Startseite
- Details
Siebenmeilenstiefel
Wie bemerkt Peter Härtling in seinem Altersbüchlein O’Bär an Enkel Samuel doch so treffend:
„Er redete (mit Samuel) – dem Erfinder einer Medusin, die mit keiner Nachwirkung drohte, über einen Widersinn, der ihm zu schaffen machte: Dass die Zeit nämlich viel rascher verflog als noch in den Jahren zuvor und dass der Raum, den er noch vor Jahren ohne jeden Widerstand durchmessen hatte, jetzt nur noch mit kleinen Schritten zu bewältigen war. So hatten sich Raum und Zeit verändert, und seine Vorstellung von seinem Befinden und seiner Bewegung auch. Darüber ließe sich vielleicht schreiben, auch anderen zur Erklärung und zum Trost.“
Erklärung und Trost? Ja, vielleicht! Zwischen dem nachstehenden Text, der von Wolfgang Loth’s Kolumne (unter der Rubrik: Kurz vor Schluss) angeregt wurde, liegen unterdessen knapp sieben Jahre. Auch mir kommt es so vor, als durchschreite ich Zeit mit Siebenmeilenstiefeln: Ja renn nur nach dem Glück - Doch renne nicht zu sehr - Denn alle rennen nach dem Glück - Und das Glück rennt hinterher (B. Brecht). Das Glück habe ich schon lange gefunden, und es ist eher der Gedanke, dass das Glück in absehbarer Zeit ohne mich auskommen muss, der mich beschäftigt. Und unversehens wird mir – wie weiland Peter Härtling – klar, dass das Glück offenkundig eher ein soziales Phänomen ist; etwas was Menschen teilen, und das dadurch irgendwie ganz erscheint – rund und ohne Ecken. Mein Leben ist immer runder geworden. Je näher der Schluss rückt, umso deutlicher steht das Glück mir nicht nur vor Augen, sondern nimmt mich für sich ein in meiner kleinen Welt. Kurz vor Schluss I, womit ich mich bedankt habe bei allen Menschen, die mein Glück mitbefördert haben und die Anteil haben/hatten an meinem Glück, habe ich Kurz vor Schluss II folgen lassen. Mit diesem Nachtrag habe ich mir mein Schuldenkonto angesehen und wollte wissen, was davon noch valutiert. Ich habe mich dabei von so mancher Last befreit. Übrig bleibt nun eine kleine Welt - inmitten ein kleines Wunderland - durch das ich nun auch noch als Großvater wandern darf. Es ist ein Glück dabei an der Seite Peter Härtlings wandern zu dürfen – eine Bestätigung dafür zu finden, dass wir uns tatsächlich um (nicht nur materielle) Hinterlassenschaft bemühen:
- Details
Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL IV
Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)
Der vierte Brief (hier gehts zum dritten Brief) – im Buch ist es der fünfte Brief
Ostern gerät zum Wendepunkt in der Schlüsselbeziehung zwischen O’BÄR und dem Kleinen Herrn. Die Familie trifft sich zum Osterfest bei den Großeltern, und das Fest gerät zu einer kleinen Katastrophe. Sechs quirlige Enkelkinder machen ordentlich Betrieb, und die Eltern ereifern sich über die Fülle der Geschenke mit dem Tenor, allmählich übertreffe Ostern Weihnachten. Da entsteht plötzlich ein logistisches Zuordnungschaos zum Beispiel mit der Frage, ob überhaupt darauf geachtet worden sei, dass sich die Namensschilder nicht von den Verpackungen lösten – „und am Kindertisch wurde von den Älteren, nicht ohne Zweifel an seiner Existenz, der Osterhase durch den Garten gescheucht und ihm alle Erwartungen und Wünsche aufgeladen“.
- Details
Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL III
Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)
Der zweite Brief (hier geht's zum zweiten Brief)
„Liebster Samuel, mein Kleiner Herr,
Deine Mama hat Euren Besuch angesagt. Zwei Wochen werdet Ihr zu Gast sein. Dein Papa, der dienstlich nach Indien Reisen muss, kommt Euch nach den Feiertagen holen. Unser Garten bereitet sich aufs Fest mit gelben Osterglocken und einem frischen Erbsengrün vor. Bloß das Wetter passt nicht. Gestern schneite es, und ich fürchtete, dem Osterhasen würde der Pommelschwanz als Frostbeule abfallen. Wenn es schneit oder hagelt, können wir uns neuerdings zurückziehen, denn uns steht ein Dach zur Verfügung, ein richtiges Häuschen, eine Hütte, die zwar noch aufgebaut werden muss. Von O’Bär! Er hat sich vorgenommen, Zimmermann und Baumeister zu werden. Oder Dachdecker und Zementgießer. Denkt sich alle die zusammen, bekommt er das große Fracksausen. Weißt Du, was das ist? Es ist die Angst, die man nur heimlich hat, die man nicht zeigt. Vielleicht heißt die so, weil Dirigenten, die laute Musik mit vielen Musikern machen, eine lange schwarze Jacke tragen, den Frack, und vor jedem Konzert saust ihnen die Angst in den Frack, ohne dass es das Publikum merkt.
Auch Dir soll meine Angst nicht auffallen. Ich will nicht, dass Du sie mit mir teilst. Obwohl ich weiß, dass Kinder- und Greisenangst einander gleich sind. Kinder wie Alte sind nämlich nicht imstande, sich ihre Angst zu erklären. Sie überfällt sie unmittelbar und ohne Voraussetzung.
Manchmal, tagsüber, höre ich Deine helle durchdringende Stimme durchs Haus wandern, Du hast sie mir hinterlassen und redest und redest. Ich höre Dir nicht zu, verstehe Dich nicht, weiß aber, mein Kleiner Herr begleitet mich.
- Details
Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL II
Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)
Der zweite Brief (hier geht's zum ersten Brief)
O’Bär und den Kleinen Herrn trennen einige hundert Kilometer voneinander. O’Bär – so mitten in den Siebzigern – ist nicht mehr ganz fit. Im ersten Brief konnten wir davon eine Ahnung bekommen. Briefe sind eine Möglichkeit schriftlich nachvollziehbaren Kontakt zu halten – im Übrigen nicht nur über erhebliche räumliche Distanz, sondern auch die Zeiten überdauernd. Wie O’Bär bereits im ersten Brief andeutet, manche Botschaft wird der Kleine Herr erst später verstehen. Und dennoch mischen sich in den Briefen des alten, dicken Opas Episodisches mit Grundsätzlichem, wie der zweite Brief dann auch zu erkennen gibt (Hervorhebungen, FJWR):
- Details
Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL I
Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)
Der erste Brief
Peter Härtling ist ja meinerseits eine späte Entdeckung. Der 1933 geborene Jungvolk- und HJ-Angehörige hat uns Nachgeborenen mit seiner Nachgetragenen Liebe ein Lehrstück geliefert darüber, wie total und radikal sich die Eingriffe eines Terrorregimes in die Biografien Heranwachsender (qua Sozialisation und Manipulation) auswachsen können. Er zeigt uns dann aber auch gleichermaßen, dass selbst ein hirn- und seelenverbrannter 13jähriger einen Weg findet – hinein in die Welt der Bundesrepublik, um dort Wegbereiter und Schrittmacher einer Demokratiekultur zu werden, und der im Verein mit anderen (dann irgendwann) alten weißen geistes- und seelenverwandten Männern und Frauen Bastionen baut gegen einen erneut Raum greifenden Rechtsextremismus. Bei alledem zeigt uns Peter Härtling seine Grenzen, seine Zerrissenheit beispielsweise in: Brief an meine Kinder (Stuttgart 1986).
Heute möchte ich an Peter Härtling erinnern mit meiner späten Entdeckung: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL – nicht zuletzt weil ich seit geraumer Zeit selbst Opa-Bär bin aus der Perspektive meiner bislang zwei EnkelInnen, Leo und Jule und am 5. Januar 2024 ist Anouk hinzugekommen! Für sie schreibe ich – seit sie sich ankündigten – Kladden mit Einträgen, Erzählungen, Erinnerungen und Briefen, die sie irgendwann vielleicht einmal interessiert zur Kenntnis nehmen. Es könnte ein Schatz sein. Peter Härtling – ein Schriftsteller von Rang – hält auf jeden Fall sprachlich eine Menge Anregungen bereit. Deshalb hier der erste Brief an Samuel, den kleinen Herrn (Seite 21-23):