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Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL I

Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)

Der erste Brief

Peter Härtling ist ja meinerseits eine späte Entdeckung. Der 1933 geborene Jungvolk- und HJ-Angehörige hat uns Nachgeborenen mit seiner Nachgetragenen Liebe ein Lehrstück geliefert darüber, wie total und radikal sich die Eingriffe eines Terrorregimes in die Biografien Heranwachsender (qua Sozialisation und Manipulation) auswachsen können. Er zeigt uns dann aber auch gleichermaßen, dass selbst ein hirn- und seelenverbrannter 13jähriger einen Weg findet – hinein in die Welt der Bundesrepublik, um dort Wegbereiter und Schrittmacher einer Demokratiekultur zu werden, und der im Verein mit anderen (dann irgendwann) alten weißen geistes- und seelenverwandten Männern und Frauen Bastionen baut gegen einen erneut Raum greifenden Rechtsextremismus. Bei alledem zeigt uns Peter Härtling seine Grenzen, seine Zerrissenheit beispielsweise in: Brief an meine Kinder (Stuttgart 1986).

Heute möchte ich an Peter Härtling erinnern mit meiner späten Entdeckung: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL – nicht zuletzt weil ich seit geraumer Zeit selbst Opa-Bär bin aus der Perspektive meiner bislang zwei EnkelInnen, Leo und Jule und am 5. Januar 2024 ist Anouk hinzugekommen! Für sie schreibe ich – seit sie sich ankündigten – Kladden mit Einträgen, Erzählungen, Erinnerungen und Briefen, die sie irgendwann vielleicht einmal interessiert zur Kenntnis nehmen. Es könnte ein Schatz sein. Peter Härtling – ein Schriftsteller von Rang – hält auf jeden Fall sprachlich eine Menge Anregungen bereit. Deshalb hier der erste Brief an Samuel, den kleinen Herrn (Seite 21-23):

Liebster Samuel, mein kleiner Herr, Du bist ein Adressat, wie ich ihn mir wünsche, Du kannst noch nicht lesen und wirst diese Botschaft erst später verstehen. Du hast keine Ahnung, warum ich Peter Weber erfand, um mit ihm in O’Bär verwandelt zu werden. Ich frage mich, wieso ich einen Narren an Dir gefressen habe, Kleiner Herr. Weshalb Du, kaum standest Du auf Deinen dünnen Beinchen und konntest ein paar Schritte machen, so entschieden in mein Leben tratst: Du hast Dich nicht eingeschlichen, Du bist selbstbewusst ein Freund geworden. Wobei es Dir egal ist, ob Du mir hilfst, mich verletzt, mich schützt. Du hast Dir O’Bär geschaffen, hast den alten dicken Opa, der nicht mit sich im Reinen ist, in eine Bilderbuchgegend gezaubert.
Ich erwarte, von Dir zu lernen; was Dich, abgelenkt von den Aufregungen sämtlicher Anfänge, nicht erstaunen wird. Neuerdings redest Du in einer Sprache, die ich silbenweis verstehen kann, gestikulierst mit Hintersinn, zeigst während des gemeinsamen Essens über den Tisch und rufst >Du dat< und bist entzückt, wenn ich zweisilbig antworte, ebenfalls den Arm auswerfe und auf Dich zeige. Dann lachst Du, kannst Dich gar nicht beruhigen und beendest das Lachen, indem Du die Hand vors Gesicht legst und Dich nicht mehr siehst. Mich auch nicht.
Es könnte sein, dass in dieses Spiel hinein die Wörter wachsen. Ich werde Dir helfen, und Du wirst mir helfen.
Mir fällt ein, dass ich Dir eine Schwäche noch nicht erklären konnte: Ich kann mich nämlich nicht zu Dir hinunterbeugen, kann mich nicht bücken, nicht vor Dich hinknien. Ich würde das Gleichgewicht verlieren. Du hast inzwischen eine Lösung gefunden: Du setzt Dich auf meinen Schoß, um die alte Schreibmaschine zu traktieren, sodass sich manchmal die Typen verhaken. Dann nehme ich Dich in die Arme, mein kleiner Herr, und verberge mein Glück. Sei mit einem fröhlichen >Du dat< gegrüßt von Deinem O’Bär.“

In Wenn Du noch eine Mutter hast I und II habe ich in Anlehnung an Ursula von der Leyens Idee des lebensbegleitenden Wärmespendens die Idee des Wärmetauschens formuliert. O’Bär und sein Enkel Samuel, der Kleine Herr, verlebendigen diese Idee. Und genau so erfahre ich die Welt seit der Geburt meiner Enkelkinder. Für Peter Härtling, der auch 2008 noch nicht mit sich im Reinen ist, verbindet sich die Erinnerung an seine Mutter mit dem vielleicht entsetzlichsten all seiner Traumata. Im Brief an seine Kinder schreibt er:

„Ich kam in den ersten Wochen des Jahres 1946 mit nichts in Nürtingen an. Ich besaß nichts, brauchte so gut wie nichts. Meine Mutter ließ mich laufen, gab sich keine Mühe mehr, die Ideen, die mir aus dem Kopf geschlagen worden waren, als haltlos, gemein und mörderisch zu erklären, wie sie es anfangs getan hatte, und Hoffnungen konnte sie mir nicht machen. Sie hatte alle Hoffnung aufgegeben. Nachdem sie Schlaftabletten genommen, ihr Körper sich drei Tage lang gegen das Gift gewehrt hatte, tauchte unerwartet und erst einmal unerwünscht ein Pfarrer, Martin Lörcher, auf. Er half mir, ihren Tod zu ertragen. Machte mir klar, daß Mutter für uns, Lore und mich, nicht mehr da sein würde (Seite 25).“

62 Jahre später erscheint O’BÄR AN ENKEL SAMUEL. Immer noch nicht mit sich im Reinen, öffnet Peter Härtling sein Herz und seine Seele weit – nein, der Kleine Herr schließt sie auf und öffnet ihm noch einmal eine neue Welt. Man ahnt, wieso Peter Härtling schreibt: „Ich erwarte, von Dir zu lernen; was Dich, abgelenkt von den Aufregungen sämtlicher Anfänge, nicht erstaunen wird." Und: "Ich werde Dir helfen, und Du wirst mir helfen."

Es ist das entwicklungsbedingte Hinauswachsen über die gegebenen, Zug um Zug sich ausschleichenden und auflösenden Beschränkungen, die uns so unfassbar faszinieren, die uns Alten noch einmal eine Welterschließung erlauben, über die wir längst so gnadenlos hinausgewachsen sind. Zur Welt kommen – zur Sprache kommen, wächst sich zu einem abenteuerlichen, originellen gemeinsamen Erleben aus. Das >Du dat< kommt der Entdeckung Amerikas gleich! (In unserer Pensionistasrunde - montagsmorgens - hat mir Horst zuletzt berichtet, wie sein Enkel Emil (mit seinen unterdessen 16 Monaten) dem Opa signalisiert, was er zum Frühstück haben möchte: Nicht Du-Dat, sondern Dattel, Dattel. Zielsicher zeigt er dann dem Opa, wo im Schrank sich die begehrten Datteln bfinden!).

Ich erinnere – ja es ist bereits Erinnerung -, wie ich mit Leo auf der Bank am oberen Heyerberg sitze und von Winningen aus der Polizeihubschrauber seine Einnordung Richtung A61 über unseren Köpfen vollzieht, und Leo ruft aufgeregt: Polizeihubei, Polizeihubei. Bei Jule, die jetzt zweieinhalb Jahre alt ist, scheint sich das Faszinosum des Spracherwerbs noch rasanter zu ereignen. Man verzeihe mir an der Stelle zwei kleine theoretische Einschübe, die dazu anregen könnten, das Motiv Peter Härtlings, von dem Kleinen Herrn lernen zu wollen, zu unserem eigenen zu machen.

Harald Welzer schreibt in Das kommunikative Gedächtnis:

"Das unablässige Sprechen in der sozialen Umwelt des Kindes liefert, obwohl es über weite Strecken nicht verstanden wird, ein Überschussmaterial, das zu gegebener Zeit verwendet werden kann [...] Man sollte übrigens nicht nur den funktionalen, sondern auch den emotionalen und ästhetischen Wert des Überschusses an sprachlicher Information sehen. Es gibt in bestimmten Entwicklungsphasen offenbar wenig Faszinierenderes, als dem dunklen Sinn von Worten und Wortverbindungen nachzusinnen, die man nicht versteht, die aber Assoziationen und Bedeutungen mitzuführen scheinen, die fesselnd erscheinen. Vielleicht liegt das Faszinierende auch darin, dass solche Worte und Wortverbindungen (furchterregende oder lustvolle) Emotionen mitschwingen lassen, ohne dass ihr semantischer Gehalt sich erschließen würde (Seite 88f.)." Beim Polizeihubei kommt dann beides zusammen!

Peter Sloterdijk merkt zu Beginn seiner Totenrede auf Niklas Luhmann fasziniert an:

"Es ist eine Trivialität, dass nicht zwei Kinder in einer gegebenen Pupulation beim Spracherwerb mit genau denselben Satzvorkommnissen konfrontiert sind, weil jede natürliche Sprache von ihren Benutzern unvorhersehbar variantenreich und ideolektalisch gefärbt verwendet wird, zudem nicht seltern fehlerhaft; und dennoch abstrahieren fast alle Kinder aus den verschiedensten Kollektionen von Mustersätzen mehr oder weniger präzise die Grammatik ihrer Muttersprache, so dass sie zumindest innerhalb ihrers Milieus oder ihrer Schicht eines Tages als linguistisch Erwachsene aufeinander zugehen können (Luhmann Lektüren, Berlin 2010, Seite 93)."

Teil II zu O'BÄR AN ENKEL SAMUEL hier!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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