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Peter Jordan: Kein schöner Land (München 2025 – dtv Verlagsgesellschaft, 153 Seiten)

Wer ist Peter Jordan? Zumindest ein von mir geschätzter deutscher Schauspieler, Jahrgang 1967. Arno Frank ist vier Jahre jünger; zuletzt ist er mir begegnet mit Ginsterburg (Stuttgart 2025 – Klett-Cotta, 427 Seiten). Peter Jordan ist 15 Jahre jünger, Arno Frank ist 19 Jahre jünger als ich – weit weg von mir und meiner Sozialisation in den 50er und 60er Jahren.

Zunächst einmal will ich meiner Enttäuschung Raum geben – vor allem Arno Frank gegenüber, der in einem SPIEGEL-ESSAY Erwartungen geweckt hat, die sein Roman nicht einzulösen vermag. Ginsterburg bleibt – trotz einiger eindrücklicher und sprachsensibler Milieuschilderungen merkwürdig unbelebt; die Figuren wirken leblos und flächig - ohne Tiefengrund. Die Einstreuung von Dokumenten vermag nur ansatzweise zu überzeugen. Was Arno Frank sozusagen in eigener Bedrängnis in seinem SPIEGEL-Essay zum Ausdruck bringt, wird durch seinen Roman nicht eingelöst.

Peter Jordan hat ein Büchlein - man könnte sagen: hingerotzt. Gleichwohl hat es mich sehr viel tiefer ergriffen und berührt als Arno Franks verschenkte 427 Seiten. Es hat mich im einleitenden Kapitel so sehr erfasst, dass ich versucht bin, es hier lückenlos wiederzugeben. Einleitend sei zu Peter Jordan vermerkt, dass die 153 kleinformatigen Seiten seines Büchleins vor allem auch durchdrungen sind von Mosaiksteinen, die sich biografisch und professionell bei Peter Jordan verdichten zu einer merkwürdig und auf ambivalente Weise abzutragenden Erbschuld. Diese Erbschuld kommt ihm nicht zu. Dennoch schleicht sie sich früh hinein in ein gewissermaßen habituelles Erbe, dem er nicht vollständig zu entgehen vermag. Im Gegenteil findet Peter Jordan auf einer professionellen Ebene, die auch eine mächtige Facette einer Broterwerbsbiografie aufweist, sowohl Bedrängnisse als auch Ventile für die Tatsache ein Deutscher des Jahrgangs 1967 zu sein. Dabei bilden die ersten sieben Seiten jene Grunderfahrung und jenes Motiv ab, dass man rein rationalistisch, rein generativ auf nüchterne Weise negieren könnte: „Das alles hat mit mir nichts zu tun“. Peter Jordan gelingt es, in einem Akt der Selbstentblößung etwas greifbar, fühlbar und auf bedrückende Weise in unsere Alltagswelt zu zaubern – besser zu injizieren, was uns 80 Jahre nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches – auf Deutsch gesagt – am Arsche vorbei gehen könnte. Er findet dafür folgende Auslassungen:

>„Papa, singen!“
Ich saß an Pauls Bett. Er war damals drei. „Nein, es ist spät, jetzt wird geschlafen.“ „Papa, bitte! Ein Lied!“ Er hatte dieses Buch in der Hand, von ich nicht wusste, wie es zu uns gekommen war. Eine illustrierte Sammlung deutscher Volkslieder für Kinder. Gekauft hatte ich es nicht. Vielleicht kam es aber vom Flohmarkt oder aus der Kita oder wir haben es von anderen Eltern übernommen oder es lag in einem Karton auf der Straße mit einem Zettel – zu verschenken –. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, deutsche Volkslieder für Kinder zu kaufen. Nie im Leben. Paul wusste das nicht, er hatte es in der Hand, sah sich die Bilder an und versuchte noch was aus dem Abend rauszuholen, bevor es endgültig ans Schlafen ging. Kinder sind da nicht wählerisch, Hauptsache, es passiert noch was.
Ehrlich gesagt, dachte ich mir in dem Augenblick: bitte nicht. Ich will jetzt hier nicht mit deutschem Volksgut anfangen müssen. Aber natürlich fragte ich ihn: „Welches möchtest du denn hören?“, als Vater hat man keine andere Wahl. Entweder Vorlesen, Kakao, Quartett oder am besten alles zusammen und gleichzeitig. „Such du eins aus!“ Er drückte mir das Buch in die Hand. „Also gut, hm,  wie wäre es mit Hänschen klein, das können wir gemeinsam singen?“ „Nein. Anderes“, er nahm mir das Buch ab, blätterte, „das.“ „Kein schöner Land? Bist du dafür nicht noch ein bisschen zu klein, das ist…“
„Singen, Papa!“
„Puh. Ja gut, meinetwegen.“
Und ich sang. „Kein schöner Land in dieser Zeit, / als hier das unsre weit und breit, / wo wir uns finden / wohl unter Linden / zur …“
Die erste Strophe ging noch ganz gut, aber etwas berührte, irritierte mich. Dann sang ich die zweite, dann die dritte, die vierte – „Nun, Brüder, eine gute Nacht, / der Herr im hohen Himmel wacht! / In seiner Güten / uns zu behüten / ist er bedacht“ – und dann stockte ich, setzte erneut an und hörte schließlich auf, weil ich auf eine seltsame Art nicht mehr konnte.
Mir versagte tatsächlich die Stimme und Paul fragte: „Warum weinst du denn, Papa?“
Ich hatte noch gar nicht gemerkt, dass mir einzelne Tränen gekommen waren. Und es hörte nicht mehr auf, ich heulte los und konnte es nicht verhindern. Irgendwann riss ich mich zusammen und antwortete: „Das Lied ist schön. So schön, dass ich weinen muss. Manchmal ist das so im Leben, dann sind Dinge so schön, dass man weint.“
„Ich finde es auch schön“, sagte er. „Nochmal! …“
Ja, das Lied war berührend, die Melodie kannte ich natürlich, wenn auch nur als fernes Echo, den Text hätte ich nicht mehr hinbekommen, den hatte ich ja im Buch vor mir. Aber natürlich war die Schönheit des Liedes nicht der Grund für mein Weinen. Jedenfalls nicht der einzige. Ich wusste nur nicht, was es genau war. Aber ich brauchte schnell eine Erklärung für Paul. Kinder brauchen immer schnell eine Erklärung, wenn Eltern weinen. Zumindest die, dass sich nicht daran schuld sind, sondern etwas anderes. Ich hoffte, er würde es nicht merken, dass ich es nicht wirklich erklären konnte. Ich sagte, dass jetzt Schluss sei, wünschte ihm eine gute Nacht, löschte das Licht und ging aus dem Zimmer. Er protestierte natürlich, weil das Abendprogramm dadurch seiner Meinung nach zu bescheiden ausfiel, aber vor allem protestierte er, weil er merkte, dass ich log. Kinder spüren das. Er merkte, dass ich aus einem anderen Grund traurig war. Einem Grund, den ich ihm nicht erklären konnte, weil ich ihn mir selbst erst mal erklären musste. Ich schämte mich. Schämte mich, vor meinem Dreijährigen zu weinen. Schämte mich, in meinem Alter überhaupt zu weinen, schämte mich, als souveräner, sorgender Vater mein Kind auf diese Weise in die Nacht zu entlassen.
Später an diesem Abend, das Gefühl verließ mich lange nicht, begann ich zu ahnen, warum mir die Tränen gekommen waren. Die Melodie war getragen und schön, der Text gehoben, pathetisch, beides berührte mich, aber traurig war ich darüber, wirklich traurig, dass ich die zweite, dritte, vierte und fünfte Strophe dieses Liedes nicht kannte. Eine seltsame Ahnung überkam mich, mit diesen Strophen in etwas vorzudringen, dessen Verlust mir wehtun würde. Eigentlich ein Widerspruch in sich, denn ich fürchtete etwas zu verlieren, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es besaß. Aber doch war es irgendwie da.
Ich spürte die Trauer um den Verlust der eigenen Kultur. Der deutschen Kultur. Als Jugendlicher konnte ich meine Mitschüler, meine Freunde, meine Kommilitoninnen und Kommilitonen jeden englischen Hit auswendig. Ein Freund von mir war die Inkarnation von Jaques Brel und auch die italienischen Liedermacher wurden von uns oft und gern bemüht. Aber wir konnten kein deutsches Volkslied. Keins. Die erste Strophe von einigen, wenigen, aber keines in ganzer Länge. […] Wenn man uns gefragt hätte und wenn wir nachgedacht hätten, hätten wir geantwortete, dass wir uns der eigenen Kultur schämten. Diese deutschen Lieder, Volkslieder, hatte etwas Reaktionäres an sich, sie muffelten volkstümliche Biederkeit, erinnerten an das Deutschsein an sich. Und damit an die Verbrechen von uns Deutschen. Deutschsein hieß Schuld. Wir wollten keine Deutschen sein, deren Vorfahren für den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust verantwortlich waren. Wir wären gern Engländer gewesen, Italiener, Spanier, irgendwas Cooles, im Urlaub haben wir gehofft, man hielte uns für Schweizer, Holländer, Dänen, wir wollten alles sein, alles andere, aber keine Enkel und Kinder von Nazis. […] Meine Kindheit war normal, kein Trauma weit und breit – wie mir scheint –, doch sobald ich mir der Vergangenheit meines Volkes bewusst wurde, passierte etwas. Ich wurde das nicht mehr los. Konnte man die deutsche Kultur noch schön finden nach alledem? Wenn nach Auschwitz keine Lyrik mehr möglich sein soll, kann man sich dann der davor entstandenen deutschen Gedichte noch erfreuen?
Volkslieder jedenfalls gingen nicht mehr für mich und meine Freunde. Und plötzlich, als Paul mir das Buch in die Hand drückte und „singen“ befahl, stellte sich mir diese eine Frage zum ersten Mal: Konnte man sich oder den Kindern noch Volkslieder beibringen, ohne daran zu denken, dass diese auch von dem Mitgliedern der Erschießungskommandos gesungen wurden? Von ganz normalen deutschen Männern …
Die in Jahrhunderten entstandene, geschaffene deutsche Kultur hatte für mich über Jahrzehnte einen ungenießbaren Beigeschmack. Aber als ich meinem Sohn vorsang, war dieser Beigeschmack weg. Einfach weg. Für eine kurze Zeit. Natürlich war nichts bewältigt oder gar gelöst, aber für diesen einen Moment schien das Lied irgendwie unbelastet und schön. Aber das stimmte natürlich nicht, denn einfach so hatte ich nicht zu weinen begonnen. Ich hatte wohl eine Ahnung davon bekommen, was ich mir, was wir uns, was sich die Westdeutschen meiner Generation versagt und wogegen wir uns gesträubt hatten.
Ich fing an zu überlegen, wann das alles bei mir angefangen hatte und warum
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Das ist der Auftakt zu Peter Jordans Büchlein, dessen Klappentext potentielle Leser:innen durch folgenden Hinweis lockt bzw. abschreckt - je nach dem:

„Denk ich an Deutschland – manchmal frage ich mich, wie ich meinen beiden Kindern das Deutschsein vermitteln soll. Die Schule hilft, vieles bringen sie mit und fragen zu Hause. Aber irgendwann wird es so sein, dass sie die Dimension der Verbrechen begreifen. Immerhin werden sie mich dann nicht mehr fragen, warum ich >das zugelassen< habe. Ich bin raus, sozusagen. Die Gnade der späten Geburt (die Älteren unter uns erinnern sich). Aber ich bin Deutscher, und sie wissen, dass Opa noch im Panzer gesessen ist und in Kriegsgefangenschaft war. Also muss ich vorbereitete sein.“

Es ist jener Peter Jordan, der in der Wannsee-Konferenz jenen Dr. Alfred Meyer spielt, der sich mit der Initiative positioniert, auch die jüdischen Mischlinge müssten der Endlösung zugeführt werden.

Ich belasse es einstweilen bei diesen ersten spärlichen Hinweisen, bevor ich Kein schöner Land auch noch einmal in einer eigenen biografischen Einordnung vortragen bzw. kommentieren werde.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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