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Reflexionsangebote zum Phänomen Unterricht aus systemtheoretischer Perspektive

Ein Überblick in Anlehnung an Niklas Luhmann, Karl Eberhard Schorr, Detlef Horster und Annette Scheunpflug – zusammengestellt von F.J. Witsch-Rothmund

Vorbemerkung:

In der Allgemeinen Didaktik werden sie immer wieder auf „klassische“ Perspektiven zur Unterrichtsplanung stoßen. Zu den nach wie vor etablierten und bekannten Konzepten gehören das Strukturmodell der sogenannten „Berliner Didaktik“ (Paul Heimann u.a.) und das „Vorläufige Perspektivenschema zur Unterrichtsplanung“ von Wolfgang Klafki. Sie bieten nach wie vor bedeutsame Anregungen, um das Phänomen Unterricht aus bestimmten Perspektiven beschreiben und auch planerisch angehen zu können. Mit der „Interdependenz“ sogenannter Strukturmomente des Unterrichts (Berliner Didaktik) oder der Wechselwirksamkeit von Begründungszusammenhang, thematischer Strukturierung, Zugangs- und Darstellungsmöglichkeiten sowie der methodischen Strukturierung (Klafki) haben Didaktiker immer schon darauf aufmerksam gemacht, dass Unterricht ein überaus komplexes Phänomen ist.

Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr (1979) die Überkomplexität und begrenzte Planbarkeit von Unterricht mit dem Begriff des „Technologiedefizits“ auf den Punkt gebracht. Wenn man tagtäglich Unterricht plant, durchführt und auch reflektiert, fühlt man sich vielleicht durch die Frage irritiert, wie Unterricht überhaupt möglich ist. Dies trifft – nach Maßgabe einer naturgemäß anderen Perspektive – auch auf Schüler zu. Immerhin haben Studierende der Lehrämter als Schüler mindestens dreizehn Jahre Unterricht erfahren und mitgestaltet. Sie sind durchaus als Experten zu verstehen, die sich im Fortgang ihres Studiums Schritt für Schritt eine professionalisierte Perspektive zum Phänomen Unterricht aneignen müssen. Die folgenden Zusammenfassungen und Hinweise zum erwähnten „Technologiedefizit“ stützen sich zum einen auf Annette Scheunpflug, die mit ihrem Aufsatz: „Das Technologiedefizit – Nachdenken über Unterricht aus systemtheoretischer Perspektive“ (in: Dieter Lenzen, Frankfurt 2004, S. 65-87) einen kompakten Überblick zu den Reflexionshinweisen von Luhmann und Schorr liefert. Zum anderen wird neben Originalquellen vor allem auf Detlef Horster: Niklas Luhmann, München 1997 Bezug genommen.

(I) Wie ist Unterricht möglich? Die Theorieherausforderung durch Unterricht

Natürlich müssen Lehrkräfte aus empirischer Erfahrung von der Selbstverständlichkeit von Unterricht ausgehen und neigen dementsprechend dazu, die Relevanz der Frage zurückzuweisen. Lässt man sich allerdings auf entsprechende Fragestellungen ein, kann es sein, dass das generelle Unbehagen hinsichtlich der begrenzten Planbarkeit und Beherrschbarkeit unterrichtlichen Geschehens sich eher auflöst in Richtung einer nüchterneren Betrachtungsweise von Unterricht. Dazu ist es allerdings unabdingbar, auf Theoriehintergründe systemtheoretischen Denkens Bezug zu nehmen. „Angesichts der Entropiezunahme (Zunahme von Unordung, WR) sozialer Systeme im Zeitverlauf und deren zunehmender Komplexität stellt sich für Niklas Luhmann in seinem gesamten Werk die Frage nach der Möglichkeit des Entstehens sozialer Systeme (Scheunpflug, 66).“ Mit einer „unterkomplexen“ didaktischen Theoriediskussion lässt sich darauf natürlich nicht angemessen reagieren:                                                        

Exkurs: Das Technologiedefizit (nach Detlef Horster, München 1997, S.183f.)

„Zwischen der Erziehungswissenschaft und der praktischen Pädagogik fehlt eine Technologie: ‚Der Begriff bezieht sich auf die operative Ebene eines Systems, auf der der Gegenstand seiner Tätigkeit durch geordnete Arbeitsprozesse in Richtung auf Ziele verändert wird. Die Technologie eines Systems ist die Gesamtheit der Regeln, nach denen dieser Veränderungsprozess abläuft, also zum Beispiel Schüler das lernen, was ihnen gelehrt wird’ (LS 118f.). Ein sogenanntes Technikum finden wir in der naturwissenschaftlichen Forschung, an der sich bei ihrer Etablierung die Sozialwissenschaften orientierten. In den Naturwissenschaften ist zwischen der Laborforschung und der praktischen Anwendung der Produkte ein Technikum eingebaut, das die Produkte ins Labor zurückschickt, wenn sie nicht taugen. Das ist aber zwischen Erziehungswissenschaft und praktischer Pädagogik nicht möglich. Man kann nicht mit den neuesten Vorschlägen der Erziehungswissenschaft zuerst eine Testphase mit ausgesuchten Testpersonen durchführen, und wenn das Produkt nicht den gewünschten Erfolg bringt und die Testprodukte verdorben sind, diese an die Erziehungswissenschaft zurückschicken. Auf dieses Technologiedefizit reagiert die Wissenschaft als Schulpädagogik mit unzähligen Vorschlägen, von denen Luhmann einige exemplarisch nennt: Vorschläge der kategorialen Bildung, des exemplarischen Lernens, der Entwicklung von Curricula usw. (siehe die aktuelle Diskussion um Bildungsstandards oder den Offenen Unterricht, WR). Hervorzuheben ist bei diesen verschiedenen Bemühungen noch die Unterrichtsforschung, deren Entstehen mit der ‚schnellen und breiten Entwicklung der empirischen Sozialforschung in diesem Jahrhundert’ (LS 213) zu erklären ist: Die Bomben, die die Erziehungswissenschaft in der Praxis legte und die dort hoch gingen, ließen einen Wissenschaftszweig entstehen, der auf diese Weise neue Aufträge bekommt, nämlich zu untersuchen, warum in der pädagogischen Praxis nicht funktioniert, was die Erziehungswissenschaft entworfen hatte. Diese Situation ist auch für angehende Lehrerinnen und Lehrer schwierig. Auch für sie fehlt ein Technikum. Sie haben bis zum Referendariat keine Kontrolle ihrer Fähigkeiten oder Nichtfähigkeiten. Sie stellen ihre pädagogische Qualität erst nach ihrer Ausbildung fest. In der heutigen Zeit der Massenarbeitslosigkeit haben sie dann keine Wahl mehr zwischen Bleiben und einer neuen Ausbildung.“

Für Annette Scheunpflug weist das Technologieproblem darauf hin, „dass Unterricht auf der Zeit-, der Sozial- und der Sachebene besondere Ansprüche an die Theoriebildung stellt: Auf der Zeitebene muss das Problem der Bindung von Zeit mittels Kausalität bearbeitet werden. Auf der Sozialdimension ist die Selbstreferenz der beteiligten Personen zu sehen, und auf der Sachdimension stellt sich die Frage nach der Rationalität von Zurechnungen. An dieser Stelle folgt mit Detlef Horster ein zweiter Exkurs zum Schlüsselbegriff der Selbstreferentialität:

Exkurs: Trivial – und Nichttrivialmaschinen (nach Detlef Horster, München 1997, S. 184ff.)

„Weiterhin: Die praktische Pädagogik ist bei der Erreichung ihrer Ziele auf die Mitwirkung der Schüler selbst angewiesen. Wenn diese aber selbstreferentielle Systeme mit unverwechselbarer Individualität und authentischer Identität sind, stellt sich wirk-lich die Frage, ob man von vorgegebenen Erziehungszielen ausgehen und deren Erreichung als Output bei den Kindern gemessen werden kann (vgl. LS 143). Um messen zu können müssen die Kinder als Trivialmaschinen, im Sinne von Heinz von Foerster, aufgefasst werden und nicht als selbstreferentielle Systeme. Selbstreferentielle Systeme sind nämlich Nichttrivialmaschinen... Zur Erläuterung: Nichttrivialmaschinen, die psychische Systeme nun einmal sind, prüfen zunächst ihren eigenen Zustand, bevor sie funktionieren. Sie melden nach selbstreferentieller Prüfung ihren Zustand zurück, um dann ein variables Produkt zu präsentieren. Damit aber ein Erziehungssystem funktionieren kann, darf es nicht davon ausgehen, das Schülerinnen und Schüler tatsächlich nichttriviale Systeme sind, sondern es muss immer so getan werden als seien sie Trivialmaschinen, was allein schon durch die binäre Codierung gut/schlecht im Erziehungssystem gefordert wird. Dieser Code erlaubt es nicht, etwas anderes als die gute oder schlechte Leistung zu beurteilen. Dies ist aber nur möglich, wenn die Schülerinnen und Schüler als Trivialmaschinen behandelt werden. Nur so ist ihr Output mit Hilfe dieses Codes zu bewerten... ‚Die Kommunikation wird als Input, das richtige Verhalten als Output angesehen’ (SA 4, 179). Wie in jedem anderen System muss der Erfolg kontrolliert werden können und beobachtbar sein. Sosehr dieses Bild einer Maschine stören mag, sowenig kommt die Erziehung ohne die Grundvorstellung einer Trivialmaschine... aus, wenn sie nicht darauf verzichten will, die Ergebnisse unter Kontrolle zu halten’ (ebenda). Wenn Kinder auch keine Trivialmaschinen sind, so müssen sie ‚doch dazu gebracht werden..., Trivialmaschinen zu sein’ (SA 6,220). Denn, ‚so wie im Wirtschaftssystem Investitionen sich nur lohnen, sofern sie sich auf Geldeigentum und Zahlungsfähigkeit positiv auswirken, und zu vermeiden sind, wenn negative Konsequenzen zu erwarten sind, so sind auch Lehr- und Lernprogrammen nur lohnend, sofern sie so praktiziert werden können, dass man die Ergebnisse prüfen und bewerten kann. Nur unter dieser Voraussetzung kann das System seine Anstrengungen (zum Beispiel seine Didaktik) daran ausrichten, dass die Ergebnisse positiv und nicht negativ ausfallen’ (SA 4, 195)."

Genau an dieser Stelle wird die oben schon angesprochene Dysfunktionalität deutlich, die in der Vorstellung von Erziehung liegt: ‚Psychische Systeme sind nun aber keine Trivialmaschinen, auch wenn sie im sozialen Verkehr in weitem Umfange so behandelt werden. Sie sind und bleiben selbstreferentielle Systeme, in deren Verhalten der eigene Zustand als Resultat vorherigen Verhaltens zwangsläufig eingeht. Diese Überlegung führt auf die Frage, was wohl aus selbstreferentiellen Systemen wird, die laufend so behandelt werden, als ob sie Trivialmaschinen wären? Und vielleicht ist es eine sinnvolle Hypothese, ... anzunehmen, dass sie... versuchen werden, sich auf ein Terrain möglicher Abweichung zu retten – sei es mit unerwartbar guter Leistung, sei es mit Leistungsverweigerung, sei es mit Ironie und Witz’ (SA 6, 209).“

1. Annette Scheunpflug stellt auf diesem Hintergrund zunächst einmal die Frage, was geschieht auf der Zeitebene?

Für Annette Scheunpflug (A.S.) besteht das Grundproblem des Unterrichtens in der Frage der Bindung von Zeit: Unterricht finde in der Gegenwart statt und verweise in seiner Anlage auf Zukunft. Alle Lehrer gehen nach A.S. davon aus, dass ihr Handeln Veränderungen bewirkt: „Lehren bewirkt Lernen, und Lernen ermöglicht Handeln in der Zukunft. Diese Kausalkette ist häufig so selbstverständlich, dass sie in vielen erziehungswissenschaftlichen Theoriebildungen nicht mehr thematisiert wird (67).“ Erzieherische Tätigkeiten nehmen für sich in Anspruch, auf Freiheit kausal einwirken zu können: Kein Erzieher könne nach Luhmann ohne die Annahme auskommen, dass er die Möglichkeit habe, den, den er erzieht, zu verändern. Aber wie kann man sich dies vorstellen? „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange (Kant)?"

Die geisteswissenschaftliche Pädagogik löst den Widerspruch dadurch, dass sie ihn auf zwei unterschiedlichen Ebenen fasst: in die Bildungstheorie auf der einen, in didaktische Modelle auf der anderen Seite: „Während im Bildungsbegriff die Unverfügbarkeit des Lernens über die dialektische Verschränkung von Bildungsangebot und Bildungsprozess beschrieben wird, wird auf der Ebene der konkreten Unterrichtsplanung – etwa der didaktischen Analyse (Klafki) oder anderer Modelle – ein Verfahren zur Planung von Unterricht entwickelt, das Verfügbarkeit suggeriert bzw. keine Kategorien für Unverfügbarkeit bereitstellt. Der Bildungsbegriff markiert die Selbsttätigkeit des Individuums im Lernvorgang und damit die Unverfügbarkeit des Lernens aus der Perspektive des Lehrenden, während hingegen Unterrichtsplanungsmodelle als Theorie des Lehrens Unterrichtskausalität voraussetzen und eine Nichtbeliebigkeit des Unterrichtsarrangements suggerieren (68f.).“

A.S. geht soweit zu behaupten, dass die unterstellte Nichtbeliebigkeit in der zweiten Ausbildungsphase durch rezeptologische Anwendungen häufig in die Erwartung einer strengen Kausalität überführt würde, z.B. bei der Beurteilung von Lehrproben.

Dies führt zu der zentralen Hypothese, dass sich der Bildungsbegriff auf der Ebene der pädagogischen Handlung kaum niederschlage. Schon Eduard Spranger habe in seiner Schrift „Das Gesetz der ungewollten Nebenfolgen der Erziehung“ bemerkt, dass die Absichten des Erziehers ganz andere als die beabsichtigten Effekte erzielen können.

Nach Niklas Luhmann liegen den traditionellen Vorstellungen von Unterricht Kausalitätsbeziehungen zugrunde, die deshalb kaum zu beschreiben sind, weil sie vier Annahmen als Voraussetzungen benötigen: Funktion, Sinn, Attribution und Kausalität. Dies mag sich jetzt höchst kompliziert anhören, erschließt sich aber in seiner Schlichtheit, wenn wir es einmal beispielhaft erörtern:

In der Interpretation Niklas Luhmanns argumentiert A.S. so, dass in dem Moment, in dem Unterricht funktional gefasst werde, Vergleichsgesichtspunkte – sogenannte funktionale Äquivalente – in den Blick kommen: „Funktionale Äquivalente setzen Kausalbeziehungen kontingent, da sie diese der Konkurrenz anderer Möglichkeiten aussetzen (A.S., 68).“ Mit „Kontingenz“ ist gemeint, dass etwas so, aber auch ganz anders sein könne. Gibt es denn zum Beispiel – fragt A.S. – funktionale Äquivalente zu Unterricht? Zur Wirkung von Medien beispielsweise könnten an dieser Stelle die wildesten Spekulationen angestellt werden. Und was bedeutet dies dann für Kausalitätszuschreibungen über Unterricht? „Wenn man zudem annehmen würde, dass alles, was im Unterricht passiert, als sinnhaft interpretiert werden muss (wie dies nämlich bei Kausalitätsbeziehungen der Fall ist), dann muss auch Nichtvorhandenes als sinnhaft interpretiert werden (A.S., 70).“ Unterricht würde auf diese Weise kaum noch beschreibbar. Wirkt Unterricht nicht auch durch die Dinge, die nicht gelehrt werden? Was bedeutet es für das Weltbild von Schülern, wenn europäische Herrschaftshäuser gelehrt, afrikanische Monarchien aber verschwiegen werden, fragt A.S. mit Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr. Prinzipiell bleibt die Frage nach der Zurechnung, der Attribution von Ursachen und Wirkung letztlich ungeklärt. „Kann ein Schüler gut Englisch sprechen, weil er in seiner Freizeit immer englische Filme sieht oder weil der Unterricht so gut ist? Sieht er englische Filme, weil ihn der Unterricht dazu motiviert. Oder ist er für den Unterricht motiviert, weil er ein Fan englischsprachiger Filme ist (A.S., 70)?“

Der letzte Gesichtspunkt (Kausalität) fasst diese Aspekte noch einmal mit einer eigenen Akzentuierung zusammen: Wie kann die Komplexität von Unterricht angemessen theoretisch erfasst werden? Sind Kausalverhältnisse nicht durchschaubar, weil es so viele sind, die sich gegenseitig beeinflussen, so dass sie sich menschlicher Reflexionsmöglichkeit entziehen? Und was passiert, wenn mehrere solcher Systeme aufeinanderprallen, etwa in einer Unterrichtsstunde mit den schwierigen psychischen Dispositionen von dreißig Individuen, die aufeinander reagieren?

„Vor diesem Hintergrund muss Unterrichten als eine – nach Luhmann – nicht vollständig definierbare Aufgabe gesehen werden (A.S., 70f.).“ Eine Aufgabe wäre nämlich dann vollständig definiert, wenn alle Inputs vollständig und eindeutig beschreibbar wären, es für bestimmte Situationen bestimmte Strategien gäbe, die bestimmter Kombinationen von Inputs bedürften und diese Strategien so objektiviert wären, das sie für jeden Durchführenden denselben Sinn ergäben. Luhmann und Schorr sehen die Aufgabe von Unterricht schon im Bereich der Inputs als nicht vollständig beschreibbar an. Was wirkt auf den Schüler, dass er lernt?

•          Ist es die Sprache der Lehrkraft?

•          Ihr Aussehen und ihre Sympathiewerte?

•          Die Klassenatmosphäre?

•          Der familiäre Hintergrund?

•          Das Wetter?

•          Oder die Klassenkameraden? ...

Nicht nur die Frage, ob eine Lehrkraft durch bestimmtes Handeln angesichts der Freiheit ihrer Schüler bestimmte Wirkungen erzielen kann, sondern bereits die Frage, was eigentlich alles auf den Schüler einwirkt, ist von daher ein Problem der Beschreibung von Unterricht (A.S., 70f.).“

2. Das Problem der doppelten Kontingenz auf der Sozialebene (in Anlehnung an Annette Scheunpflug und Detlef Horster)

Sie alle haben viele Jahre als Schüler teilgehabt am „sozialen System“ Unterricht. Er ist immer durch die Interaktion von mindestens zwei, meist aber mehr Personen gekennzeichnet. An dieser Stelle nimmt Niklas Luhmann eine folgenreiche Unterscheidung vor, indem er Schüler und Lehrer – Teilnehmer an und in Funktionssystemen generell – nicht als „ganzheitliche Personen“, sondern als komplexe „autopoietische Systeme“ denkt: Das biologische System, das psychische System und das soziale System – die Kommunikation von Menschen – stehen in einem lose gekoppelten Zusammenhang und operieren jeweils als selbstreferentielle Systeme das heißt auf sich selbst bezogen.

Exkurs: Der Mythos der Ganzheitlichkeit und was ist unserer Beobachtung zugänglich?

Um „Ordnung in die Welt zu bringen“ müssen wir Unterscheidungen treffen. Durch die gewählten Unterscheidungen ziehen wir eine Grenze. Wir bezeichnen das Eine und nicht das Andere. Mit den Worten Niklas Luhmanns: „Wir reduzieren auf die uns mögliche Weise Komplexität.“ Die folgenden Unterscheidungen beziehen sich auf den Bereich des Lebendigen, des Lebendigen deshalb, weil dies wohl der allgemeinste Begriff ist, mit dem es möglich ist, sowohl über das einzelne Individuum, als auch über die Interaktionssysteme, an denen es beteiligt ist – z.B. Unterricht –, nachzudenken. Die Grundunterscheidungen, die ich wähle, bezeichne ich in Anlehnung an Niklas Luhmann als

•          Gelebtes Leben

•          Erlebtes Leben

•          Erzähltes Leben

Ich „teile“ also den Menschen in drei Teile ein:

Unter „gelebtem Leben“ verstehen wir demnach die Biologie, die Physiologie, die Anatomie eines Menschen, also das, was gemeinhin der „Gegenstand“ der Mediziner ist. Während sie diese Zeilen hier lesen, laufen z.B. ungezählte biochemische Prozesse in ihnen ab, die garantieren, dass sie als lebendiges, organisches System „funktionieren“. Dies alles geschieht sozusagen „autopoietisch“, ohne ihr Zutun. Das lebende System, das sie biologisch repräsentieren, vermag – eine zuträgliche Umwelt vorausgesetzt – die Elemente, aus denen es biologisch gesehen besteht, selbst mit Hilfe der Elemente, aus denen es besteht, zu erschaffen. Wenn wir uns der Psychologie und der Soziologie zuwenden, bedeutet dies folgendes im Sinne einer Unterscheidung von System und Umwelt:

•          Psychische Systeme (erlebtes Leben) operieren im Modus des Bewusstseins (Gedanken produzieren Gedanken im Netzwerk von Gedanken) während

•          Soziale Systeme (erzähltes Leben) im Modus der Kommunikation operieren (Kommunikationen produzieren Kommunikationen im Netzwerk von Kommunikationen)

Alle drei Phänomenbereiche (gelebtes, erlebtes und erzähltes Leben) wirken als Umwelten füreinander. Die Elemente dieser Systeme treten nicht in das jeweils andere System ein, sondern operieren nur jeweils im eigenen, operational geschlossenen Bereich. In allen drei Bereichen findet eine charakteristische Form der Selbstorganisation statt, die als Autopoiese bezeichnet wird.

Am Beispiel des Phänomens der „doppelten Kontingenz“ lassen sich die operationale Geschlossenheit und die wechselseitige Undurchsichtigkeit der Systeme anschaulich illustrieren: Folien werden nachgereicht!

Peanuts1Kontingent nennt Niklas Luhmann etwas, was zufällig so ist, aber auch anders sein kann. Von den unendlich vielen Möglichkeiten in der komplexen Welt wird also eine Handlung, ein Ereignis gewählt; es könnte genauso gut etwas anderes gewählt worden sein... Dies führt dann etwa zu Situationen, wie sie der nebenstehende Comic thematisiert: Lucie kann den Ball halten, so dass Charlie Brown ihn treffen kann. Sie kann ihn aber auch fallen lassen, so dass er auf die Nase fällt... Charlie weiß nicht, was sie machen wird, hat aber seine Vermutungen. Darauf will er sich in seinem Handeln einstellen. Beide – Lucie und Charlie – haben eine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten, und das wissen beide von sich und ihrem Gegenüber. Wenn nun einer dem anderen eine bestimmte HandlungsweisePeanuts2 unterstellt und sich selbst danach einrichtet, das Gegenüber aber eine andere Möglichkeit wählt, dann geht die Kommunikation schief. Lucie kann also wissen, dass Charlie Brown weiß, dass Lucie weiß, das Charlie Brown nicht wissen kann, was Lucie tatsächlich vorhat. Umgekehrt kann Charlie Brown wissen, dass Lucie weiß, dass Charlie Brown nicht wissen kann, was Lucie machen wird.

Diese etwas vertrackten Situationen kennen wir alle, sie bedeuten Unsicherheit, lösen Ängste aus. Wir alle wollen wissen, welche Lösungen sich hier anbieten, zumal doch die meisten Menschen ein Grundbedürfnis nach Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit in der Kommunikation verspüren. Die Antworten sind je nach theoretischer Ausgangsposition unterschiedliche. In der Diskurstheorie von Jürgen Habermas steht das Problem der Verständigung durch „wechselseitige Perspektivenübernahme“ im Mittelpunkt. Niklas Luhmann spricht eher von der „erfolgreichen Kalkulation fremder Verhaltenswahrscheinlichkeiten“ und definiert damit eine funktionale Sichtweise. Soll Kommunikation wahrscheinlich und „erfolgreich“ in Sinne einer gewissen Stabilität sein, dann könnte eine „Qualität“ von Kommunikation darin bestehen, dass das fremde Handeln sich am eigenen Handeln orientiert: „Ich tue, was du willst, wenn du tust, was ich will.“ Dieser Zirkel bildet eine Einheit, die letztlich auf keines der beteiligten Systeme zurückgeführt werden kann.

Was geschieht nun in dieser von Niklas Luhmann als instabil gekennzeichneten Situation? Jeder der Beteiligten sagt zunächst einmal: „Ich lasse mich nicht von dir bestimmen, wenn du dich nicht von mir bestimmen lässt.“ Nach Luhmann handelt es sich um eine extrem instabile Kernstruktur, die sofort zerfalle, wenn nichts weiter geschehe. Anderseits – argumentiert Luhmann – genüge diese Ausgangslage, um eine Situation zu definieren, die die Möglichkeit in sich berge, ein soziales System zu bilden.

Die folgenden Vorstellungen sind vor allem auch für das soziale System Unterricht eminent bedeutsam, weil sie in einem operativen Sinne jeweils mit darüber entscheiden, ob wir von einer vertrauensvollen, lernintensiven, nachhaltigen Unterrichtskultur oder von einem obstruktiven, wenig zielführenden und eher von Misstrauen geprägten Lernklima sprechen können. In einer solchen Situation kann sich zwischen den beiden Systemen (Lehrer und Schüler/Schulklasse) nämlich Vertrauen oder Misstrauen aufbauen. Der andere kann anders handeln, als man erwartet. Wenn wir hier noch einmal auf Lucie und Charlie Brown eingehen, sehen wir, dass sich zwischen den beiden Handelnden nicht Vertrauen, sondern Misstrauen aufbaut. Was aber geschieht, wenn Vertrauen aufgebaut wird?

Genau an dieser Stelle stellt sich auch und gerade auf Unterricht bezogen die Frage, wie sich ein soziales System angesichts doppelter Kontingenz und unter Voraussetzung von beiderseitigem Vertrauen und beiderseitigem Interesse am Kontakt selbst reguliert: „Unbekannte signalisieren sich wechselseitig zunächst einmal Hinweise auf die wichtigsten Verhaltensgrundlagen: Situationsdefinition, sozialer Status, Intentionen. Damit beginnt eine Systemgeschichte, die das Kontingenzproblem mitnimmt und rekonstruiert. Mehr und mehr geht es daraufhin im System um die Auseinandersetzung mit einer selbstgeschaffenen Realität: um Umgang mit Fakten und Erwartungen, an deren Erzeugung man selbst beteiligt war und die Verhaltensspielraum mehr oder weniger festlegen als der unbestimmte Anfang. Die doppelte Kontingenz ist dann nicht mehr in ihrer ursprünglichen, zirkelhaften Unbestimmtheit gegeben... Das System verliert die Offenheit für Beliebiges und gewinnt Sensibilität für Bestimmtes (Luhmann, 1984, 184f.).“

Detlef Horster formuliert an dieser Stelle, dass dieses Phänomen der doppelten Kontingenz von Niklas Luhmann ganz offensichtlich als „starting point für die Bildung sozialer Systeme“ angesehen wird. Systembildung geschehe in der funktional differenzierten Gesellschaft „in der Stabilisierung relativ invarianter und auf die Umwelt bezogener Sinnstrukturen, die Kom-plexität reduzieren oder doch die Reduktion von Komplexität durch konkretes Verhalten erleichtern können“. Damit werden natürlich Ausblicke möglich nicht nur auf die übergeordnete Frage Luhmanns, wie denn trotz aller Probleme gesellschaftliche Ordnung möglich sei, sondern auch auf die spezielle Frage, wie denn ein so diffiziles und komplexes Phänomen wie Unterricht möglich sei.

3. Das Problem der Rationalität auf der Sachebene

Annette Scheunpflug stellt hier zunächst einmal die Frage, wie Lehrer denn überhaupt rational handeln können. In der Logik dieser Fragestellung liegen Folgeprobleme, nämlich die Frage der Bestimmbarkeit des Unterrichtserfolgs und die Frage der Planbarkeit von Unterricht. Beide Aspekte sind natürlich für eine mögliche Unterrichtsrationalität gleichermaßen von Bedetung. Auch wenn die Freiheit des Lernenden, zu lernen oder an etwas völlig anderes zu denken, die Verfügungsmöglichkeiten des Lehrers über den jeweiligen Unterrichtserfolg entscheidend begrenzt, ist damit natürlich keineswegs die Auffassung legitimiert, dass Unterricht beliebig wäre. Auch für A.S. zeigt die empirische Unterrichtsforschung, dass die Unterrichtsorganisation Konsequenzen für den Lernerfolg hat und damit auch die Qualifizierung von Unterrichts als „gut“ oder „schlecht“ nahe legen:

„Unterricht ist zwar hinsichtlich des individuellen Lernerfolgs unverfügbar, aber er ist nicht beliebig hinsichtlich der Wirksamkeit des Lernarrangements.“

Hieraus folgert A.S., dass Unterricht nicht im strengen Sinne planbar ist, obwohl er geplant werden muss. Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr stellen der Erziehungswissenschaft die Frage, wie sie mit einem zentralen Reflexionsgegenstand, nämlich dem Unterricht, umgeht, wenn einerseits deutlich ist, dass Unterricht tagtäglich stattfindet und geplant werden muss, auf der anderen Seite sich der der Unterrichtsplanung zugrunde liegende Kausalplan als verkürzt und angesichts der Heterogenität von Schule als unzureichend erweist. Wie könnte also – fragt A.S. – eine Unterrichtsplanungstheorie aussehen, die diese Aspekte berücksichtigt?

 

(II) Was macht Unterricht möglich? – Systemtheoretische Reflexionsangebote

Wie ist Unterricht möglich? A.S. vertritt die Auffassung, dass sich die Attraktivität der Theorie von Luhmann und Schorr gerade im Zusammenhang mit dieser Frage ganz besonders entfalte, weil sie ein Verständnis unterrichtlicher Strukturen ermögliche, die von vielen Konzeptionen pädagogischer Reflexion häufig nicht interpretiert werden könnten, sonder eher zurückgewiesen würden.

1. Unterricht lässt sich durch eine bestimmte Form der Kommunikation beschreiben

Eine Kernthese, die Luhmann noch zuletzt – kurz vor seinem Tod – deutlich formuliert hat (Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: Luhmann/Lenzen Frankfurt 1997), beschreibt Unterricht als eine Kommunikationsform, „die über die Vermittlung von Wissen Lebenläufe an das soziale System anschlussfähig macht“. Nach allem, was bislang gesagt worden ist, lässt sich schlussfolgern, dass im Unterricht unterschiedliche Systemreferenzen aufeinander stoßen bzw. im besten Fall (sinnvoll) aufeinander bezogen sind: Biologische, psychische und soziale Systeme treffen aufeinander und beziehen sich jeweils selbstreferentiell in indirekten Kontaktmöglichkeiten aufeinander. „Beispielsweise nimmt das soziale System die Variationen seiner Umwelt selbstreferentiell wahr und produziert Variationen, die von umgebenden Systemen, der Klasse, dem einzelnen Schüler, der Lehrkraft selbstreferentiell selektiert werden... Im Unterricht wird gewissermaßen in die evolutionären Mechanismen eingeführt, die die spätere Teilhabe an Gesellschaft überhaupt erst ermöglichen (A.S., 76).“ Annette Scheunpflug zitiert Luhmann, indem sie auf eine Erwartungshaltung Bezug nimmt, die wir alle mit Schule in Verbindung bringen, insofern wir davon ausgehen, dass Menschen, mit denen wir es in unserem Kulturraum zu tun haben, lesen und schreiben können: „Im Unterschied zum konkreten menschlichen Individuum ist die Person ein Verkehrssymbol der sozialen Kommunikation, und die Erziehung hat dazu beizutragen, dass dieses Symbol im Gebrauch nicht zu Enttäuschungen führt (Luhmann in Lenzen/Luhmann, 2002, 39).“

Niklas Luhmann ist der Auffassung, dass Schülerinnen und Schüler durch Unterricht vor allem lernen, mit Variationen umzugehen, indem sie zum Beispiel eine andere Lebenswelt als die heimische erfahren und mit neuen Themen konfrontiert werden.

 
Umweltbezogenes Erleben
Systembezogenes Handeln
Einübung in Variation:
Kennenlernen von Kontingenz: 
Themenwechsel, fremde Kontexte
Kreativität, Individualität, eigene Meinung
Einübung in Selektion: 
Konzentration auf Themen:
Stellung beziehen, eigener Umgang mit Beurteilungen 
Urteilsbildung, Entscheiden
Einübung in Stabilisierung: Behalten, Erinnern Lernfähigkeit

Tab.1: Unterricht als Simulation von Evolution auf der Ebene der psychischen Systeme (nach A.S., 77)

Annette Scheunpflug deutet hier an, dass Schülerinnen und Schüler im besten Fall lernen, durch die Reflexion bzw. Neuordnung des erworbenen Wissens für ihre Umgebung neue Variationen zu produzieren: „Sie lernen mit vielen Arten von Selektionen umzugehen – mit Lob und Tadel, guten und schlechten Noten. Sie lernen, dass Lob nicht überheblich machen darf und Tadel keine Kritik an der ganzen Person bedeutet. Sie lernen, selbst Selektionen und Entscheidungen zu produzieren, Qualitätsmerkmale anzuwenden und selbst Stellung zu beziehen. Unterricht lehrt die Schüler, Wissensbestände zu behalten und zu erinnern (aber auch zu vergessen), und kultiviert das Erlernen von Lernfähigkeit... Das Problem, den Umgang mit Variationen und Selektionen zu lernen, stellt sich nicht nur für den Schüler, sondern selbstredend auch für die Lehrkraft (A.S., 77f.).“

2. Unterricht ist eine Interaktion unter Anwesenden

Was sonst, ist man geneigt zu fragen! Nun: „Alle Teilnehmer nehmen wahr, dass sie wahrgenommen werden“ – und darin besteht die Teilnahme... durch das ‚laufende Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens’ entsteht eine Gleichzeitigkeit des Beobachtens und des Verhaltens von Teilnehmern und damit ‚in gewissem Umfang eine Synchronisation des Verhaltens’ (Luhmann nach A.S., 78f.).“

Die Anwesenheit – so A.S. weiter – sei gleichzeitig im Hinblick auf die Beteiligungsmöglichkeiten an der Kommunikation geregelt: „Lehrkräfte dürfen immer kommunizieren, Schüler hingegen müssen sich melden. Diese asymmetrische Rollenverteilung ist für Unterricht konstitutiv und eine wichtige Bedingung für die Ermöglichung von Kommunikation im Unter-richt. Schließlich wird über sie die Generierung von Themen und anderen Kommunikations-offerten ermöglicht und organisiert... Durch diese Asymmetrie der Rollen unterscheidet sich Unterricht von Geselligkeit, und an ihr ermöglicht sich Entwicklung (A.S., 79).“

3. Unterricht bedingt Kommunikation über Themen

Wie in allen anderen didaktischen Modellen – mehr oder weniger – die Kommunikation über Themen als konstitutiv betrachtet werden kann, spielt dieser Aspekt auch in der systemtheoretischen Rekonstruktion von Unterricht eine entscheidende Rolle: „Nicht alles kann Thema des Unterrichts werden und vor allem nicht alles gleichzeitig... Hier wird ein wichtiges evolutionäres Prinzip der Systemausdifferenzierung deutlich: das Spezifischwerden von Bestimmtem bei gleichzeitiger Unempfindlichkeit für Vieles. Dadurch kann überhaupt erst eine thematische Vertiefung entstehen, die entsprechend zur Autopoiese anregt und Entwicklung ermöglicht.

4. Die Bestimmung von Erfolg und Misserfolg durch die Lehrkraft

„Erfolg und Misserfolg sind Selektionen durch die Umwelt, die im Unterricht durch das Han-deln der Lehrkraft simuliert werden. Von daher übt Unterricht durch Lob und Tadel in den Umgang mit Selektionen ein, die im Unterricht ja – entgegen dem ‚wirklichen Leben’ – pädagogisch vermittelt und damit reversibel sind (a.S., 80).“ Hier ergibt sich ein ganzes Bündel von Folgeproblemen, die A.S. in Anlehnung an Niklas Luhmann durchaus eigenwillig interpretiert. Die Grundfrage im Zusammenhang mit der Leistungsbeurteilung bleibt nach wie vor, wie denn Erfolg gemessen werden kann? Luhmann macht hier – in einer faktischen Allianz mit den Kritikern der tradierten Modelle – geltend, dass dies nur in Bezug auf die Entwicklung des einzelnen Schülers sinnvoll geschehen könne: „Weder die Interaktion noch die Gruppe der gemeinsam unterrichteten Schüler können als ‚Output’ des Erziehungssystems gelten. Sie haben für die gesellschaftliche Umwelt und fürs spätere Leben keine Bedeutung. Insofern ist auch gelingende Kommunikation kein ausreichendes Kriterium für die Bestimmung der Funktion des Erziehungssystems. Es geht tatsächlich nur um die Vorbereitung des Einzelmenschen auf sein späteres Leben, um seinen ‚Lebenslauf’ (Luhmann in: Lenzen/Luhmann, 2002, 47).“

A.S. bemerkt, dass angesichts dieser Situation die oftmals fehlende Objektivität der Benotung ein eher in den Hintergrund tretendes Problem sei. Schließlich gehe es darum, mit der Bewertung der eigenen Leistung durch die Umwelt umgehen zu lernen. Luhmanns Auslassungen dazu klingen mehr als ernüchternd: „Ein Beobachter wird daher häufig anderer Meinung sein, also zu anderen Urteilen oder Reaktionen tendieren. Davor schützen den Lehrer die Wände des Klassenzimmers und die Möglichkeiten, den interessierten Schülern (denjenigen, die sich für die Beurteilung interessieren) die Urteilskompetenz und die Unvoreingenommenheit abzusprechen (Luhmann in: Lenzen/Luhmann, 2002, 44).“

Das zusammenfassende Resümee wird dem ein oder anderen durchaus im Halse stecken bleiben, weil sich die angedeuteten Möglichkeiten in der eigenen Schulzeit eben nicht als Alternative erwiesen haben – „Pech gehabt“ wäre die eher zynische Kommentierung so mancher skandalösen Beurteilungspraxis: „Eine funktionale Analyse der Leistungsbestimmung in der Schule wird vor diesem Hintergrund deutlich machen, dass bei der Leistungsbeurteilung Gerechtigkeit nicht durch die einzelne Note, sondern durch die Möglichkeit der Reversibilität von Urteilen durch Lehrkraftwechsel, unterschiedliche Noten und Vermeidung von Extremfällen gewährleistet wird, nicht aber durch die Zuverlässigkeit jeder einzelnen Leistungsmessung (A.S., 81)."

 

(III) Unterricht als teleonomer Prozess

„Teleonomie die; -, ...iein: von einem umfassenden Zweck regierte und regulierte Eigenschaft, Charakteristikum“ (Duden „Fremdwörterbuch“, 4. neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Mannheim, Wien, Zürich 1982, S. 754)

Annette Scheunpflug eröffnet dieses letzte Kapitel ihres Nachdenkens über Unterricht aus systemtheoretischer Perspektive mit dem Hinweis, dass all diese Überlegungen in einen Blick auf Unterricht münden, der sich von vielen Theorieentwürfen der Didaktik grundlegend un-terscheide und für Didaktiker aufgrund seiner Abstraktion und Handlungsferne schwer nachvollziehbar sein dürfte: „Unterricht wird als soziales System einer neuen Emergenzebene von Kommunikation gedacht, die zu Kommunikationsformen eigenen Typs führt, die sich nicht direkt kausal auf die Intentionen der in ihm agierenden Personen zurückführen lassen (A.S., 82).“

Die für Lehrer gewohnte und vorherrschende Perspektive ist traditioneller Weise eine teleolgische: „Teleologie die; -: die Lehre von der Zielgerichtetheit und Zielstrebigkeit jeder Entwicklung im Universum oder in seinen Teilbereichen“ (Duden „Fremdwörterbuch“, 4. neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Mannheim, Wien, Zürich 1982, S. 754) Lehrkräfte – so A.S. – haben ein Ziel und setzen dieses um: „Der Blick auf Absichten handelnder Personen ist uns so vertraut, dass wir auch dann, wenn wir ein komplexes Geschehen reflektieren, an dem mehrere Personen beteiligt sind, dieses aus dem Blickwinkel einer handelnden Person beobachten und nach Absichten, Methoden und Zielen fragen (A.S., 82).“

Der entscheidende Schritt aus systemtheoretischer Perspektive ist nun, einer solchen teleologischen Kausalitätsvorstellung eine teleonome Entwicklungsvorstellung gegenüberzustellen. Damit können wir nach der Funktion eines Beobachtungsgegenstandes fragen. Teleonomes Denken – so A.S. – gehe von einem indirekten Wirkverhältnis aus, das sich über die Mecha-nismen von Variation und Selektion vermittele. Variationen und Selektionen sind in dieser Sichtweise Umwelten füreinander. Sie sind voneinander getrennt. „Die Richtung der Entwicklung wird dann nicht mehr durch die Zielperspektiven des Variationsangebots bestimmt, sondern durch die Selektionsofferten innerhalb eines Programms (A.S., 83).“

Wo liegen die entscheidenden Vorzüge einer solchen Beobachtungsweise? Wenn Unterricht als eine teleonome Struktur beschrieben wird, dann ist es nach A.S. möglich, den Entwicklungsprozess, der durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Handlungsabsichten, Vorerfahrungen, Interessen und Perspektiven zwischen Schülern und einer Lehrkraft entsteht, komplex zu beschreiben (vgl. A.S., 83). Operativ gesprochen bedeutet das: „Lehrkräfte offerieren Resultate von Entscheidungen, Selektionsofferten des Programms Unterricht. Diese stellen für die anwesenden Schüler eine Variation dar, die sie selbstbezogen selektieren, z.B. durch

•          durch Aufnahme, das heißt durch Lernen

•          durch Weghören oder

•          durch zurückweisende Kritik

 

Jeder Schüler wird aus Sicht der umgebenden Umwelt als ein System verstanden, das nach Maßgabe

•          eigener Vorerfahrungen

•          Interessen

•          eigenen Wissenshintergrunds oder

•          dummer Zufälle

diese Selektionsofferten wahrnimmt oder nicht (A.S., 83).“

Auf der anderen Seite produzieren Schüler kommunikative Variationen, die durch die anwesenden Mitschüler und die Lehrkraft selektiert werden, indem sie zum Beispiel durch Lob verstärkt, durch Tadel zurückgewiesen oder einfach überhört werden. Mit Annette Scheunpflug können wir Unterricht schließlich als ein lebendiges Geflecht der Kommunikation unterschiedlicher Systeme, die füreinander Umwelten sind, interpretieren, das unabhängig von den parallel in ihm gedachten oder explizierten Intentionen seine Richtung entfaltet.

„Diese Interpretation des Lehr-Lernprozesses geht von einer Beobachterperspektive aus, die das, was jeweils als System interpretiert wird, als teleologische Beschränkung über Intentionen aus dem jeweiligen Kontext interpretiert, die Umwelt des Systems aber als jeweils teleonome Erweiterung sieht. So handeln Lehrkräfte aufgrund vielfältiger Vorerfahrungen und aufgrund intentionaler Entscheidungen; ebenso wie Schülerinnen und Schüler sich als Personen mit Intentionen und Plänen erleben. Aus der Umweltperspektive geht die Wirkkraft für Entwicklung aber eben nicht von diesen Intentionen und Absichten aus (wie teleologische Theoriebildung unterstellt), sondern es ist vielmehr das Zusammenspiel aller Kommunikationen, das auf Lehrkräfte und Schüler einwirkt. Schülerinnen und Schüler erleben die Angebote des Unterrichts als Anregung zum Lernen und als Verhaltensaufforderung. Ebenso ergeht es Lehrkräften, für die Reaktionen von Schülern ebenfalls nach Maßgabe ihrer eigenen Disponibilität selbstreferenzielle Anregung und Verhaltensaufforderung sind (A.S., 83f.).“

Auf der Basis eines solchen Grundverständnisses lassen sich folgende Perspektiven begründen:

1. Unterricht als nicht beliebige Kommunikationsofferte deren Resonanz nicht determinierbar ist

Ob wir es mit Edmund Kösel (1993) die „Modellierung von Lernwelten nennen“ oder mit Jürgen Reichen ein Höchstmaß an Individualisierung im Rahmen eines differenzierten Werkstattangebots realisieren, Unterrichtsprozesse sind aus dem Blickwinkel teleonomer Theoriebildung Kommunikatinsofferten, deren Präsentation in den Händen der Lehrenden liegt, auf deren Rezeption sie aber keinen unmittelbaren Einfluss nehmen können.

Die Präsentation von Unterricht kann durchaus als Resultat eines teleologischen Prozesses gedacht werden, deren Resonanz ist allerdings ein teleonomer Prozess.

Annette Scheunpflug weist darauf hin, dass ein solches Bildungsverständnis die Einsicht in die Autopoiese der Schüler ernst nimmt, ohne in die (radikal-konstruktivistische) Falle zu tappen, keine Aussagen mehr zum Gegenstand und den Anforderungen des Unterrichts machen zu können: „Damit bietet diese Theorie auch eine Orientierung für die in der Postmoderne schwierig gewordene Auswahl von Unterrichtsinhalten. Sie wird als Planung von Variationsofferten verstanden, als eine Selektion unter vielen Aspekten – Fachaspekten, Zufällen, Bequemlichkeiten, Interessen, Erfahrungen etc. (A.S., 85).“

2. Unterrichtsplanung als Organisation von Anschlussrationalitäten für Selbstorganisation

„Diese Theorie bietet eine Interpretation des Planungsvorgangs von Bildungsangeboten als eine Planungsofferte des Unplanbaren. Planung wird damit als eine ‚Als-Ob-Fiktion’ (Vaihinger) enttarnt und deren Funktion als Organisation von Anschlussrationalitäten erkennbar (A.S., 85).“

3. Unterrichtsplanung als Organisation von Anschlussrationalitäten einer normativen Grundentscheidung

Zu Recht weist Annette Scheunpflug darauf hin, dass die Frage nach der Begründung von Lernzielen und Unterrichtsinhalten in einer postmodernen pluralen Gesellschaft, die keinen Wertekonsens mehr herstellen könne, zu einem für die Unterrichtstheorie gravierenden Problem werde. Wenn auch eine teleonome, evolutionäre Theoriebildung zwar selbst keine Lernzielbegründung liefern könne, so könne sie über deren Funktionalität doch immerhin das Maß an Plausibilität erhöhen („nämlich: das Weiterleben der Menschheit zu ermöglichen“). Das „gute Leben“ zu ermöglichen, sei ein Ziel, das Anschlussrationalitäten zu planen ermögliche. Mir persönlich (WR) scheint, dass man mit der Unterscheidung von Planung als einem nach wie vor teleologisch orientierten Prozess durchaus leben kann, solange man die systemtheoretisch angeregte Lektion beherzigt, die Resonanz darauf als teleonomen Prozess zu respektieren.

4. Verzicht auf die Erwartung, Lehren fördere gezielt das Lernen

Der folgenreiche Kernsatz für ein gewandeltes Selbstbild von Lehrerinnen und Lehrern liegt in der Schlussfolgerung, eine teleonome Theoriebildung verzichte darauf, das Lernen auf zielgerichtetes Lehren zurückzuführen: „Sie kultiviert die Erwartung von Vielfalt und macht misstrauisch gegenüber engen normativen Erwartungen. Eine teleonome Theoriebildung entlastet, da Lehrende sich damit nicht mehr für das Gelingen des Lehr-Lernprozesses allein ver-antwortlich fühlen müssen: Die Selektion von Bildungsofferten liegt nicht in ihrer Hand. Gleichzeitig werden aber auch klare Verantwortlichkeiten aufgezeigt; denn das Variationsangebot, die kommunikative Offerte, liegt in ihrer Hand (A.S., 86).“

Die Vorzüge einer solchen Perspektive dürften auf der Hand liegen. Annette Scheunpflug sieht zumindest zwei Richtungen: In erkenntnispraktischer Hinsicht ermögliche eine teleonome Theoriebildung – angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten der Aufrechterhaltung des sozialen Systems ‚Unterricht’ – einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung des Lehrberufs im Chaos postmoderner Beliebigkeit. In erkenntnistheoretischer Hinsicht ermögliche sie es, einige Vereinfachungen didaktischer bzw. schultheoretischer Theoriebildung sichtbar zu machen.

Die von Annette Scheunpflug reklamierte Forschungsperspektive zielt auf eine Allgemeine Evolutionstheorie, mit der sich das Zusammenwirken unterschiedlicher Systemreferenzen beschreiben ließe und für erziehungswissenschaftliche Zusammenhänge fruchtbar machen ließe:

“Für ein solches Projekt bestehen gute Aussichten, da die zugrundeliegenden Theorien jeweils evolutionärer Herkunft sind und insofern semantische Anschlussmöglichkeiten bestehen. Ob eine solche Theorieofferte allerdings Resonanz findet – das entscheidet die Umwelt (A.S., 87)!“

Teleologisches Denken   Teleonomisches Denken
 Kausalität über eine Ziel-Zweck-Mittel-Relation  Indirektes Wirkverhältnis über Variationen und Selektion
 Richtungsbestimmung über Zielperspektiven
 Richtungsbestimmung durch die Struktur,
innerhalb derer ein Angebot selektiert wird
 Lineare Perspektiven   Analytische Trennung von System und Umwelt

Tab. 2:Teleologische und teleonome Theoriebildung in vereinfachter Gegenüberstellung (nach A.S. a.a.O., S. 84)

 

Literatur:

Detlef Horster: Niklas Luhmann, München 1997

Dieter Lenzen: Irritationen des Erziehungssystems – Pädagogische Reaktionen auf Niklas Luhmann, Frankfurt 2004

Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002

Wolfgang Meseth u.a.:Kontrollierter Laissez-faire, in: Z.f.Päd. 2/2012, S.223-241

Annette Scheunpflug:    Das Technologiedefizit – Nachdenken über Unterricht aus systemtheoretischer Perspektive, in: Dieter Lenzen (s.o.)

   
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