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Peter Härtling: Hallo Opa – Liebe Mirjam, Weinheim 2013
Ein kleines Büchlein, das noch kleiner wird, da es die Geschichte in E-Mails erzählt; die Wiedergabe eines Mail-Austauschs zwischen dem knapp achtzigjährigen Opa und seiner 14jährigen Enkelin Mirjam - Für Hannah und ihre Cousinen - steht in der Widmung. Es ist das alte Thema eines weitgehend vertrauensvollen Austauschs zwischen einem alten Mann und einer seiner Enkelinnen, die sich von ihren Eltern missverstanden und über die Maßen gegängelt sieht. Der Opa lässt sich auf diese Form eines schnellen Hin und Her ein – aus guten Gründen: Er ist zwar alt – auch schon sterbensalt -, aber er bemerkt (und thematisiert dies auch), dass die Zeit des Briefeschreibens vorbei ist. Und so wechseln auf 66 Seiten Mails die Adressaten und lassen ansatzweise und wechselseitig Blicke zu in füreinander inkompatible Welten – auf den ersten Blick. Man kann Peter Härtling zugestehen – das Büchlein wird in seinem achtzigsten Lebensjahr veröffentlicht -, dass er tunlichst vermeidet, die wechselseitigen Anschlüsse als idealtypische Sprechakte zu verbrämen. Sie sind teilweise – vor allem seitens Mirjams – so egomanisch und selbstreferentiell angelegt, dass eher der gegenteilige Eindruck entsteht. Gegen Ende relativiert sich dieser Eindruck dann allerdings durch eine dramatische Wende.
Opa ist vor allem die Facebook-Kommunikation seiner Enkelin ein Dorn im Auge. Aber er bemerkt sehr schnell, dass Mirjam in galaktisch beschleunigter Form jenes Mobbing erfährt, das auch ihm als Heranwachsender das Leben zur Hölle gemacht hat, weil ihn seine Mitschüler versuchten „fertigzumachen“. Ob allerdings Mirjam seinem Rat folgt,
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Zwischen Einsicht und Larmoyanz
Karl Ove Knausgard - Lieben, 15. Aufl., München 2013 (Originalausgabe: Oslo 2009)
„Ertrug ich den schrillen, kranken Ton nicht, der überall in der Gesellschaft erklang, der von all diesen Pseudo-Menschen und Pseudo-Orten, Pseudo-Ereignissen und Pseudo-Konflikten ausging, durch die wir lebten, all das, was wir sahen, ohne daran teilzunehmen, sowie die Distanz, die das moderne Leben dadurch zu unserem eigenen, eigentlich unverzichtbaren Hier und Jetzt geschaffen hatte? Wenn es so war, wenn ich mich nach mehr Wirklichkeit, mehr Gegenwart sehnte, müsste ich dann nicht bejahen, was mich umgab? Und mich nicht ausgerechnet davon fortsehnen? Oder reagierte ich vielleicht auf das Vorgefertigte an den Tagen in dieser Welt, auf diesen Schienenstrang der täglichen Routine, dem wir folgten und der alles so vorhersehbar machte, dass wir in Volksbelustigungen investieren mussten, nur um einen Hauch von Intensität zu verspüren? Wenn ich zur Tür hinausging, wusste ich jedes Mal, was passieren, was ich tun würde. So war es im Kleinen, ich gehe zum Einkaufen in den Supermarkt, ich setze mich mit einer Zeitung ins Café, ich hole die Kleinen im Kindergarten ab, und so war es im Großen, vom ersten Einschleusen in die Gesellschaft, dem Kindergarten, bis zum abschließenden Ausschleusen, dem Altenheim […] Und Europa, das immer mehr zu einem einzigen großen und gleichförmigen Land zusammenwuchs. Das Gleiche, das Gleiche, alles war gleich. Oder ging es womöglich darum, dass das Licht, das die Welt erleuchtete und alles in ihr verständlich erscheinen ließ, ihr gleichzeitig jeglichen Sinn entzog? Lag es vielleicht an den verschwundenen Wäldern, an den ausgestorbenen Tierarten, an den alten Lebensweisen, die niemals zurückkehren würden?“ (S. 87ff)
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Peter Sloterdijk - Ekel als politische Evaluationskategorie?
Kleine Kostprobe vorweg - Peter Sloterdijk am 5. April 2015: "Im Ernst gefragt: Wer würde heute gern ein Teil Rußlands werden? Worin besteht der kulturelle Charme des dubiosen Landes? Was könnte Nicht-Russen zu einem russischen modus vivendi hinziehen? Die Antwort ist eindeutig: Rußland ist als Magnetpol für kleinere despotische Systeme und Länder auf autokratischen Abwegen attraktiv – fast alles übrige an seiner Erscheinung erregt Abwehr und zivilisatorischen Ekel. Der ideologiebasierte Komplottstaat >Sowjetunion< hat sich nach einer labilen Übergangsphase in den postsowjetischen Komplottstaat Russische Föderation verlängert. Als einzigen Attraktor hat sie Bündnisangebote für Staatsfiktionen mit analogen Komplottregierungen zu bieten. Wer wissen will, was Rußland ist und will, braucht nur die Nachrichten über die Bombardierung von Kliniken in Syrien durch die russische Luftwaffe zu konsultieren. Die Führung Rußlands hat nie aufgehört, sich als in einem Krieg befindlich zu denken – vor allem im Krieg mit der USA-geführten Nato, was zur Konsequenz hat, das zivilethische Kriterien außer Kraft gesetzt bleiben. Wer immer Krieg führt, kommt aus der moralischen Enthemmung nie heraus.“
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Jean Améry: Über das Altern Revolte und Resignation
und das lebensbegleitende Damoklesschwert des mors certa - hora incerta, ergänzt durch aktuelle literarische Befassungen
Im Vorwort zur vierten Auflage seines Versuchs Über das Altern – Revolte und Resignation (Klett-Cotta, Stuttgart, erstmals 1968) wendet sich Jean Améry gegen die Kritik eines bei der Erstauflage schon recht betagten Herrn, der ihm ungefähr dies vorhielt: „Was könne denn, so meinte er, dieser >junge< Mensch von 55 Jahren, J.A., vom Altern und dem Alter verstehen? Was nehme er sich da heraus?“
Jean Améry meint 10 Jahre später – beim Wiederlesen des Textes, dass er dem frohgemuten Greis zu seinem eigenen tiefen Leidwesen unrecht geben müsse:
„Wenn ich etwas erfahren habe in den vergangenen zehn Jahren, dann führt es mich eher zur Akzentuierung des damals Gesagten als zur Einschränkung. Es war alles um eine Spur schlimmer als ich es voraussah: das physische Altern, das kulturelle, das täglich lastvoller verspürte Heranrücken des dunklen Gesellen, der an meiner Seite herläuft und mich dringlich anruft, wie den Valentin Reimunds mit dem unheimlich intimen Wort: Freunderl, komm ...“
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Von einem närrischen Unternehmen
Auch für meinen Neffen, dessen Geburtstag unmittelbar vor uns liegt
Seit etwa zwei Monaten widme ich mich einer diskreten, kaum bemerkten Art, mich mit dem Vergehen der Zeit auseinanderzusetzen. Wir begreifen und erleben uns in einer streng habitualisierten Form des Zeitgeschehens: hinter uns Weihnachten, der Jahreswechsel, der dritte Geburtstag meiner ältesten und der Geburtstag meiner jüngsten Enkelin, vor uns der 62ste Geburtstag meines Neffen, mein eigener Geburtstag und der meiner Cousine (in Reich- und Sichtweite), der fünfte Geburtstag meines Enkels und die erneute Furcht vor einem Heißjahr – möglicherweise heißer als der vergangene Rekordjahr.
Nun stört mich der jung aus dem Leben geschiedene Jean Amery (1912-1978) auf, indem er sich auf den – Amery schreibt im Sommer 1968 (ja er markiert und schreibt sein Schreiben in die uns gewohnte Chronifizierung ein) – „in diesen Tagen (1968) schon uralten, vogelköpfigen Engländer“ bezieht und ein von ihm „aufgegebens, erheiterndes Paradoxon“ erneut in den Raum stellt (gemeint ist Bertrand Russell <1872-1970>):