Großeltern - Eltern und Enkel (mit Bezug auf Fulbert Steffensky) Teil I - Teil II hier
Wir kommen weit her
liebes Kind
und müssen weit gehen
keine Angst
alle sind wir bei Dir
die vor Dir waren
Deine Mutter, Dein Vater
und alle, die vor ihnen waren
Weit weit zurück
alle sind bei Dir
keine Angst
wir kommen weit her
und müssen weit gehen
liebes Kind
Mit diesem Text, den Heinrich Böll kurz vor seinem Tod für seine Enkeltochter Samay geschrieben hat, schließt Fulbert Steffensky seinen Brief an die Enkelkinder ab. Im Folgenden nehme ich Bezug auf diesen Brief und die unmittelbar davor platzierten Gedanken, die Fulbert Steffensky mit Letzte Lieben – GROSSELTERN UND IHRE ENKEL überschrieben hat; beides in: Fulbert Steffensky: Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2006 (RADIUS-Verlag), Seite 197-205 bzw. Seite 207-214
Vor allem mit seiner Schrift Mut zur Endlichkeit - Sterben in der Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) begleitet mich Fulbert Steffensky durch die Höhen, vor allem aber auch die Tiefen meines Lebens. Jeden Tag streife ich an einer Unzahl von Büchermetern vorbei; manchmal greife ich intuitiv nach einem Buch. So fiel mir heute die Schwarzbrot-Spiritualität in die Hände. Die Hymnen auf das Großvater- bzw. Großelternsein habe ich ja schon häufig angestimmt; zuletzt immer mehr unter dem Aspekt von Generativität, ohne die uns eine Erdung nicht gelingen mag (siehe dazu vor allem auch Alexander Kluge). Ich verbinde im Folgenden beide erwähnten Beiträge und bündele sie unter diesem Gesichtspunkt der Generativität (hier Teil I - Teil II in seperatem Beitrag). In der Suche nach Sinn finde ich hier jene elementare Bodenhaftung, die mir so unentbehrlich scheint. Hätte der Luftikus in mir in seinem Leben irgendetwas versäumt – im Rückblick Anlass dazu irgendetwas zu vermissen, ja dann käme mir das Bedürfnis nach Verankerung und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit vielleicht wie ein Kompensationsgeschäft vor. Aber dem ist nicht so (siehe Kurz vor Schluss I und Kurz vor Schluss II).
Fulbert Steffensky beginnt mit dem profanen, sattsam bekannten Phänomen der wetteifernden Großeltern:
„Jeder Großvater, jede Großmutter kennt die Lust, Geschichten von den Enkeln zu erzählen, und sie kennen die Ungeduld, wenn andere Großeltern von ihren Enkeln erzählen, wo man doch viel Interessanteres von den eigenen zu erzählen könnte. Großeltern sind Angeber und Übertreiber, und das ist das beste Zeichen ihrer Liebe.“ (S. 197)
In der Folge schildert Steffensky eine Ausgangslage, die mir Sinn gibt. Denn er betont, dass der Beginn seines Nachdenkens über das Verhältnis von Großeltern und Enkeln von der Vorstellung ausging, dass der Bruch der Traditionen auch den Bruch der Generationenkette zur Folge hätte. Er ließ sich alsbald mit einem Blick sowohl in die Literatur als auch in die bescheidene Forschungslage eines Besseren belehren:
„Es war atemberaubend, was mir an Großeltern-Enkel-Themen und Angeboten entgegenpurzelte […] Mit boshaftem Vergnügen habe ich die besten Überschriften gesammelt […] Hat die Zeit der Großeltern erst angefangen? Warum werden sie plötzlich entdeckt? Und was war früher anders?“ (S. 198)
Sein Blick in seine eigene Großelterngeneration führt unvermittelt zu einem völlig anders gearteten Rahmen im intergenerativen Miteinander. Seine Großeltern alleine hatten 59 (!) Enkelkinder:
„Ein persönliches Verhältnis haben diese Großeltern zu ihrer Nachkommenschaft sicher nicht haben können. Es war ja schon eine Aufgabe, die Kinder auseinander halten zu können […] Die Wärme der Geborgenheit spürte man nicht so sehr in der Zuwendung des Einzelnen zu einem Einzelnen. Geborgen war man in der Wärme des Rudels, dazu gehörten die Geschwister fast mehr als die Eltern und Großeltern.“ (S. 199)
Und noch auf einen anderen Umstand weist Steffensky hin: Aufgrund der rasant gestiegenen Lebenserwartung erleben erst heute viele Großeltern ihre Enkel 20 oder gar 30 Jahre, also fast ein Drittel ihrer eigenen Lebenszeit sind sie Großeltern.
Eine weitere überaus bedenkenswerte These formuliert Steffensky, indem er behauptet, Enkelkinder machten ihre Großeltern jünger, alberner und verliebter:
„Die Enkel bescheinigen einem oft liebenswürdig eine Art von Unerwachsenheit, beinahe von Unzurechnungsfähigkeit.“
Steffensky wäre aber nicht Steffensy, wenn er dies einfach so stehen ließe. Und die daran anschließende Frage hat es in sich:
„Es ist einerseits schön, dass die Rollen so durchbrochen sind. Ich frage mich allerdings manchmal, ob ich meinen Enkeln nicht mein Alter schuldig bin. Ich frage mich, ob wir Alten uns über die Generation der Kinder hinweg den Enkeln anbiedern mit einer Anbiederung, von der sie nichts lernen können. Wir sollen nicht nur die Spielkameraden unserer Enkel sein, sondern auch ihre Lehrer und Lehrerinnen.“ (S. 200) Und: „Der Mensch entdeckt sich, wenn er sich an Widerständen misst.“ (Saint-Exupéry)
Natürlich genießen wir es, wenn uns die Enkel jung machen, meint Steffensky. Andererseits zeigten sie uns unbekümmert, dass wir alt sind. Er schildert, wie er sich mit seiner Enkeltochter – sie war vier – ausmalte, was sein würde, wenn sie zehn wäre:
„Wir haben dies und das ersponnen, dann sagte sie liebenswürdig und unbekümmert: >Und du bist ja dann schon tot.< Die eigenen Kinder denken es, die Enkel sagen es. Meine Schwiegermutter wurde 87, sie war zuletzt hinfällig und wollte sterben. Zu ihrem letzten Geburtstag hat ihr eine Enkelin geschrieben: >Liebe Großmutter, ich wünsche Dir nicht, dass Du noch einen nächsten Geburtstag feierst.< Die Kinder haben es gedacht, die Enkeltochter hat es gesagt. In den Enkeln verlieben wir uns neu ins Leben, und sie sagen uns durch ihre Kindheit und Jugend, durch ihr Aufblühen, dass unsere Frist kurz ist. Darin sind sie unsere besten Lehrer.“ (S. 201)
Und Fulbert Steffensky legt auch Zeugnis davon ab, wo Konflikte zwischen Eltern und Großeltern offenkundig unausweichlich sind:
„Man hat den Enkeln gegenüber eine merkwürdige Unbekümmertheit. Habe ich als Vater darauf geachtet, dass die Kinder zeitig ins Bett kamen, so bin ich großzügiger mit den Enkeln. Habe ich darauf geachtet, dass sie außerhalb der Mahlzeiten nicht zuviel essen, so schleiche ich mich mit ihnen manchmal weg an die Elbe, und wir essen Kuchen […] Die Absichten der Eltern und die Unbekümmertheit der Großeltern ist oft genug der Grund für Konflikte zwischen Eltern und Großeltern.“ (S. 202)
Und Steffensky, der begnadete Prediger weist auf einen fundamentalen Mehrwert hin, der sich – wenn sie es denn gut machen – als außerordentliches Geschenk der Großeltern an die Enkel erweist:
„Erzählen – Erzählen heißt Zusammenhänge herstellen. Erzählen heißt aus den treibenden Bruchstücken des Lebens einen Fluss der Zeit und des Sinns zu machen. Wenn wir unseren Kindern erzählen, erschließen wir unseren Kindern Welten. Sie bleiben nicht in der stummen Gegenwart eingekerkert. Sie lernen, woher sie kommen und wohin sie gehen […] In den Geschichten unseres eigenen Lebens, die wir den Kindern nicht verschweigen, flüstern wir unseren Kindern zu: das Leben geht, es ist gut, und du kannst es loben. Du kannst dem Unglück entrinnen, wie Hänsel und Gretel der Hexe entkommen sind und wie Jona aus dem Walfisch gerettet wurde. Dass das Leben gut ist, lernt man nicht aus Argumenten, man lernt es aus Geschichten und Bildern. Wenn wir erzählen, sind die Geschichten mit einer Stimme verbunden […] Der Inhalt der Geschichte und die Wärme der Stimme trösten, ermuntern und überzeugen unsere Kinder.“ (S. 203)
Und dies noch einmal auf die Großeltern gemünzt:
„Wenn Großeltern von ihrem eigenen Schicksal und aus ihrem Leben erzählen, hören Enkel meistens lieber zu, als wenn ihre Eltern erzählen […] Vielleicht liegt es daran, dass sie die Geschichten der Eltern lange kennen und nur noch die Augen verdrehen, wenn sie sie wieder hören. Die Geschichten der Großeltern kommen aus einer so fremden und vergangenen Welt, dass sie schon wieder interessant sind. Sie erfahren eine Welt weit vor ihrer Welt […] Im Erzählen bergen wir uns wie unsere Kinder in die fremden alten Erfahrungen der Rettung gegen unsere Stunden der Verlorenheit und des Zweifels. Die Kinder brauchen dies wie das tägliche Brot.“ (S. 204f.)
Aber es geht noch sehr viel weiter: Lehren wir unsere Enkelkinder auf diese Weise, was Vergangenheit ist, so lehren wir sie – ob wir dies nun wollen oder nicht – auch, was Vergänglichkeit ist:
„Wenn wir als Großeltern gebrechlich werden, und wir werden es früher als wir es uns eingestehen, dann lernen die Kinder, dass das Leben endlich ist. Sie sehen, wie unser Gehör und unsere Augen schlechter werden; wie wir dieses und jenes nicht mehr essen dürfen; dass wir vergesslich werden (diese große Unverschämtheit, die uns angetan wird!); dass wir unseren ersten Schlaganfall haben und, schließlich, dass wir sterben. Welche illusorische Welt wäre es, wenn unsere Enkel nur die Welt der Jungen, Starken, Berufstätigen, Lebenstüchtigen und Schönen erlebten. Unsere Hinfälligkeit ist die letzte Lehre, die wir den Enkeln geben. Es ist keine leichte Lehre, wie den Tod zu lernen keine leichte lehre ist.“ (S. 205)
Fulbert Steffensky erinnert sich noch einmal an den Tod seiner Schwiegermutter:
„Sie wusste, dass sie starb, und sie wollte es. Am Tag vorher hat sie sich mit einer großen Geste von einem Enkel, unserer jüngsten Tochter, verabschiedet. >Es ist schön, dass du gekommen bist. Ich werde jetzt sterben<, sagte sie zu dem Kind. >Ich wünsche dir ein gutes Leben<. Die Sterbende umarmte und küsste das Kind mit schwacher Kraft. Welch ein Erbe für unsere Enkel, wenn wir selber mit einem Segen und in Würde abdanken können.“ (S. 205)