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Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte (Jorge Luis Borges)


Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen,
ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin.,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen,
ich würde nicht so gesund leben,
ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben.
Nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie… ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.

Eine Wiederentdeckung – entnommen: Diana Drexler, Gelassen im Stress – Bausteine für ein achtsames Leben, Klett-Cotta – Stuttgart 2006, Seite 158 (Das Buch von Diana Drexler werde ich an gesonderter Stelle vorstellen).

Familie-soziologisch-therapeutisch-alltäglich

In die neue Rubrik des ZEIT-Magazins Was ich gern früher gewusst hätte schau ich sporadisch hinein. Ian Mc Ewan hat mich beeindruckt, aber vermutlich nur, weil ich ähnlich denke und fühle wie er. Im aktuellen ZEIT-Magazin hat Marina Abramovic Gelegenheit uns ihre Erkenntnisse mitzuteilen. Die ersten beiden Auslassungen lauten:

"Du kannst die Familie, in die du heineingeboren wurdest, hinter dir lassen" bzw.

"Die wahre Familie ist die, die du dir selbst schaffst".

Es stehen auf dieser Seite einige durchaus bedenkenswerte Anregungen. Und man mag mit der 1946 geborenen, weltweit aktiven und aufgrund ihrer aufsehenerregenden Performances beachteten Künstlerin Nachsicht üben, ihr meinetwegen eine gewisse Altersblindheit zugestehen. Und es kommt eben nicht von ungefähr, dass Marina Abramovic wenige Zeilen später meint:

"Physische Schmerzen zu ertragen und sie zu überwinden ist verhältnismäßig leicht, psychische Schmerzen sind eine weitaus größere Herausforderung."

Paulina Czienskowski - Das ist mutig

Ich bin ein langsamer Wegwerfer. Deshalb umgibt mich auch immer die bedrohliche Aura des Zeitungsmessis. Im Zeitungsmüll entdecke ich Entdecken vom 23. Februar ZEIT (9/23) - schon wieder Zeitungsgalaxien entfernt.

Paulina Czieskowski – das ist mutig, denke ich, sehr mutig. Eine langer Titel: 52% aller Mütter haben laut einer Umfrage das Gefühl, im ersten Jahr mit ihrem Baby zu versagen. Hier erzählt eine, was das bedeutet. Schon der erste Satz enthüllt den ganzen Irrsinn eines selbstbildbezogenen Wahnsinns in der Postmoderne, wenn die Mutter schreibt:

„Jetzt schreibe ich darüber ein Baby zu haben, weil ich ein Baby habe. Manche werden sagen, ich hätte nichts anderes zu erzählen.“

Mir fällt dazu nur ein: Jede Mutter, jeder Vater, jede Großmutter, jeder Großvater sollte darüber schreiben, was es bedeutet, Mutter, Vater, Großmutter, Großvater zu werden, zu sein. Allein schon, um sich und anderen Rechenschaft zu geben darüber, was im Leben zählt. In einem Leben, das im Übrigen zu kostbar, zu aufwendig, zu lebenszehrend ist, um es auf Schlachtfeldern zur Schlachtbank zu führen. Die Unfassbarkeit, der Wahnsinn, der in Akten beruht, das zu zerstören, was Paulina Czienskowski – ohne dass ich ihr diese Absicht hier explizit unterstelle – stellvertretend für alle Mütter (und für so manchen Vater) in die Welt schreit. Dabei schreit sie doch nur ihre Versagensängste in die Welt! Aber dieser Schrei springt uns alle an, weil er offenbart, was es wohl (heute) bedeutet, Kinder in diese Welt zu befördern.

Für Winfried

Vor mir liegt Kästner für Erwachsene – Ausgewählte Schriften, Band vier (Atrium Verlag, Zürich 1983). Es handelt sich um Winfried Röslers Handexemplar, vielfach kommentiert und markiert; eine seiner Fundgruben zur inhaltlichen Gestaltung seiner Soirées und Vorträge. Ostern 2022 – vor einem knappen Jahr ist Winfried Rösler verstorben. Im Sinne Helga Schuberts möchte ich heute an ihn erinnern. Diese Vorstellung vom doppelten Weiterleben, wie es Volker Weidermann nennt (die Toten in uns und wir, nach unserem Tod, in den Lebenden), soll hier Gestalt annehmen, indem ich eine handgeschriebene Aufzeichnung Winfrieds wiedergebe. Ich übernehme sie originalgetreu aus einer seiner Kladden (und hoffe auf Nachsicht des einzigen Alemannen, den ich kenne – er beherrscht jenes Idiom, dem Winfried Rösler hier versucht die Ehre zu geben). Der zweite Text ist jenem erwähnten Handexemplar entnommen – aus Kästners Nachwort zu seinen biographischen Aufzeichnungen Als ich ein kleiner Junge war. Damit möchte ich beginnen (Hervorhebungen, FJWR) – und ich weiß, Winfried wird es gefallen:

Karfreitag 2023 - Eine Offenbarung

7. April 2023 – Karfreitag – nach einem kurzen Frühlingserwachen Karfreitagsstimmung mit Eintrübung, Nieselregen. Ich blicke von meinem Arbeitsplatz hinauf zum Heyerberg, seit fünf Jahren mein unfassbar privilegierter Ausblick mit den steilen Weinbergen vor Augen, die uns hier umgeben. Vor meinen Augen schultert Jesus das Kreuz - ich blicke von meinem Schreibtisch aus auf die zweite Station des Stationenweges - von Philipp Dott 1963 in dreizehn Stationen aufwendig gestaltet (in der Werkschau sind alle dreizehn Stationen fotografisch gut nachvollziehbar dokumentiert - weit nach unten scrollen). Heute morgen während des Frühstücks haben wir uns gemeinsam (zu zweit) an die Bedeutung des Karfreitags in unserer Kindheit erinnert. Auch wenn wir uns abgewendet haben von der Katholischen Kirche, bleibt unleugbar der tief habitualisierte kulturelle Einfluss unbestritten. Mühelos gelingt es mir die besondere Karfreitagsstimmung in Erinnerung zu rufen: Der Leidensweg Jesu war bildhaft tief in uns eingeschrieben. Der Karfreitag war der Tag der Trauer, des Innehaltens - für mich eindrücklich symbolisiert durch das Schweigen der Glocken. Die erklangen erst mit der Auferstehung des Gekreuzigten wieder. Sie trugen den Jubel in die Welt mit allen Glocken, die das Zeug hatten zu läuten; den tiefen, dumpfen, den basso continuo verbürgenden mächtigen Glocken bis hin zu den kleinen und kleinsten Glöckchen, die die Auferstehung Jesu für alle hörbar in allen Höhen und Tiefen erklingen ließen. Davon ist nichts geblieben als schale Erinnerung, der indessen jegliche Überzeugungskraft genommen wird. Die Kirche entfernt sich bis zur Unkenntlichkeit von uns.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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