg) mit der menschenverachtenden Machtpolitik entwurzelter Despoten jenseits des zivilisatorischen Minimums nahelegt. Der Muttersohn, der ich immer war (und immer noch bin) kann dieses Lied kaum singen, ohne dass meine Stimme in Tränen zu ersticken droht.

 

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 Veröffentlicht: 23. August 2023

Der Friedensmaler von Frederik Vahle (1983)

Da war ein kleiner Junge, und der lief hinein ins Haus
und packte in der Küche seine Zeichensachen aus.
Er saß da, wo man immer den Himmel sehen kann,
nahm Pinsel und nahm Farben und fing zu malen an.

Er malte in den Himmel eine große Sonne rein.
Darunter auch zwei Menschen, einen groß …
    und einen klein.
Und neben diesen Menschen fing er zu schreiben an.
Er schrieb mit sehr viel Mühe, dass man’s
gut lesen kann.

Immer soll die Sonne scheinen!
Immer soll der Himmel blau sein!
Immer soll Mutter da sein!
Und immer auch ich!

Aus diesen Kinderworten, da hat zu später Nacht
`ne Frau mit viel Musik im Kopf ein kleines Lied gemacht.
Das Lied kam bis nach Frankreich. Yvonne
    und auch Madeleine,
die sangen es zusammen sehr deutlich und sehr schön.

Gardez-nous le soleil!
Gardez-nous le bleu du ciel!
Gardez-nous ma mère en vie!
Gardez-moi mon avenir!

Das Lied kam nach Amerika und über den Ozean.
Ein Sänger, der Pete Seeger hieß, der fing zu singen an.
Er sang für den Frieden in der Welt,
    für den Frieden in USA.
Und die Kinder sangen es alle mit, weil das
    auch ihr Lied war.

May there always be sunshine!
May there always be blue skies!
May there always be mama!
May there always be me!

Doch einmal fragten die Leute: Wo lebt er,
    in welcher Stadt,
der Junge, der diese Worte zuerst geschrieben hat?
Der Junge lebt in Moskau. Sein Vater fiel im Krieg,
und er hatte in seiner Sprache die Welt
    und den Frieden lieb

Pust fsegda budjet sonze!
Pust fsegda budjet njeba!
Pust fsegda budjet mama!
Pust fsegda budu ja!

Immer soll die Sonne scheinen!
Immer soll der Himmel blau sein!
Immer soll Mutter da sein!
Und immer auch ich!


Eine Ergänzung und Aktualisierung aus gegebenen Zeiten

Doch in Moskau, da herrscht Putin mit Terror und Gewalt.
Er schickt die Söhne Russlands zu morden im Bruderland.
Er tötet auch die Kinder, wie einst die braunen Horden.
Und ehrt die Brust der Schergen mit blutgetränkten Orden.

Er träumt wie einst der Führer und Russland soll erstehn
und wird dabei zum Mörder, wir alle könn‘ es sehn.
Er faselt von Faschisten die Menschheit zu befrein -
ist selbst Faschist und sperrt die Freiheit ein.

Und wieder fragen die Leute: Wo lebt er
in welcher Stadt,
der Junge, der diese Worte wohl heut im Kopfe hat?
Der Junge lebt in Kiew. Sein Vater fiel im Krieg
und er hat in seiner Sprache die Welt
und den russischen Jungen lieb.

So besinnt euch ihr Despoten – ihr Despoten überall:
Welche Ziele sind das Leben von unseren Kindern wert?
Besiegt euch selbst und den Terror auf der weiten Welt
und lasst die Waffen schweigen, damit der Frieden hält.

Endlich soll die Sonne scheinen,
endlich soll’n die Waffen schweigen,
endlich soll’n die Kinder frei sein
von Angst und auch von Not.

Lasst uns aufstehn und uns wehren!
Lasst uns sehen und erklären
wer die Freiheit hier bedroht
mit Gewalt und Tod!!!

 

 

Dazu passt im Sinne einer existentiellen Besinnung natürlich:

Nix mitnehma

 

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 Veröffentlicht: 05. März 2023

Georg Ringsgwandl - Nix mitnehma

Seit Jahrzehnten bin ich ein Verehrer und Anhänger von Georg Ringsgwandl (siehe: Nix mitnehma und die Sterbe-App). Des Bayrischen bin ich nicht mächtig. Und so wird meine Adaption mit Blick auf Wladimir Putin eher holprig daherkommen. Gleichwohl könnte ich mir vorstellen, dass eine entsprechende Korrektur und Erweiterung durch den Meister höchstselbst eine sinnvolle Ergänzung bedeuten könnten. Andererseits kann der Georg Ringsgewandl das so unglaublich viel besser, dass mir in aller Bescheidenheit nur die Feststellung bleibt, dass er den Putins, Assads, Lukaschenkos, Trumps, Bolzenaros und Orbans ja mit Nix mitnehma ohnehin die Leviten liest - dazu bedarf es eigentlich nicht einer einzigen Zeile der Ergänzung! Georg Ringsgwandl in der NDR-Talk-Runde (:-)

Zuerst Georg Ringsgwandls Nix mitnehma im Original- und Ursprungstext (und dann eine kleine zeitgeschichtlich geschuldtete Ergänzung meinerseits):


Nix mitnehma

Hey, du konnst Ministerpräsident sei von am Staat
Der im Rüstungsgschäft prozentual die Finger hot
Du konnst Kardinal sei, schee feierlich und fett
Oder frommer Pfarrer, Zölibat und Doppelbett

Des konnst du net mitnehma
Naa, des konnst du net mitnehma
Frog amoi an Teife, frog an liabn Gott
Und der sogt - net mitnehma!

Hey, du konnst ein Sportler sei, du hoitst di fit mit Isostar
Oder du bist ein fauler Hund und flackst nackert an der Isar
Du konnst Börsenschwindler sei mit Immobilien in da Schweiz
Oder Hausbesitzerin, zafressn fast vom Geiz

Do konnst du nix mitnehma
Naa, do konnst du nix mitnehma
Frog amoi an Teife, jammert zum liabn gott
Und der sogt: hey, nix mitnehma!

Da oane trinkt aus da Moccatass, da anda ausm Humpn
Da oane geht in Seide, da anda geht in Lumpn
Da oane, der frißt hartes Brot, da anda Kaviar
Da oa fahrt mit dem Radl, und da anda Jaguar

Doch den derf er net mitnehma
Naa, den derf er net mitnehma
Und er winselt zwar zum Deife
Und er jammert zum liabn Gott
Doch der sogt: hey, net mitnehma!

Hey, du konnst Experte sei für Panzer oder Flak
Oder drahst jedn Pfenning um und bist a geizigs Gnack
Hey, du konnst im Superschwergewicht Boxweltmoasta sei
Oder hast an Würschtlstand draußd in Berg am Laim

Doch den derfst du net mitnehma
Naa, den derfst du net mitnehma
Frog amoi an Deifi
Frog an liabn Gott
Net mitnehma!

Du kannst technisch fit sein, zum Beispiel Ingenieur
Oder Menschenkenner, Psychologe oder Friseur
Hey, du kannst ein Popstar sein mit drei goldenen LP
Oder Fernsehquizmaster mit einem teuren Toupe'

Doch des derfst du net mitnehma
Naa des derfst du net mitnehma
Wuislt nur zum Deife
Winselt zum liabn Gott
Und der sogt: Na, net mitnehma!

Hey, du konnst ein Bäcker sei, der guate Brezn backt
Oder bist ein Metzger, der fette Dreckssei schlacht
Ja du konnst ein Säufer sei, im Mantl a Flaschn Sprit
Oder Zeuge Jehova, Mormone oder Schiit

Do konnst du nix mitnehma
Naa, do konnst du nix mitnehma
Jammert nur zum Deifi
Bettelt an liabn Gott
Und er sogt: Nix mitnehma!



Allen Despoten und Gewaltherrschern dieser Welt (Ergänzung FJWR)

Hey, du konnst der Chef sei im Kreml,
der treimt von der Rus,
du konnst den Kilometer im Quadrat
bezohln mit dem Lebn von 1000 Soldat,
des konnst du net mitnehma,
naa, des konnst du net mitnehma
Frog omoi an Deifi, frog an liabn Gott,
und der sogt –net mitnehma!

Hey, du konnst di bejubln lassa von die Dummen,
du konnst horten im Bunker Milliardensummen,
du konnst Präsident sei, mit nem Dutzend
Oligarch im fetten Oarsch!
Die konnst du net mitnehma,
naa, die konnst du net mitnehma.
Frog omoi an Deifi, frog an liabn Gott,
und der sogt –net mitnehma!

Hey, du konnst verzölln vom Feind, dem Faschist,
du mogst lüagn, betrüagn wie an Sophist,
du konnst herrschen mit Luag und mit Truag,
mit Gulag und brutaler Gewalt.
Frog omoi an Deifi, frog an liabn Gott:
Wie vuile seit Louis seize sahn das Schafott?

Schafott reimt sich auf Gott, den liabn, liabn Gott
und nett auf Patriarch - Kyrill den falschen Arsch.
Den konnst du mitnehma - auf's grausliche Schafott
mitnehma - mitnehma - mitnehma - mitnehma
und beten mit ihm oll die Weil zum liabn, liabn Gott.

 

Wir können bitten, flehen, drohen, uns entrüsten, uns fassungslos zeigen angesichts der anhaltenden russischen Aggression gegenüber der Ukraine - nur eines dürfen wir nicht: Hinnehmen, dass Despoten - wie weiland 1938/39 Hitler und Stalin und heute Putin - das Recht des Stärkeren rücksichtslos und brutal durchsetzen und uns in die Steinzeit zurückbomben jenseits der UN-Menschenrechtscharta und allen Versuchen die Konflikte von staatlichen Kontrahenten auf der Grundlage internationalen Rechts zu lösen. Dies würde den Rückfall in ein fortgesetztes 

 

Histalieren bedeuten:

 

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 Veröffentlicht: 21. März 2022

H I S T A L I T L E R N  - ein Anagramm

Ich hatte einen Freund – früh in der Schule bis in die Achtziger;
Irgendwann war der erwachsen.
Wir hingegen traten an in Bonn - im Hofgarten - gegen das Gleichgewicht des Schreckens.

Dem misstraute auch er und setzte auf Stahlbeton!
In den Fördernischen des Bundes
Und unter entstehenden Neubauten verschwanden Millionen.
Wir lachten uns einen Ast, an dem wir gleichzeitig sägten.

In den Bunkern tauschte und erneuerte man Notrationen -
Doch irgendwann gab auch der Freund auf und verfrühstückte mit uns die Friedensrendite.
Die Kriegseltern selbst – vor hundert Jahren in das Minenfeld eines verfeindeten Europa hineingeboren – mussten nicht einsitzen!
Die Bunker verfielen und Wehrhaftigkeit zog ein in das Wörterbuch des Unmenschen.

Der Unmensch hingegen marschiert ein in den Vorhof des Westens.
Dem Vorhof maßloser russischer Großmannssucht haucht er nun sowjetvergifteten Odem ein
mit seiner hochgerüsteten Kriegsmaschine.

Eine von Hybris geschlagene Regionalmacht mit militärischem Krebsgeschwulst
– karzinös bis in die die letzten Hirnareale –
verbrennt Russlands Schätze und seine Seele.

H I S T A L I T L E R N  nennt man jene Doktrin – praktiziert von Hitler und Stalin gleichermaßen:
Polizeistaat und Friedhofsruhe nach innen –
Kriegsterror und Ausdehnung der Friedhöfe nach außen!

Wer vermag denn hier noch mit Herz und Verstand Gut und Böse zu leugnen?
Wie gewissenlos und machtversessen – Raketen und Panzer gegen wehrlose Bürger eines freien Landes zu senden?
Und dann noch bass erstaunt sein, dass die ukrainische Post Leichensäcke Richtung Moskau verschickt!?

Steht auf, Ihr russischen Mütter und zündet die Bomben in Euch!
An Eurem Gift und Eurer Galle mögen Putin und seine Generäle verrecken.
Steh auf, russisches Volk und jagt sie zur Hölle – die Oligarchen,
Die Euch betrügen um Euren Reichtum und Eure Ehre.

Ach was – wir senden Flugblätter über Russland, wie einst die Weiße Rose über Deutschland!
Und fragen: Seid ihr noch jenes Kulturvolk, dessen ihr werdet gerühmt?
Oder ergebt ihr euch wehrlos jener verantwortungslosen, von dunklen Trieben geleiteten Herrscherclique?

Schämt ihr euch nicht eurer Regierung?
Ahnt ihr denn nicht das Ausmaß der Schmach,
Das über euch und eure Kinder wird kommen,
Wenn einst der Schleier von euren Augen fällt?

Seid ihr denn in eurem tiefsten Wesen schon so korrumpiert und zerfallen,
Dass ihr – auch ohne eine Hand nur zu rühren – euren freien Willen preisgebt?
Die Weiße Rose war gnadenlos mit einer geistlosen und feigen Masse,
Und meinte, sie verdiene den Untergang.

Wenn jeder warte, bis der andere anfange,
Dann rückten die Götter der Rache näher und näher.
Daher müsse jeder einzelne sich wehren – so viel er könne;
Arbeiten wider die Geißel der Menschheit,
Wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates.

Seht das leuchtende Beispiel Marina Owsjannikowas;
Leistet passiven Widerstand,
Widerstand, wo immer Ihr auch seid,
Verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine,
Ehe es zu spät ist!
Ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind,
Und ehe die Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist.

Vergesst nicht, dass jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt!

Die letzten fünf Absätze in Anlehung an das erste Flugblatt der Weißen Rose!

Vielleicht sehen aber viele RussInnen die gegenwärtige Entwicklung voller Dankbarkeit - ähnlich, wie Natasha from Russia?

 

Die Freundschaft und der Krieg

Der Dissens über die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine zehrte seinerzeit auch an lange gepflegten und gehegten Freundschaften. Über Monate versuchten wir wechselseitig Verständnis füreinander zu finden – selbst Konstantin Wecker musste herhalten, um den Dissens zu befeuern bzw. zu schlichten.

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Veröffentlicht: 11. September 2022

Die Freundschaft und der Krieg

Freundschaft ist ein eigenes Themenfeld, über das Arnold Retzer sehr weise und anregend reflektiert. Der Krieg ist ein anderes Themenfeld, über das ich nur insofern philosophieren mag, als danach zu fragen ist, ob er als geächtetes Phänomen gleichwohl in einem zu bestimmenden Bedingungsfeld nicht nur eine Option, sondern – sofern man bereit ist zu akzeptieren, dass Menschen sich nicht jederzeit und bedingungslos einer Zwangs- und Gewalt- und Fremdherrschaft beugen müssen –möglicherweise eine ultima ratio sein kann?

Einige Bemerkungen zum Phänomen der Freundschaft: Retzer holt weit aus und bezieht sich in seinen Unterscheidungen von Freundschaft auf Aristoteles, der die nützliche Freundschaft von der angenehmen oder Lustfreundschaft abgrenzt, um schließlich darauf hinzuweisen, dass wir – mit Blick auf eine lebenslange Freundschaft – möglicherweise in erster Linie die gute oder Tugendfreundschaft meinen könnten:

„Nur in dieser Freundschaft ist der Freund nicht Mittel zum Zweck und unterliegt denselben Kriterien wie der Selbstbezug. Sie beansprucht Zeit und realisiert sich im praktischen Zusammenleben.“

Retzer betont, das Wohlwollen nicht genüge, sondern Wohltaten darüber hinaus nötig seien. Er greift bei seinen Reflexionen durchaus nach den Sternen, wenn er im Sinne einer „teilhabenden und teilnehmenden Praxis der Freundschaft“ den Begriff der Wahrhaftigkeit einführt: In der Freundschaft setze ich mich an die Stelle des Freundes und er sich an meine.“ Sich nichts vorzumachen sei dann der Kern der Wahrhaftigkeit: „Ein Einlassen auf den Eigensinn des Tuns des Freundes zeigt sich als anteilnehmendes Interesse beim Miteinander-Reden im Zuhören und Nachfragen.“ Arnold Retzer geht in der Folge auf das Gespräch als Kernphänomen einer tätigen Freundschaft ein:

„Indem die Freunde etwas zur Sprache bringen, entbinden sie sich vom bis dahin unsagbaren ‚Eigenen‘ und machen es zu etwas Teilbarem und (in den Grenzen der Freundschaft) Öffentlichem. Wenn das (Miteinander-)Sprechen das spezifisch Menschliche ist, vermenschlichen wir, indem wir sprechen, sowohl das, was in der Welt ist, als auch das, was in uns ist. Wir bringen die Welt zu uns und uns in die Welt. Die Freundschaft ist ein geeigneter Ort, beides zu ermöglichen. Indem Freunde sich im Gespräch mitteilen, eignen sie sich ihre eigene Lebensgeschichte selbstreflexiv an und machen sich Tatsachen ihres Lebens zu Eigen. Freundschaftliches Mitteilen ist die Bereitschaft, sich selbst verständlich machen zu wollen.“

„Sich selbst verständlich machen wollen.“ Könnten hier möglicherweise auch Grenzen von Freundschaft kenntlich werden?

Ein Versuch in der Absicht eine Antwort zu riskieren:

Kann man über Krieg sprechen, und kann die schmerzhafte Auseinandersetzung über die russische Aggression der Ukraine gegenüber den Grenzwert von Freundschaft tangieren? Zunächst einmal würde ich das verneinen! Allerdings kann es wohl der Fall sein, dass im Zuge der Auseinandersetzung, ob über Krieg überhaupt ein Diskurs möglich ist, Fragen aufgeworfen werden, die so grundlegend sind, dass ihre Beantwortung auch zu einer Belastung von Freundschaft gerät.

Die beiden einführenden Sätze führen bereits zu schwierigen sprachlichen Unklarheiten:

1. Nicht jeder würde den Diskurs über die Frage von Krieg und Frieden als schmerzhaft begreifen wollen.

2. Die Rede von einer russischen Aggression wird gleichermaßen nicht allseits geteilt und taugt bereits dazu Kontroversen auszulösen:

Die informierte und kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Krieg in Osteuropa bereitet vielen Menschen ein ausgeprägtes Unbehagen, weil sie grundsätzlich der Auffassung sind, dass die Idee, Krieg als die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln zu begreifen (Carl von Clausewitz) kategorisch abzulehnen ist. Der Dissens im konkreten Fall der Ukraine wird dadurch scharf gestellt, dass viele innerhalb dieses Diskurses die einseitige russische Aggression der Ukraine gegenüber zwar – anders als Putin selbst – als kriegerische Handlung sehen; eine kriegerische Handlung im Übrigen, die bestehende Verträge und das Völkerrecht kategorisch missachtet! Dies bringt sie in die Situation ihre eigene Position an der Frage auszurichten, wie in dieser strukturellen Asymmetrie das Widerstands- und Selbstverteidigungsrecht eines willkürlich und widerrechtlich Attackierten zu bewerten istMacht es einen Unterschied, ob sich jemand verteidigt, weil ihn eine willkürliche Aggression zu einer Antwort zwingt?

Ich selbst beziehe mich in meinen dazu veröffentlichen Beiträgen zu einer grundsätzlichen Beantwortung dieser Frage auf das philosophisch und ethisch ausführlich begründete Widerstandsrecht – unter Einschluss des sogenannten Tyrannenmords (Carlo Schmid, Ger van Roon, Stufenmodell nach Klaus Gotto, Hans-Günther Hockerts und Konrad Repgen).

Eine grundsätzliche Kontroverse ergibt sich aus dem Bekenntnis zu einer pazifistischen Grundhaltung – radikal interpretiert mit Blick auf die kategorische Ablehnung jeglicher Gewalt und zwar in Absehung jeglicher situativ variierender Ausgangssituationen. Selbst wenn ich diese Haltung versuche grundsätzlich zu respektieren, vermag ich allerdings nicht nachzuvollziehen, wie es jemandem „damit sehr gut gehen kann“.

Worin besteht der Dissens und was dabei könnte freundschaftsgefährdend sein? Muss man philosophisch gebildet sein oder reicht Herzensbildung? Slavoij Ziesek macht auf die Differenz zwischen dem Realen und der Realität aufmerksam – offenkundig rekurrierend auf Hegel: Dabei erscheint der Radikalpazifist – dem es damit auch noch sehr gut gehen kann – als jemand, der die – der seine – Realität auch für das Reale hält. Er - der Radikalpazifist - könnte zum Beispiel bemerken, es sei wohl nicht die Zeit der Friedliebenden, sondern die der Kriegstreiber. Die Mahner zum Frieden, darunter viele Intellektuelle, würden nicht gehört, scheinbar einfach ignoriert oder lächerlich gemacht: „Aggression führt zur Gegenaggression, mit Waffen in Milliardenhöhe befördert. Pazifismus wird zum Anachronismus degradiert, auch und vor allem von den einstmals Friedensbewegten. Das ist mehr als traurig und verleitet zur Resignation. Krieg und Gewalt waren und sind keine Lösung.“

Die reale Fiktion von Frieden und Gewaltfreiheit impliziert hier eine vollkommen differenzeinebnende Haltung gegenüber der Realität. Der Hinweis, dass Aggression zur Gegenaggression führt, ist zweifellos korrekt, verkennt aber in der gegebenen Situation – nach Mariupol, Butscha und Irpin (und wie die Orte der Massaker alle heißen mögen), dass wir es mit einem so ganz und gar offenkundigen Fall eines eindeutigen Völkerrechtsbruchs zu tun haben. Nicht wenige betrachten die Haltung der Radikalpazifisten als eine ausgeprägte Form des Zynismus, weil sie im Grunde genommen erwartet, dass die Geschundenen nun auch noch die rechte Wange hinhalten; zweifellos perfide alle, die angesichts des russischen Terrors Widerstand reklamieren und organisieren, kategorisch als "Kriegstreiber" zu denunzieren. Kaja Kallas – estnische Premierministerin bemerkt in einem Interview mit der ZEIT (37/22, S. 6) lapidar: Alles, was in der Ukraine geschehe, geschehe wegen der russischen Besatzung: „Hätte Russland die Ukraine nicht besetzt, dann würde es das Problem nicht geben.“

Der Entschluss zum Tyrannenmord – die Anwendung physischer Gewalt mit dem Ziel den Tyrannen Hitler zu töten – basierte auf dem Hintergrund einer christlichen Grundorientierung auf einer Güterabwägung. Das radikale Votum auch hier dem Gewaltverzicht unbedingten Vorrang einzuräumen, kommt einer fatalistischen Akzeptanz des Rechts des Stärkeren gleich. Diese Akzeptanz bedeutet gleichzeitig das Reale zu verleugnen, um der eigenen Realitätskonstruktion noch folgen zu können. Denn erst im weitergefassten realen Raum einer vertragsbasierten wechselseitigen – Vertrauen erst rechtfertigenden Grundhaltung – wird erkennbar, dass es einen Unterschied gibt zwischen der offenen, einseitigen Vorgehensweise eines skrupellosen Aggressors auf der einen Seite und dem Opfer dieser Aggression auf der anderen Seite. Vollends perfide gestaltet sich die Vorgehensweise eines vertragsbrüchigen Aggressors, wenn er – im Sinne des Rechts des Stärkeren – seine vermeintliche militärische Übermacht zur Geltung bringt – in Missachtung des Völkerrechts unter Inkaufnahme einer kriegsverbrecherischen Vorgehensweise (denn selbst in kriegerischen Auseinandersetzungen gelten Regeln – zum Beispiel im Sinne der Genfer Konvention). Die kriegerischen Handlungen und die Handlungen zu ihrer Abwehr finden wohlgemerkt auf ukrainischem Terrain statt, nicht auf russischem Hoheitsgebiet! Der Radikalpazifist will (und kann?) dies nicht sehen.

Werden in der Ukraine westliche Werte verteidigt?

Aus meiner Sicht lautet die Antwort uneingeschränkt: Ja! Die Ukraine hat sich nach 1991 – in dreißig Jahren als souveräner Staat – Schritt für Schritt – im Sinne westlichen Demokratieverständnisses – in die Richtung einer an Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit orientierten Demokratie bewegt. Dass dies den altstalinistischen Betonköpfen, die von einer Wiederauferstehung des sowjetischen Imperiums träumen, ein Dorn im Auge ist, muss nicht verwundern. Die in den fünfziger Jahren Geborenen konnten erst am 8. Mai 1985 erleben, dass ein deutscher Bundespräsident in der Gestalt Richard von Weizäckers von einem „Tag der Befreiung“ sprach - der Befreiung von einer Terror- und Gewaltherrschaft! Es ist beschämend, erleben zu müssen, dass Oskar Lafontaine die Grünen heute zur „schlimmsten Kriegspartei im deutschen Bundestag“ erklärt und Äußerungen unserer Außenministerin Annalena Baerbock mit dem Etikett „faschistoid“ versieht. Hier liegt des Pudels Kern. Und ich werde nicht müde immer wieder darauf hinzuweisen, dass sich Russland seinerseits Schritt für Schritt zu einem faschistoiden Terrorregime entwickelt hat. Und dies ist nicht billig, sondern die Analogien zur Vorgehensweise Nazi-Deutschlands springen jedem aufmerksamen Beobachter ins Auge. Nochmals:

  • Russland weist im Inneren mehr und mehr Parallelen zum Faschismus deutscher Lesart auf: Gleichschaltung der Medien; Eliminierung jeglicher Opposition – deren Verfolgung unter Bedrohung von Leib und Leben (Einweisung in Gefängnisse und Lager); Missachtung und Zurückweisung rechtsstaatlicher Grundsätze, Abschaffung der Gewaltenteilung (mit freien Wahlen, unabhängiger Justiz und einem Regierungshandeln, dass sich rechtsstaatlichen Regeln und Erfordernissen unterwirft).
  • Russland bricht sämtliche geschlossenen internationalen und bilateralen Verträge. Es missachtet Völkerrecht und das Recht auf die Unversehrtheit der Grenzen. Russland agiert – analog zu Nazi-Deutschland - in der Missachtung noch vor kurzem geschlossener Verträge. Minsk I“ und „Minsk II“, die im Übrigen russischen Interessen Vorrang einräumten, sind nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind - wie weiland das "Münchner Abkommen".
  • Russland bedient sich einer faschistischen Ideologie in der Rechtfertigung seiner Vorgehensweise insofern es die Welt – in der Nachfolge Carl Schmitts (Der Begriff des Politischen, Berlin 1932) – einer konsequenten Freund – Feind – Kategorisierung unterwirft. Dies impliziert – in Unterschreitung eines zivilisatorischen Minimums – die radikale Zurückweisung des Gleichheitsgrundsatzes (schon seit Lafayette: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“). Dies ist Faschismus in Reinkultur und findet sowohl nach Innen als auch nach Außen Anwendung. Die Faschisten in Moskau legitimieren ihre Unrechtspolitik mit dem erklärten Ziel, die Nazis in Kiew eliminieren zu wollen!!!

Oskar Lafontaine muss sich fragen lassen, ob er die fünfte Kolonne Putins aufwerten will und damit das bisschen Reputation, das ihm geblieben ist, auch noch verspielen will? Gemeinsam mit seiner Frau - Sarah Wagenknecht -, die noch am Vorabend die Invasion Putin-Russlands in die Ukraine öffentlich bei Anne Will ausgeschlossen hat, muss er unterdessen eingestehen, dass ihre Realitätskonstruktionen von der realen Dynamik des russischen Wahnsinns konterkariert werden. Warum fahren die beiden nicht nach Moskau und werfen ihre politischen Pfunde (?) in die Waagschale und bringen Wladimir Putin zur Besinnung?

Wer soll und kann dieser russischen Barbarei Einhalt gebieten und was hat das mit uns zu tun?

Inzwischen verwischen sich die Grenzen, und Oskar Lafontaine trägt dazu bei die Grenzen zu verwischen zwischen den Errungenschaften westlichen Demokratieverständnisses und der Unkultur autokratischer Terrorregimes mit faschistoidem Einschlag:

Ein Anhang

Mir ist vor Tagen ein aktueller Song Konstantin Weckers zugesandt worden:

ES IST SCHON IN ORDNUNG

Es geht mit dem Schrei an
Dem allseits bekannten
Erst kommt′s auf den Brei an
Und auf die Verwandten
Dann läuft es wie immer
Du versuchst kurz zu denken
Doch irgendwer wird dieses
Denken schon lenken
Du möchtest dich fühlen
Versuchst dich zu kriegen
Du bist ganz begeistert
Von deinen Trieben
Doch bald erkennst du
Ausgeschmiert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert

Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Der bestimmt und regiert
Der bestimmt und regiert

Ob das der Lehrer ist
Oder der Meister
Irgendwann treten sie dich
Denn sie sind immer feister
Ob das die Eltern sind
Und ihr Ordnungmußsein
Du möchtest wachsen
Doch sie kriegen dich klein
Dann träumst du von Wiesen
Und von Dingen, die weich sind
Währenddessen erzählen sie dir
Dass die Menschen nicht gleich sind
Und daß das wichtig ist
Dass man pariert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert

Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Denn da ist immer wer
Der bestimmt und regiert
Der bestimmt und regiert
Der bestimmt und regiert

Dann möchtest du rennen
Dann möchtest du schrein
Hast unbändige Lust
Einmal böse zu sein
Da muß doch was faul sein
Das kann doch nicht stimmen
Die wollen dich einfach
Auf Untertan trimmen
Die reden von Liebe
Was damit wohl gemeint ist
Du schaust dein Gesicht an
Das meistens verweint ist
Und es dauert nicht lange
Dann ist es passiert
Es ist schon in Ordnung
Dass jemand regiert


Es ist schon in Ordnung
Dass jemand regiert
Es ist schon in Ordnung
Dass jemand regiert
Es ist schon in Ordnung
Dass jemand regiert
Es ist schon in Ordnung
Dass jemand regiert
Dass jemand regiert
Dass jemand regiert

La la la la
La la la
La la la la la la la la la
La la la la

La la la la
La la la
La la la la la la

Ich habe diesen Text zum Anlass genommen, im Kontext der unfassbaren Aggression von Putins-Russland noch einmal genauer hinzuschauen und zu verstehen, wann etwas „in Ordnung ist“ und wann nicht?!

Wenn man viele Jahrzehnte Seit an Seit schreitet, beruht dies auf einem gemeinsamen Verständnis darüber, wie man sich arrangiert mit der Tatsache, dass da tatsächlich immer jemand ist, der bestimmt und regiert. Wenn man sein (Berufs-)Leben lang dafür gestritten hat, wann es denn „in Ordnung ist“, dass jemand bestimmt und regiert, dann basierte der Konsens darauf, dass das Bestimmen und Regieren immer nur ein mandatiertes, eines auf Zeit ist – in vier- oder fünf-Jahres-Turni; dass wir – das Volk – der Souverän bleiben und in freien Wahlen darüber entscheiden, wer „bestimmt und regiert“.

Wenn man dies für sich in Frage stellt und möglicherweise ins Querdenkertum abgleitet (incl. nachhaltiger Zweifel an der Legitimationsgrundlage unseres politischen Systems), dann kann ein Nachdenken über das gemeinsame freundschaftsverbürgende Selbstverständnis nicht ausbleiben.

Natürlich fällt einem mit Blick auf’s Knistern und Knirschen im Gebälk unserer Demokratie Winston Churchill ein, der sinngemäß meinte, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform, aber er kenne keine bessere. Wie unfassbar zutreffend seine ironische Selbstvergewisserung heute daherkommt, zeigt uns Wladimir Putin mit seiner Gewaltherrschaft, die kein Recht und kein Gesetz kennt: Pacta sunt servanda – haben wir gedacht.

Und Michail Gorbatschow? Er hätte sich für sein Ableben keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Er hat die Verträge geschlossen, die für alle seine Nachfolger bindend waren. Er war der erste sowjetische und dann russische Präsident, der die Souveränität der Staaten und die Unversehrtheit der Grenzen anerkannt hat.

Konstantin Wecker – da können wir gewiss sein – kennt genau diesen Unterschied.

Sein Schrei meint die Putins, Assads und Lukaschenkos dieser Welt, die dem Recht des Stärkeren wieder auf brutalste Weise die Ordnung der Welt unterwerfen wollen, die diese „Irgendwers“ sein wollen, die das Denken ihrer  U N T E R G E B E N E N  lenken wollen, die alle, die sich nicht unterwerfen wollen, in die Gulags oder in den Tod schicken, die alle  a n s c h m i e r e n, die sich ihrem Diktat nicht beugen, die das  O R D N U N G M U S S S E I N  mit Terror und Waffengewalt erzwingen.

Mit Carl Schmitt und den Verfassern der Rassegesetze der Nazis   e r k l ä r e n  sie dir, dass die Menschen nicht gleich sind – sie erklären es nicht nur, sondern sie zeigen es dir: Schwule, Lesben, Queere,  A N D E R S A R T I G E, Missliebige, Oppositionelle -  S Ü N D E N B Ö C K E, wandern in den Knast, werden vergiftet auf offener Straße verhaftet, weil sie ein weißes Blatt Papier in die Höhe halten.

Da muss doch was faul sein – da muss doch was faul sein!!! Ja es stinkt, es stinkt, es stinkt in der Welt der Gewaltherrscher – es stinkt!!!

Ganz ohne Zweifel meint Konstantin Weckers Schrei aber uns alle – und ich bin mir sicher, dass er seine eigene Meinung haben wird zu einem Publikum, das ihm stehende Ovationen zu Teil werden lässt, das sich aber ansonsten mit passiver Larmoyanz und passiver Kritik begnügt.

Aber lassen wir das alles und lesen uns den Text von Konstantin Wecker aufmerksam durch:

Ob das der Lehrer ist
Oder der Meister
Irgendwann treten sie dich
Denn sie sind immer feister
Ob das die Eltern sind
Und ihr Ordnungmußsein
Du möchtest wachsen
Doch sie kriegen dich klein
Dann träumst du von Wiesen
Und von Dingen, die weich sind
Währenddessen erzählen sie dir
Dass die Menschen nicht gleich sind
Und daß das wichtig ist
Dass man pariert

Ich habe – weiß Gott – schon bessere Texte von Konstatin Wecker gelesen. Und er selbst tritt konsequent der Haltung eines Jammerlappens entgegen, der für alle seine Versäumnisse, Irrtümer und Fehler immer nur die Anderen bemüht: die Lehrer, den Meister, die Eltern, die Regierenden!

Wir sind gemeint – erst recht unsere Generation der in den 50er und frühen 60er Jahren Geborenen. Lasst uns streiten über unsere Grundhaltung. Es würde mich nachhaltig erschüttern, wenn einer wie Konstantin Wecker daherkäme und mir sein biografisches Resümee als eine unendliche Folge von Behinderungen und Verhinderungen verkaufen würde. Konstantin Wecker würde sich einen Ast lachen, wenn jemand solche Erzählungen für sich reklamieren würde, die immer wieder darauf hinauslaufen, dass man ihn gehindert hätte, das zu tun und das zu sein und das zu werden, was er  E I G E N T L I C H  tun, sein und werden  wollte.

In vielen Liedern ist Konstantin Wecker nicht müde geworden darauf hinzuweisen, wie er als Jugendlicher von zu Hause abgehauen ist, um Jahrzehnte später auch seinen Frieden mit seinen Eltern zu finden. Von ihm kann ich mir zu allerletzt vorstellen, dass er mir erzählt hätte, dass seine Eltern ihn (im übertragenen Sinne) erfolgreich „getreten haben“ oder „ihn (gar) klein gekriegt haben“, um eine Ausbildung zu beginnen, mit der er sich nicht identifiziert, dass sie gar seinen Weg als Singer- Songwriter hätten hintertreiben können oder dass sie womöglich ihm jene Frauen hätten ausreden können, die Mütter seiner Kinder oder auch nur Weggefährtinnen auf mehr oder weniger kurzen Wegstrecken geworden sind. Wecker wäre gewiss auch niemand gewesen, der gegen seine Überzeugung als Soldat gedient hätte – so jung und verrückt er vor mehr als fünfzig Jahren war.

Angesichts der Putinschen Aggression ermuntert uns Konstantin Wecker, uns „nicht kleinkriegen zu lassen“. Konstantin Wecker sei mein Zeuge. Diese Demokratie ist verteidigungswürdig gegenüber Despoten und Gewaltherrschern wie Putin. Ballt die Faust – organisiert Euch, schaut nicht hochmütig auf die Vielen, die in Parteien, Verbänden, Vereinen diese Gesellschaft hochhalten sie verteidigen, sie bereichern und mit Lebendigkeit versehen.

Wenn jemand weiter als Freund mit mir streiten will, erwarte ich zumindest, dass der Freund mir Antworten gibt auf die aufgeworfenen Fragen. Es kann doch nicht sein, dass Radikalpazifisten - um ihre Position zu bewahren - nur noch halbe Realitäten konstruieren. Wir sind uns alle einig: Wir wollen keinen Krieg!!! Die Ukraine will und wollte keinen Krieg!!! Frieden schaffen ohne Waffen kann nur im Einvernehmen und unter Billigung aller Völker und Mächte eine Perspektive sein. Davon müssen wir Wladimir Putin überzeugen!!! Bin ich jetzt der Idiot, wenn ich so etwas sage, erwarte, fordere?  Ich weiß nur, auf mich hört Putin nicht! Es ist doch nicht wahr, dass die westlichen Regierungen - einschließlich des UN-Generalsekretärs Guterres - Putin keine Gesprächsbereitschaft gezeigt hätten. Bislang sehe ich nur einen kategorischen Verweigerer; jemanden, der widerrechtlich fremdes Staatsgebiet annektiert und besetzt hält und der gefälligst den status quo ante wieder herstellen soll - raus aus der Ukraine!!! Wer bist du denn Waldimir Putin, dass du glaubst ungestraft das Erbe Adolf Hitlers antreten zu können? Daher bin ich mir sicher, dass Wladimir Kara-Mursa, der in Moskau in Haft sitzt, recht behält mit seiner Prognose: "Das Regime Putin wird kollabieren" (ZEIT 37/22, S. 11).

 

Drei Unheilige aus dem Abendland -

auch die drei Unheiligen aus dem Abendland bringen Wladimir Putin nicht zur Besinnung:

 

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Veröffentlicht: 04. Mai 2022

Drei Unheilige aus dem Abendland

Wladimir, wir kommen – wir kommen aus dem Abendland:
Wir bringen ein Plakat: Frieden schaffen ohne Waffen!
Und wir bringen Dir das verbriefte Recht auf Widerstand
mit der Anleitung zum Tyrannenmord
.

Wir bringen Dir noch mit die unheilige Sahra mit Knecht und Wagen;
auch sie kommt nur noch mit gekreuzten Beinen und spricht von Kriegsverbrechen.
Doch wir sind bereit zum Gang nach Canossa -
auf Knien kriechen wir die Stufen zum Kreml hinauf und bitten Dich um Gnade!

Komm zurück an den Verhandlungstisch und erklär uns Dein Begehr!
Aber mach Dich ehrlich – auch vor unser aller Sekretär, dem heiligen Antonio Guterres:
Er fragt Deinen unsäglichen Lügenchef – den Lawrow:
„Sehen Sie einen einzigen ukrainischen Soldaten auf russischem Boden?“

Auf dem Boden des Völkerrechts wollen wir verhandeln:
Wir wollen wissen, wem die „militärische Sonderoperation“ dient? Und:
Wir wollen wissen, wo sie sind – die russischen Fahnen und die Massen
auf ukrainischem Boden, die euch als Befreier empfangen und bejubeln?

Mit wieviel tausend Raketen hast Du die Befreiung vorangetrieben;
die Befreiung von Dächern über dem Kopf und schützenden Wänden?
Warum lässt Du uns bluten, frieren, hungern und sterben –
Deine Brüder und Schwestern im Westen?
So fragen die Alten, die Jungen, die Kinder, selbst die Soldaten im Land
– der Ukraine?

Und als sei es noch nicht genug mit Bomben und Raketen – lässt Du die Bluthunde von der Leine!
In den Vororten von Kiew und überall, wo Deine Soldaten verrohen, zerbrochen im Sinnverlust,
um dann zu morden, zu demütigen, zu plündern, zu vergewaltigen und zu marodieren!
Welche Werte vertrittst Du dort, wo Deine Soldaten wahllos töten und Gewalt verbreiten?

Nawalny kommt nun in die Kinos, in unsere Wohnzimmer, während er in Deinem Straflager darbt.
Aber er kommt nur zu uns! Dein entmündigtes Volk im Land der gleichgeschalteten Medien
übt sich im Ja-Sagen. Hundertschaften von Sicherheits-Personal hält es unter der Knute,
sperrt alles weg und knüppelt alles nieder, was der Staatsraison in die Quere kommt.

Traust Du Dich – ganz alleine (ohne Deine Schutz-Staffeln) hinzutreten vor die Mütter und die Frauen,
denen Du die Söhne und die Männer nimmst! Wofür? Wofür mussten Jurij und Jewgenij sterben?
Wer ist Dein Feind? Er tobt in Deinem Kopf, der nun platzt vor lauter Großmannssucht!
Komm doch wieder nach Dresden, komm wieder zu uns und lerne Dich zu bescheiden!

Du hättest Russland, Dein Russland zu blühenden Landschaften hinregieren können!
Nun platzen die Träume so vieler – nicht nur in der Ukraine; alle verlieren, keiner gewinnt!
Mein Freund trägt das Banner: Frieden schaffen ohne Waffen! Was magst Du ihm sagen?
Enttäusch ihn nicht! Ich hoffe, er hat Erfolg, und ich kann weiter der Weißen Rose die Ehre erweisen,
ohne ihren Aufruf zum Tyrannenmord zu verbreiten!

Aber natürlich weißt Du, in wie vielen Köpfen die Phantasien blühen, die Dich gern am Galgen sähen.
Auch ich wüsste Dich dort gern und sicher.
An Deinen Händen klebt das Blut der Deinen und der anderen.
Nach dem Recht der Völker darf das nicht ungesühnt bleiben.
Ja, Du säßest in Nürnberg, dort wo Nazis sich verantworten mussten.
Es ist der blanke Hohn, wenn gerade Du von Entnazifizierung sprichst!

Selbst in Israel schreit man auf,
wenn Lawrow seinen Kopf durch eine Kloake ersetzt
und Selensky als personalisierte Zielscheibe damit verteidigt, dass auch in Hitler jüdisches Blut geflossen sei.
Ihr Russen zeigt uns heute den erneuten Niedergang der Menschheit und ihrer Werte,
wenn ihr den wahren Nazis folgt:
Gleichschaltung, Ausschaltung, Polizeistaat, Unrechtsstaat, Führerkult und Demagogie!

Die Scham ist eine anthropologische Konstante, eine Mitgift aus frühesten Menschheitstagen.
Ihr merzt sie aus mit Lügen und mit Euren Taten.
Es ist ja nicht nur der Wettbewerb der Ideen und der Respekt vor den Ideen der Besten,
die Euch ein Dorn im Auge sind -
nein, selbst Eure Soldaten, die für Euch kämpfen sollen,
dürfen nichts sehennichts hörennichts sagen,
was der Wahrheit nahe kommt.
Seid ihr das Volk der drei Affen?

Aber die Welt kann es sehen – rund um den Erdball.
Das haben wir den Nazis von damals voraus:
Ja, es verbietet sich (noch) jede Analogie zu Auschwitz,
zum industriellen Massenmord;
er bleibt singulär (noch). Hütet Euch vor einem erweiterten Suizid –
er bedeutet das Ende.
Kehrt um und kehrt zurück in den Schoß der Völker –
beendet den Völkermord!

Selbst unser Volk, das die  ungeheuerlichsten Verbrechen verübt hat –
den kategorialen Mord –
hat die Gemeinschaft der Völker wieder aufgenommen.
Es ist noch nicht zu spät.
Kehre um Wladimir, besinne Dich,
denk an Deine Verkündung vom Ende des Kalten Krieges vor zwanzig Jahren
– noch ist es nicht zu spät!

Ach ja, wir haben Dich gesehen mit Osterkerze und Leichenbittermiene
- an der Seite Deines Adlatus Kyrill.
So haben wir das Jesuskind gebeten uns zu begleiten -
und wahrlich ich rate Dir: Zieh Deinem Kyrill einen Keuchheitsgürtel an,
denn sonst wird ihm das Jesuskind mit seinem zahnlosen Mündchen die Eier abbeißen -
ihn aus dem Tempel jagen wie weiland die Pharisär!

Und was glaubst Du wohl wird er mit Dir machen? Lass ab, bereue und er wird Dich in seine Arme schließen,
denn die Gnade ist bei Gott und seinem einzigen Sohn.

 

Not in my back-yard - ein Abgesang? Noch nicht ganz! Ich kombiniere ihn mit der SolidAhrität

 

N i m b y oder: Sankt Florian wird uns schon retten*

Wir saßen im Café
und tranken klares Wasser.
Wir fingen an zu grübeln und hatten nichts im Tee.
Zuletzt entstand der Eindruck, ich sei ein Menschenhasser.

Es waren nur drei schlichte Fragen,
und doch ging es um Kopf und Kragen:
Kommt der Strom nur aus der Dose und das Wasser aus dem Hahn?
Und die Freiheit zu Bleiben und zu Gehn, ist nicht nur leerer Wahn?

Da rief von Malle Pinkwarts Omma* übers warme Meer:  *(im Link Zeitleiste: 35:48 ansteuern)
Freitag, Samstag ist hier alles dicht - kommt doch alle her.
Layla ist schon da und viele ihrer Freier,
hohl im Kopf, doch in der Hose dicke Eier.

Ich kann nicht, ruft Herr Schultz: Hab Land Sickness und fliege nach Korea.
Da ruft die Eva, die von Redecker: Bleibt doch alle hier!
Und du, Herr Schultz, denk an Medea,
bevor die (Groß)Mutter wird zum Tier!

Der Welt, in der, von der wir leben, sind wir egal.
Gleichwohl geraten Fluten, Dürren uns zur Mahnung,
und die Vergnügen werden schal.
Im Ahrtal hat man davon mehr als eine Ahnung.

Und doch gehn uns die Kleber auf den Sack,
bald gibt es Feuer unter Pflegebetten,
N i m b y - not in my back-yard - ruft das Pack,
Sankt Florian wird uns schon retten!

 

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 Veröffentlicht: 26. August 2021

Herbstimpressionen – wie vor 27 Jahren begleitet von Jakob van Hoddis (und Gottfried Benn)

SolidAHRität –

Vier Flaschen – rot und weiß;
verleihen den Gedanken Flügel,
sie zähmen manche Wut,
und nähren wieder Mut.

Die hohen Lieder sind gesungen,
Vom spitzen Kopf fliegt wieder mal ein Hut.
In allen Lüften war Geschrei
und zeugt vom Wechsel der Gezeiten.

Der Sturm ist da,
die wilden Wasser springen,
sie reißen Dämme ein.
Und Menschen sah man weinen
am Abgrund steh‘n
vor eingestürzten Brücken.

Wir sehen der Gezeiten Wechsel:
auf Wut folgt Mut und nochmals Mut
um zu verbinden alle Tapfern
- nicht nur an Erft und Ahr.

Es sind die Taten,
die viele nun ermuntern.
Und (des Dechants) Worte trösten Seelen,
verleihen Menschen wieder Kraft.

Wir schlagen neue Brücken,
verbinden wieder Ufer,
erinnern uns der Worte in der Not:
Wer redet ist nicht tot!
(auch wenn die Flammen züngeln
und die Wasser gurgeln schon sehr um unsere Not).

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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