Meine Weihnachtsgeschichte 2024 (hier: die bebilderte Version aus 2023)
Vorbemerkung:
Bevor ich nun auch 2024 zum wiederholten Male meine Weihnachtsgeschichte anhänge, gibt es aktuell Trauriges und im Traurigen Versöhnliches zu berichten:
Am 3. Dezember 2023 – vor gut einem Jahr - haben wir im kleinen Kreis den 86sten Geburtstag meines Schwagers – (des ersten Mannes meiner Schwester) gefeiert. Den 87sten Geburtstag vor wenigen Tagen haben wir in der „Kleinen Perle“ in Bad Breisig begangen – jeder auf seine Weise, verteilt über den Tag (oder auch im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld eben durch Besuche im Pflegeheim). Der Jubilar hat im September 2024 einen Schlaganfall erlitten. Nach seiner ReHa bekam er einen Platz in besagtem Pflegeheim. Die große Familie betrachtete es als großes Glück und Segen, dass meine Schwester und mein Ex-Schwager sich eingehend versöhnt hatten, dass alle Reste von Hader und Ressentiments nun Vergangenheit waren. So hat auch meine Schwester ihn in Bad Breisig – einmal mit Astrid und einmal mit unserer Cousine Gaby besucht. Die Beglückung und die Erleichterung standen und stehen meinem Schwager jeweils ins Gesicht geschrieben, wenn man ihn darauf anspricht. In Gesprächen zeigt er sich – trotz aller eingetretenen kognitiven Beeinträchtigungen – erleichtert und mit sich im Reinen. Dass das nicht alle in der großen Familie so wahrnehmen und sehen können, mag man dem Umstand zuschreiben, dass nicht alle im Gleichschritt marschieren und dass möglicherweise jemand nicht bereit ist, seine lange gehegte und gepflegte Sonderrolle aufzugeben.
Innerhalb der Familie verbieten sich therapeutische Empfehlungen. Wolfgang Schmidbauer spricht denn in dem von mir hier verlinkten SPIEGEL-Interview nicht den einzelnen an, sondern der 83jährige Therapeut schöpft und beschreibt aus seiner jahrzehntelangen Praxis und Erfahrung jene Muster, die zu einer Dämonisierung der Eltern führen. Eigensinn und Kränkungserleben mag man jemandem zugestehen, der in seiner eigenen Welt lebt. Nachsicht ist allerdings dann fehl am Platz, wenn im Zuge der eigenen Opfermentalität Kinder/Enkelkinder in entsprechende fatale Dynamik einbegezogen werden. Ich stehe nicht nur unter dem Eindruck des Erfahrungsschatzes von Wolfgang Schmidbauer. Weit darüber hinaus zeigt mir Andreas Reckwitz, wie sehr der Umgang mit Verlusten ein Grundproblem der Moderne ist.
Kleine Einlassung am Rande: Wie schon zum 80sten Geburtstag meiner Schwester möchte ich an dieser Stelle – mitten im Advent – noch einmal erinnern und darauf hinweisen, dass meine Schwester kein leichtes Leben hatte (siehe Hildes Geschichte). Sie lebt seit mehr als zehn Jahren hoch über Ahrweiler auf Godenelter. Sie lebt dort selbstständig und führt ihren Haushalt ohne jede Unterstützung aus dem familiären Umfeld. Man könnte sagen, sie ist keine Last und entlastet ihrerseits, wo es von Nöten ist. Sie pflegt einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Es ist ihr schon in den Anfangsjahren auf Godenelter, in dieser hoch über Ahrweiler gelegenen Siedlung, gelungen, ein ziemlich steifes, verkrustetes Sozialmilieu von Akademiker- Beamten- und Unternehmerfamilien mit belebender Frische und originellen Ideen in positive Schwingung zu versetzen. Ob an Fastnacht oder zu jeder jahreszeitlich sich bietenden Form der Geselligkeit – zuletzt mit Adventssingen und Adventskaffee – meine Schwester genießt hohes Ansehen und allergrößte Wertschätzung. Ich denke oft, da kann sich manch eine® eine ordentliche Scheibe abschneiden. Ich begegne ihrer offenen und proaktiven Haltung mit Respekt und Achtung. Sie pflegt darüber hinaus in einem immer wiederkehrenden Ritual (fast) an jedem Samstag ein offenes Haus, indem sie ihre Enkelin und ihren Stiefenkel – samt Anhang – bekocht. Sie hat im Übrigen in selbstkritischer Haltung Fehler in den Jahren ihrer Trennung eingeräumt. Um wie Vieles informierter, gebildeter kommen hingegen die Angehörigen der Boomer-Genration daher. Wir alle sind empfindsam für Kränkungen, die uns in manchen Fällen ein Leben lang beeinflussen und prägen – wer ohne Kränkung ist, der werfe den ersten Stein, möchte man anmerken. Größe liegt ganz gewiss darin, Vergangenes nicht nur vergangen sein zu lassen, sondern im Bewusstsein eigener Fehler und Fehlleistungen Versöhnung anzustreben und zu ermöglichen. Vielen Dank liebe Ulla – Du hast Brücken über tiefe Gräben gebaut.
Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte
Die nachfolgenden Anmerkungen - insbesondere zum Interview mit Karin und Klaus Grossmann - sind als Einleitung zu verstehen. Sie sind im Advent 2023 entstanden und werden hier in Anführungszeichen und kursiv gesetzt.
„Selten hat der Advent uns seine Unmittelbarkeit mit einer solchen Intensität vermittelt, wie in diesem Jahr. Warten wir doch nicht – wie Millionen Menschen – auf die Geburt des Jesuskindes, wie in jedem Jahr; erwarten wie vielmehr die Geburt unseres dritten Enkelkindes im ausgehenden Advent. Auch wenn seine Eltern nicht herbergslos sind und auf der Suche nach Beistand, erfasst uns (Großeltern) Unruhe neben froher Erwartung. 2004 hat Karla das Licht der Welt erblickt, 2016 ist Mathilde geboren worden, 2019 Leo und 2020 Jule. Ob das fünfte Urenkelkind Hildes noch 2023 oder erst 2024 das Licht der Welt erblickt, steht wahrlich noch in den Sternen. (Anmerkung. Anouk ist am 5. Januar 2024 als unser drittes Enkelkind geboren worden!) Hilde ist die Urgroßmutter, bei der so vieles zusammenläuft und von der so vieles ausgeht. Lisa heißt die andere Urgroßmutter bei Leo und bei Jule. Sie hat uns 2020 verlassen. Und Theo und Leo sind die Urgroßväter – zumindest bei Matti, bei Leo und Jule der erste (Theo) und bei Leo und Jule (auch) der zweite. Ihr merkt, wir schauen hier nicht mehr familienbezogen, sondern wir haben die Sippe im Blick. Denn der/die neue Erdenbürger(in) macht Annerose zum dritten Mal zur Oma wie posthum Hans Josef zum Opa.
Übers Großelternsein habe ich viel geschrieben – wie auch übers Elternsein. Und diese Woche (54/23, Seite 36) schenkt uns die ZEIT in ihrer Gesprächsreihe (Forscherinnen und Forscher beantworten Fragen, die die Menschen bewegen) ein Gespräch mit Karin und Klaus Grossmann (81 bzw. 88 Jahre alt): Wie viel Nähe braucht ein Kind, Herr und Frau Grossmann? Hier einige Antworten aus 40 Jahren intensiver Bindungsforschung:
- Eine Frage nach dem Verhältnis von Bindung und Entdeckerdrang: Karin Grossmann: „Diese Frage ist so wichtig! In der breiten Rezeption wird die Bindungstheorie nämlich oft aufs Engsein, auf die Nähe reduziert. Die feinfühlige Unterstützung der Eigenständigkeit des Kindes wird vergessen. Sie ist aber wesentlicher Teil einer gelungenen Bindungsbeziehung.“ Klaus Grossmann: „Bindungsforscher veranschaulichen die Wechselwirkung mit dem >Kreis der Sicherheit<. Die Bezugsperson dient dabei als sichere Basis, aus der heraus das Kind die Welt erkundet. Wenn nötig bietet sie Hilfe an. Ist das Kind überfordert, kann es jederzeit zurück zu ihr und findet Schutz wie in einem sicheren Hafen.“ Karin Grossmann: „Die Balance ist entscheidend. Wenn das Kind sich wehtut oder Beruhigung braucht, sucht es die Nähe. Ist es auf Entdeckerkurs, braucht es die Bindungsperson nur im Hintergrund. Sicher gebundene Kinder bewegen sich völlig selbstverständlich zwischen diesen beiden Polen hin und her.“
- Verändert ihr eigenes Alter eigentlich den Blick auf ihr Forschungsthema? Karin Grossmann: „Für mich bestätigt sich immer mehr, wie bedeutend die frühen Bindungserfahrungen für das ganze Leben sind. Es gibt interessante Altersforschung, die zeigt: Wenn Eltern ihren Kindern eine sichere Bindung ermöglicht haben, kommt das im hohen Alter zu ihnen zurück, weil die mittlere Generation sich feinfühlig kümmert.“ Klaus Grossmann: „Mich interessiert immer stärker die gesellschaftliche Dimension. Ich sehe all die Probleme, die wir mit Extremismus, Antisemitismus, ja Menschenverachtung haben. Systematisch zu untersuchen, wie das mit vermeidendem Verhalten in der Kindheit korreliert, das würde mich reizen. Bowlbys Theorie war: Aggressivität resultiert aus einem nicht erfüllten Bedürfnis nach sicherer Bindung. Sie richtet sich aber nicht unbedingt gegen die Eltern, sondern sucht sich meist andere Ziele: fremde Menschen, die Gesellschaft.“
- Was versteht man unter einer starken Bindung? Klaus Grossmann: In der Forschung sprechen wir von einer sicheren Bindung. Sie entsteht, wenn ein Kind sicher sein kann, es wird gesehen und gehört – und es wird ihm geholfen, wenn es Hilfe braucht.“ Karin Grossmann: „Ständige Einmischungen und Nörgeleien am Kind sind damit nicht gemeint.“ Klaus Grossmann: „Es gibt (eben im Gegensatz) unsichere Bindungen. Dazu zählt ein vermeidendes Verhalten, das entsteht, wenn ein Kind keine Schwäche zeigen darf und negative Gefühle mit sich ausmachen muss. Es lernt: Nur wenn ich etwas leiste, werde ich angenommen – und kapselt seine Nähebedürfnisse ab.“
- In den siebziger Jahren haben sie die Bindungsforschung in Deutschland etabliert: Klaus Grossmann: „Damals beantwortete man die Frage nach der Nähe hierzulande noch anders: Babys sollten nicht verwöhnt werden, kleine Jungs nicht weinen, Kinder abgehärtete werden.“
Wer an der Kraft der Versöhnung nachhaltig zweifelt, weil im Verhältnis zu den eigenen Eltern vielleicht die eigene Wahrnehmung in erster Linie vermeidendes Verhalten der Eltern erinnert, dem mögen vielleicht die Hinweise und Phantasien des unterdessen über 90 Jahre alten Alexander Kluge hilfreich sein und erste recht der Beitrag Wolfgang Schmidbauers.
Weihnachten 2024
Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte - Meine Weihnachtsgeschichte 2024
(in Anknüpfung an ein altes Motiv aus: Komm in den totgesagten Park und schau, S. 172 und als Brücke zu einer neuen Auseinandersetzung mit "Hildes Geschichte")
Teil I: Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte
Nun begründe ich also auch hier eine kleine Tradition. Meine Weihnachtsgeschichte 2015 - also das, was seinerzeit hier aufgeschrieben habe - lass ich weitgehend unverändert stehen. So habe ich es 2017 gehalten und so halte ich es erst recht 2024 - allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass ich auch die "alte" Weihnachtsgeschichte einer redaktionellen Frischkur unterziehe. Die Überschrift zur "alten" Weihnachtsgeschichte ist grün unterlegt:
Schon 2016 war kein leichtes Jahr. Selbst die Geburt von Mathilde weckte zuallererst unsere Urängste; als Frühchen mit unter 1000g Geburtsgewicht meistert sie aber unterdessen ihren Weg ins Leben auf beeindruckende Weise. Es ist im Übrigen auch das Jahr, in dem Peter Valder im Alter von 70 Jahren verstorben ist. Der zweite bleibende Eindruck verband sich mit dem allzu frühen Tod von Andreas Krawitz. Sein Tod löste für manch einen von uns einen nachhaltigen Schock aus, während ich der Auffassung war, dass Abschiede wie der von Hilde Ackermann oder von Wilfried Jansen eher etwas Tröstliches hatten. Covid-19 hat die Welt verändert und uns in ihr. Der Tod unseres Freundes und Architekten, Henri Bujakiewicz, am 12.1.2018 kam zur Unzeit. Im August 2020 ist Claudias Mutter im Alter von 96 Jahren auch unter dem Einfluss der Schutzmaßnahmen verstorben (dazu nachstehend mehr). Winfried Rösler ist 2022 verstorben und Bodo Janssen Anfang des Jahres 2023.
Unterdessen schreiben wir das Jahr 2024. Und natürlich fährt einem der Schrecken in die Glieder und in den Kopf, wenn man all die zeitgebundenen Hinweise aus den vergangenen Jahren liest - zuvorderst die schrecklichen und bedrängenden Ereignisse, die mit dem 14. Juli 2021 verbunden bleiben: Bezogen auf den engeren Familienkreise war zu lesen, dass meine Schwiegermutter nach ihrem Oberschenkelhalsbruch im Dezember 2015, mit uns gemeinsam für eineinhalb Jahre unter einem Dach gelebt hat und Weihnachten im Kreis ihrer Familie feiern konnte. 2017 hat sie Weihnachten zum ersten Mal im Laubenhof verbracht. Dort lebte sie seit dem Juli 2017 - nach der Genesung von ihrem Armbruch im Mai. Sie hat dort auch ihren 95sten Geburtstag mit uns gefeiert und auch Weihnachten in den Folgejahren. 2020 war das erste Weihnachtsfest ohne Lisa. Sie ist am 6. August 2020 nicht an, sondern - wie ich sage - durch corona gestorben. 2019 - am 8. Mai - ist uns Leo geboren worden, den Lisa noch in ihren Armen gehalten hat. 19 Monate und eine Woche später, seine Schwester Jule. Und nun erwarten wir die Geburt unseres dritten Enkelkindes. Anouk ist am 5. Januar zur Welt gekommen, und 2024 erweitert sie unseren engeren Familienkreis als unser drittes Enkelkind. Je älter ich werde, umso deutlicher plädiere ich mit Odo Marquardt für ein Moratorium des Alltags!
Kleine Anmerkung: Der Begriff und die Möglichkeit eines Moratoriums – im Sinne einer Aufschub gewährenden Haltung innerhalb konfliktreicher und kontroverser Dynamiken – könnte manchmal hilfreich sein, wenn Menschen in Beziehungsnöten stecken, nicht wissen, ob das Alte zu Ende ist und etwas Neues beginnen kann. Im großen Familienkreis vollziehen sich in diesem Sinne Entwicklungen, die ich selbst in meiner tiefsten Lebenskrise (siehe hier) am eigenen Leibe erfahren und verspürt habe. Bei Gunthard Weber habe ich gelernt, dass Trennungen in der Tat zum Lebensalltag in der modernen Gesellschaft mit ihren Individualisierungsgeboten und -verlockungen gehören. Für ehemals in Liebe verbundene und nun in Trennungsdynamiken lebende Partner gibt es durchaus hilfreiche Anregungen, auf verträgliche und faire Weise auseinanderzukommen. Dies ist selbstredend umso mehr geboten, wenn Kinder sich in diesen Trennungsdynamiken wiederfinden und zurecht finden müssen. Diese Anmerkung zeugt in Sonderheit von der Zurückhaltung, die innerhalb der Familie geboten ist – zumal, wenn die Kontakte spärlich werden. Gleichwohl darf es hier als ein Ausdruck von Sorge verstanden werden, wenn ein schlichter Hinweis erfolgt auf Möglichkeiten, Trennungsprozesse moderat zu gestalten; Hinweise für die man mitten im Geschehen oft wenig zugänglich ist. Der von mir über alle Maßen geschätzte Karl Otto Hondrich hat diese Klemme auf behutsame Weise thematisiert – sein Appell: „Rauft euch zusammen!“ erfährt unversehens eine Relativierung, wenn er anmerkt: „Aber dieser Appell selbst beruht auf einer Unklarheit. Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des Einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise >Ihr schafft es!< darf deshalb die andere >Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!< nicht fehlen.“ Und dennoch beharre ich auf der Idee, dass das eigene Wohlergehen nicht über das der Kinder gestellt werden darf. Wenn Trennung unausweichlich ist, dann muss sie auf moderate – und womöglich auf moderierte – Weise erfolgen!
Zurück zur Weihnachtsgeschichte: Zu Lebzeiten meiner Schwiegermutter und darüber hinaus war ich Mitglied des Vorstands des Fördervereins Laubenhof. Für diesen Verein habe ich über zwei Jahre eine Zeitung herauszugeben (die vierte Ausgabe und letzte Ausgabe 2020 ist erschienen). Obwohl ich die Entscheidung zur dauerhaften Unterbringung meiner Schwiegermutter im Nachhinein im Interesse aller Beteiligten für absolut richtig und gerechtfertigt halte, bleibt mit Klaus Dörner die nachstehend erörterte Frage brisant: Leben und Sterben, wo ich hingehöre? Innerhalb des Blogs hat sie mächtige Spuren hinterlassen: Vor allem die Anregungen durch Jean Baudrillard und Dietmar Kamper sind zu erwähnen.
Ich habe - nachdem meine Schwiegermutter eineinhalb Jahre mit uns gemeinsam in unserem Haushalt gelebt hat - in der Auseinandersetzung mit Klaus Dörner meine Einstellung zu der Frage, ob wir dort leben und sterben können, wo wir hingehören, relativiert: Unterdessen erachte ich es als ein außerordentliches Privileg, dass wir meine Schwiegermutter dort - im Laubenhof - fast täglich besuchen konnten. Auf diese Weise hatten wir einen intensiveren Kontakt als wir ihn je in den letzten 41 Jahren (unserer Verschwägerung) hatten. Dieses zeitgebundene Blitzlicht bleibt einem natürlich Ende 2020 quer im Halse stecken, denn der erste lock-down führte gerade in den Pflegeheimen zu einer totalen Kontaktsperre. Als diese dann aufgehoben wurde, war Lisa bereits so sehr verändert, dass ein Anknüpfen an die geschilderten Rituale nicht mehr möglich war. Das kann man im Demenztagebuch, (das fortgeschrieben wird) nachlesen. Dass ich selbst dieses Privileg nutzen konnte, hängt natürlich mit meiner Versetzung in den Ruhestand (2017) zusammen. Meine neu gewonnene Freiheit fand ein wesentliches Betätigungsfeld in einer von Lisa und mir gemeinsam begründeten Erinnerungsarbeit. Dazu passt natürlich nach wie vor, dass kein anderer festlicher Anlass im christlichen Jahreskreis mich so tief eintauchen lässt in meine Kindheit, die sich zunehmend aufs Wesentliche zu verdichten scheint. Die folgenden Schilderungen entsprechen meiner "alten" Weihnachtsgeschichte - allerdings habe ich mehr und mehr das Bedürfnis, mich mit meinen eigenen Erinnerungen auseinanderzusetzen.
Was könn(t)en Eltern ihren Kindern sagen - und dann auch noch zu Weihnachten? Sie könnten zum Beispiel sagen: "Liebe Kinder, der Mensch ist, weil er sich verdankt! Dieser Dank ist auch ganz diesseitig. Ich danke meinen Eltern immer noch und immer wieder. Ohne sie gäbe es mich nicht - und Euch genau so wenig. Dass es Euch gibt, ist das größte Geschenk des Lebens. Dass Ihr so seid, wie Ihr seid - mit all Eurer Strahlkraft und Empathie (und selbstverständlich Euren Macken), mit denen Ihr für andere da seid -, ist dabei gewiss eine ganz besondere Gabe. Und ein besonderer Dank gilt Euch rückblickend dafür, dass Ihr Eurer Oma ein Stück Vertrautheit im Fremden bewahrt habt. Euer und unser aller Tun zeigt, wie sehr wir uns alle verdanken. Und es ist keine Selbstverständlichkeit für hochbetagte Menschen, sich selbst aus der Hand zu geben. Es ist der größte Vertrauensbeweis, zu dem Menschen in der Lage sind, denn mit einer Vorsorgevollmacht, wie sie Euer Opa Leo und Eure Oma Lisa Eurer Mutter in die Hand gegeben haben, begibt man sich in eine fremde Hand. Diese Hand ist umso mehr die eigene, als Menschen wissen, dass sie sich verdanken (was wäre beispielsweise Margret ohne Gaby?). Eine Ahnung davon macht(e) uns als Familie im Sinne der entstandenen und entstehenden Sippe so stark. Das kann man im Übrigen in dem hier verlinkten Interview mit dem Ehepaar Grossmann nachlesen. Dafür danke ich Euch heute allen. Meine alte Weihnachtsgeschichte, die ich im Folgenden erzähle, liest sich dadurch immer wieder neu (und sie spiegelt sich in der Aufarbeitung des Demenztagebuches -> siehe Einleitung).
Und nun zu meiner (alten) Weihnachtsgeschichte:
Was mir am schwersten gefallen ist beim Abschied von zu Hause – zu Beginn des Studiums, schon zu Bendorfer Zeiten, und auch noch in Güls?
Eines der eindrücklichsten Rituale in meiner Kindheit verbindet sich mit dem Weihnachtsfest. Mein Vater war seit Beginn der fünfziger Jahre Croupier im Bad Neuenahrer Spielcasino. Damit verband sich ein eigenwilliger Arbeitsrhythmus, bei dem eine Schicht mal um 14.00 Uhr begann und dann gegen 22.00 Uhr zu Ende ging. Dann war mein Vater auch schon früh auf den Beinen. Begann sein Dienst aber erst gegen 20.00 Uhr oder später, kam er erst morgens in der Frühe nach Hause und schlief lange. Wir mussten leise sein und Rücksicht auf ihn nehmen. Weihnachten – am Heiligen Abend und am ersten Weihnachtstag – ruhte aber auch im Casino der Spielbetrieb. Und bei uns zählte der Heilige Abend:
Dies war bei weitem keine Idylle – auch bei uns gab es die üblichen Streitereien und Aufgeregtheiten wegen des Christbaumes oder anderer Kleinigkeiten; die Atmosphäre war von erwartungsvoller Spannung erfüllt. Dies alles verlief nach einem festen Grundmuster – ein alljährlich wiederkehrendes Ritual: Der Glasausschnitt in der Türe zum Wohnzimmer war mit einer Decke verhangen, und alles Leben spielte sich in der Küche ab. Dort herrschte schon Wochen vorher reger Backbetrieb – wie in einer Weihnachtsbäckerei. Und am Heiligen Abend war der Tag der Sülze und der Pute. Die Sülze war Papas Hoheitsterrain. Neben der vorzüglichen Brühe, die dabei entstand, konzentrierte er sich auf das sorgfältige Abfegen der Knochen. Kein Fitzelchen Fleisch entging seiner Bestimmung. Einige Behältnisse füllten sich mit der nach und nach gelierenden Brühe, reichlich mit Fleisch und Gewürzen versehen. Ich mochte nur das Gelee – und das soll ja wohl gut für die Konsistenz und Widerstandsfähigkeit der Knochen sein. Und dann der Puter; der wurde von Jahr zu Jahr größer. An unserem Weihnachtstisch versammelten sich ja schließlich auch von Jahr zu Jahr mehr Esser, zumindest bis 1968, als unsere Oma nicht mehr dabei war. Das Weihnachtsessen fand in der „großen Familie“ statt. Nach der Bescherung - am frühen Abend - fanden sich alle bei uns im Wohnzimmer ein. Das war kein Problem, da wir ja Hausbacke an Hausbacke nebeneinander wohnten: Oma, Opa, Mama, Papa, Ulla (später Ernst), Willi, Tante Annemie, Gaby und ich; für zwei oder drei Jahre war ab 1962 auch noch Michael, Ullas und Ernstens Sohn, dabei.
Waren schon die Tage vor dem Heiligen Abend von gespannter Erwartung erfüllt, so geriet der 24. Dezember selbst manchmal zu einem unvergleichlichen Höhepunkt. Von da an eröffnete sich eine Nische, in der man unsichtbar wurde für die Schule und den Rest der Welt. Manchmal sind wir – Papa, Willi, Gaby (Gaby ist unsere Cousine) und ich – für zwei Stunden verschwunden, um dem Christkind Gelegenheit für die letzten Vorbereitungen zu geben.
In besonders lebendiger Erinnerung ist mir ein Heiliger Abend, an dem es schon um die Mittagszeit heftig zu schneien begonnen hatte. Nach allem, was - teils unter unserer Mithilfe – noch zu tun war, machte sich unser Papa mit uns auf den Weg. Die Erinnerung ist deshalb vielleicht so eindrücklich, weil wir auf den Friedhof wanderten. Man braucht von der Kreuzstraße zum Friedhof am Fuße des Neuenahrer Berges – je nach Tempo – eine halbe bis dreiviertel Stunde. Ich kann mich an keine andere Gelegenheit erinnern – außer der einen oder anderen Beerdigung –, zu der mein Vater mit uns auf den Friedhof gegangen wäre. Dort waren seine Eltern – meine Großeltern – beerdigt. Wir Kinder, bis auf meine Schwester Ulla, haben sie nicht mehr kennen gelernt. Meine Oma ist Ende der 40er Jahre und mein Opa Anfang der 50er Jahre gestorben.
Dieser Heilige Abend war ein besonderer, weil er uns die immer heiß ersehnte weiße Weihnacht bescherte. Kleinen Zwergen gleich zogen wir frische Spuren durch den Neuschnee und fühlten uns wohlbehütet, geborgen in der Aufmerksamkeit und Fürsorge der Erwachsenen. Wie auf einer Postkarte hat sich mir dieser Spaziergang eingeprägt – eingerahmt von einer allseits ersehnten weißen Weihnacht, erfüllt von einer eigentümlichen Spannung. Den Heiligen Abend und die Bescherung vor Augen wanderten wir durch die schneeerfüllte Luft hinein in die Dämmerung; hinein ins Dunkel, in die Friedhofsruhe – immer in der beruhigenden Gewissheit, dort ein wenig zu verweilen, das Leben zu fühlen, innerlich jauchzend schon in der Vorfreude auf das, was uns erwartete; im sicheren Wissen, dass wir zurückkehren würden in die warme, strahlende Stube, wo das Christkind alles gerichtet hat, und wo sich alles nur um uns drehen würde.
Während ich so phantasiere, spüre ich wieder die Kälte, eingemummelt in warme Kleider und sehe vor mir das weihnachtliche Motiv einer weißen Friedhofslandschaft. Wir stehen am Grab meiner Großeltern. Unser warmer Atem malt helle Schleier in die kühle Schneeluft. Mein Vater zündet eine Kerze an; auf fast allen Gräbern flackern die schwachen, zarten Lichter der Erinnerung. Und so oft ich später an sein Grab kam, jemand war schon vor mir da. Auf jenem Grab, in dem auch seine Eltern begraben sind, brannte eine Kerze für ihn. Nur fünf Meter und eine Gräberreihe trennen ihn heute von seinem Sohn, Willi (meinem jüngeren Bruder), und Gabys Vater liegt zwei Gräberreihen entfernt, alle ganz nahe beieinander. Und 2003 bzw. 2004 haben dort, im großelterlichen Grab mütterlicherseits meine Mutter und meine Tante, Gabys Mutter, ihre letzte Ruhe gefunden. Von meiner Herkunftsfamilie leben nur noch meine Schwester und ich – und meine Cousine Gaby gehört wie eh und je dazu. So sind wir heute in der Unterzahl und es gibt nicht mehr so viele, die eine Kerze entzünden.
Aber damals an diesem Heiligen Abend wird uns der Rückweg ein Fest: Die menschenleeren Straßen und die Parks vermitteln eine behagliche Stille, alles geschäftige Leben ist erstorben. Doch in uns brennt die Fackel erblühenden Lebens. Im schwachen Licht der Straßenlaternen tänzeln und glitzern die feinen Schneekristalle wie pulverisiertes Lametta. Der Schnee hüllt Dächer und Straßen, Bäume und Plätze in ein festliches Weiß. Alles deckt er zu und weckt in mir eine Art beharrlichen Gleichmuts, der wie ein basso continuo mich in meinem Leben immer wieder besänftigen und ermuntern sollte. Jeder Schritt im weichen, frischen Schnee führte uns damals hinein in ein Leben, das uns an diesem Tag herrlich und endlos erschien. Wir gehören zusammen, fühlen uns verbunden, und so tauchen wir ein in die festliche Stimmung – immer noch Vorfreude. Und niemand ist allein! Alle Fenster leuchten, manche hell wie der Weihnachtsstern, andere heimlicher und flackernd wie ferne Gestirne. Aber alle verheißen das Weihnachtsfest. Und alle Menschen kommen zusammen, die zusammengehören. Alle? Erst jetzt im Nacherleben dieser euphorischen Stimmung stellt sich mir wieder die Frage, wie Gaby das alles wohl erlebt haben mag. Gaby, die damals noch kein wirkliches Bewusstsein davon hatte, ein Scheidungskind zu sein, die zu uns gehörte, die wir in unserem bescheidenen Wortschatz noch keinen Begriff für den Fall ausgebildet hatten, dass Eltern getrennte Wege gehen. Ob wir durch die große Familie und unsere Gemeinsamkeit das Fehlen von Onkel Fred, ihrem Vater, ein wenig gemildert haben? Das Trauma, ein Scheidungskind zu sein, überwinden nicht alle. Manch eine(r) trägt sein Leben lang an dieser Kränkung, die uns Geborgenheit nimmt und Zugehörigkeit zutiefst in Frage stellt. Wie glücklich darf ich mich schätzen, dass ich alle Liebe, alle Fürsorge und alle Anerkennung dieser Welt bis zum letzten Atemzug meiner Eltern tief in mich aufnehmen durfte. Sie leben weiter in der Liebe, die durch mich in meine Kinder übergeht. Und eines meiner Kinder - die Anne - feiert mit uns gemeinsam das Weihnachtsfest in diesem Jahr in hoffentlich gesegneter Schwangerschaft - nun beginnt sich auch für mich/für uns ein Kreis zu schließen, indem die Enkelgeneration sich in Stellung bringt(:-))
Und für mich und meine Familie erneuern sich die Rituale der Kindheit immer wieder aufs Neue. Sie speisen sich aus der lebendigen Erinnerung an eine eigene heile Kindheitswelt. Viele Jahre sind wir mit unseren Kindern durch die Weinberge von Güls nach Winningen gewandert, und wer sich anschließen mochte, war herzlich willkommen. Dreizehn Weihnachtsfeste war Biene, unsere Border-Collie-Hündin, mit dabei. In der Adventszeit, am Nikolausabend (5.12.14) haben wir sie von ihrem kurzen Leiden erlöst und. Wir vermissen sie schmerzlich. Hier könnt ihr es nachlesen und in bewegten Bildern ansehen (Foto: "Herr mit Hund" anklicken - dann kann man sie noch einmal in Bewegung erleben). Und heute ist mir mehr als deutlich, dass sich im Abschied vom Weihnachtsfest meiner Kindheit und Jugend auch der Abschied von Bad Neuenahr, von meiner Herkunftsfamilie symbolisch verdichtet. Es wäre schön, wenn die anderen, die noch da sind, und die, die hinzugekommen sind – in Bad Neuenahr und hier in Güls – festhalten würden an den alten Traditionen und Ritualen. Und je älter ich werde, desto deutlicher empfinde ich, dass das Alte Kraft hat, und dass die Alten aufgehoben sind in den Ritualen, die sie einst ihren Kindern bereitet haben, und die wir heute als Eltern mit unseren Kindern bewahren und pflegen. 2013 haben Michael und Barbara dafür gesorgt, dass die Familie einen Ort hat - 2014 haben wir uns bei Gaby getroffen; 2015 hat meine Schwester Ulla uns in ihrem neuen Domizil beherbergt. Da war Wilfried Jansen noch dabei, in dessen Haus Ulla heute wohnt. Und auch 2016 haben wir uns gestern, am 4. Advent in Güls getroffen. 2018 haben wir am 2. Advent nach Güls eingeladen - zum letzten Mal im Pühlchen - das nächste Weihnachtsfest feiern wir auf dem Heyerberg. Und wie so oft, kommt dort, wo jemand uns verlässt (Wilfried Jansen und Peter Valder) jemand dazu, der eben erst das Licht der Welt erblickt hat. So war es das erste Adventstreffen mit Mathilde. Sie ist - neben Karla - die erste, die aus meiner Sicht zur Enkelgeneration gehört. Und ich bedauere so sehr, dass sich das Bild ihres Großvaters nur aus unseren Erzählungen nähren wird! Ja, wenn ich noch einmal Kind sein dürfte! Um wie viel reicher sind unsere Weihnachtsfeste inzwischen geworden – mit Leo, mit Jule und in diesem Jahr zum ersten Mal mit Anouk!
Teil II: Der Tod nimmt der Versöhnung das Gesicht und dem Leben die Kraft
Die Welt war nie heil, und sie ist nie heil geworden. Neben Willi, meinem Bruder und Mathildes Großvater, sind die Alten aus unserer Familie ihren letzten Weg gegangen – auch Lisa (mit fast 97), meine Schwiegermutter (und auch Tante Agnes, die Schwester meines Vaters). Im März 2010 hat uns Leo, mein Schwiegervater, nach einem langen Weg durch die Demenz verlassen. Und die Hoffnung, dass die Schwerter in der eigenen Familie stumpf und zu Pflugscharen werden, hat sich nicht in allen Fällen erfüllt. Der Tod nimmt der Versöhnung das Gesicht und dem Leben die Kraft. Ich möchte den Satz heute, am 7.12.2024, modifizieren:
Es ist die Unversöhnlichkeit, die uns Kraft und Energie raubt. Hat man die Chance zu Lebzeiten sich zu versöhnen, sollte man sie ergreifen und sich niemals darüber hinwegtäuschen, dass diesbezügliche Versäumnisse nicht mit dem Tod – beispielsweise von Vater und Mutter – in einem Nullsummenspiel aufgehen. Das ganze Gegenteil ist der Fall. Das Nachgetragene hängt uns an, zehrt an unseren Kräften, lässt unsere Schritte schwerer und schwerer werden. Und das allerdümmste dabei ist, dass man die damit aufgenommenen Hypotheken nicht einfach löschen kann. Sie gehen auf Kinder und Kindeskinder über – bis sie getilgt werden; getilgt werden im Vergeben, im Verzeihen im Ablassen von selbstgerechter Kränkungshoheit!
Ein Beispiel: Den weitaus größten Teil seines Lebens hat mein Schwiegervater Leo in Koblenz gelebt. Mit der Luhmannschen Wendepunkt-sensiblen Lebenslauftheorie erachte ich es als großes Glück, dass Leo 1949 aus Ittendorf - im Hinterland von Meersburg/Bodensee - fliehen musste; fliehen vor den Konsequenzen eines one-night-stands - so würde man heute sagen. Eine Möglichkeit aus dieser halb erzwungenen, halb herbei gesehnten Flucht war die schließlich angestrebte Verbindung mit Lisa, meiner Schwiegermutter: Ohne Flucht keine Lisa, ohne Lisa keine Claudia, ohne Claudia kein Josephus (auch als Schnulli bekannt), ohne die beiden keine Laura und keine Anne…: Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann).
2003 bin ich mit Leo auf Abschiedstour gegangen. Wir sind in seine Heimat nach Ittendorf gefahren, Leo schon am Beginn seines langen Weges in die Demenz. Ich kannte seine Familiengeschichte; wusste um die gespannte, unversöhnliche Haltung seiner Schwester Klärle gegenüber. Wir mieteten uns im Adler ein, unweit seines Elternhauses. Wir besuchten Edi Wiedemann, einen der Apfelkönige am Bodensee. Abends sind wir nach Immenstaad gefahren zum Heinzler, haben Bodenseefelchen gegessen. Leo war ganz und gar gegen seine Gewohnheiten, gegen sein Temperament, schweigsam, hat - ebenso ungewöhnlich - mehr zugehört als geredet. Ich musste mit ihm das "Annegärtle" besuchen, sein verbürgtes Erbe, wo er fürs Alter in Sichtweite der von ihm so unendlich geliebten Berge hatte Wohnung nehmen wollen. Wir sind mit dem Auto im Schritttempo um das Elternhaus gefahren - mehrfach. Wir sind nicht ausgestiegen. Er hatte die Chance zur Versöhnung nicht genutzt. Seine Schwester Klärle war bereits im Jahr zuvor gestorben. Ich bin mir sicher, dass er mit sich gerungen hat, dass er sich in Selbstzweifeln und Sehnsüchten ergangen ist. Ob er ihr und sich selbst verziehen hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Dass er - wie es Alexander Kluge für seine Eltern bis heute erhofft - mit seiner Schwester im Elysium zusammengefunden hat, möchte ich für ihn hoffen. Schließlich haben wir miteinander in der Birnau gesessen, ganz alleine. Er hat mir sein alter ego, den "Honigschlecker" gezeigt. Wir haben eine Weile verharrt. Es war das einzige Mal, dass ich Leo weinen gesehen habe. Zehn Jahre später habe ich mit Claudia an derselben Stelle - vor dem Honigschlecker - gesessen, und wir haben uns unserer Tränen nicht geschämt. Zumindest ich habe auch die verpassten Chancen zur Versöhnung beweint und mich der Worte eines Juister Gastwirts erinnert. Jackie meinte zu einem verbitterten und sich in fortgesetzter Klage ergehenden Gast: "Mein Freund, merke Dir, wer nachtragend ist, hat viel zu schleppen!" Der Tod nimmt der Vergebung - und erst recht der Versöhnung - das Gesicht und dem Leben die Kraft.
Anmerkung 2024 – am 7.12.24: Wenn ich meinen Schwiegervater erinnere, kommt mir oft der Gedanke: Kann man eigentlich härter gegen sich selbst sein, als er es vermochte? Er verkörperte jene radikale Selbstdisziplin, die Einkapselung aller Altlasten und Beschwernisse im Innersten des eigenen Seelenlebens, weich geworden erst im Angesicht und im Umgang mit den eigenen Enkelkindern. Unerbittlich hingegen im Aufrechnen und Hadern mit Blick auf die Übervorteilung im Erbgang am Bodensee. Der Tod (der Schwester in diesem Fall) hatte der Vergebung und der Versöhnung erst die Kraft und zuletzt die Gelegenheit genommen. Wer glauben wir eigentlich zu sein, wenn wir uns dem Erfahrungsschatz (auch im Sinne eines gnadenlosen Scheiterns und unsäglicher Verfehlungen) der Alten verweigern, gar darauf beharren, in der eigenen Unversöhnlichkeit die Versöhnung der anderen zu unterlaufen und in Frage zu stellen?
Wir haben Leo auf dem Weg in die Demenz bis zu seinem Tod im März 2010 begleitet. Auf diesem Weg hat mir Fulbert Steffenskys: "Mut zur Endlichkeit - Sterben in der Gesellschaft der Sieger" (Radius Verlag, Stuttgart 2007) eine letzte Richtung gewiesen, mit Wort, Begriff und Intuition die Einsicht in einen Zusammenhang offenbart, der mir zwar über Gunthard Webers Aufstellungsarbeit und seine Dokumentation der Arbeit Bert Hellingers in "Zweierlei Glück" (Carl Auer Verlag, Heidelberg 1998) überaus vertraut war, aber nicht in der Konsequenz einer langen finalen Pflege: "Der Mensch ist, weil er sich verdankt - und wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens."
Ob Luhmannsche Selbstdesinteressierung oder die besondere Bescheidenheit meines eigenen Vaters - in der Wechselwirkung von Geben und Nehmen und in der Grundfähigkeit des Dankens liegen die Geheimnisse und die lebendigen Dynamiken eines gleichermaßen kraftvollen wie verantwortlichen Lebens: "Der Mensch ist, weil er sich verdankt, das lehrt uns Paulus in jenem Kapitel des Römerbriefes. Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns, das Leben zu lieben." (Fulbert Steffensky, a.a.O., S. 41)
Teil III: Aspekte einer "psychologsichen Anthropologie" (nach Fulbert Steffensky)
Ich neige dazu, die Psychologie - vor allem die Geschichte der Psychologie - mit Niklas Luhmann kritisch zu sehen: "Es gibt für eine Wissenschaft vom Menschen genug Wissen und zwar, wenn man von der Psychologie absieht, allgemeines Wissen, das nicht im Verdacht steht, Vorurteile über 'den Menschen' zu transportieren (in: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002, S. 22; siehe hier im BLOG "die Luhmannsche Lektion")."
Andererseits - bei aller selbstreferentiellen Verwiesenheit - erscheint mir der jeweilige starting point eines individuell interpunktierten Lebens zwischen Anfang und Ende oder die Idee eines unbewegten Bewegers, wie sie von Karl Jaspers vertreten wird, so tröstlich wie untröstlich in all seinen/ihren Konsequenzen. Sie bringt uns zumindest darauf, dass es Situationen gibt, in denen der Mensch sich nicht selbst in der Hand hat. Er ist und bleibt verwiesen auf professionelle oder liebevolle Zuwendung/Fürsorge von Menschen, die sich um ihn kümmern. Mich hat zum Beispiel die Dankesgeste meines Neffen, Michael, gegenüber dem Ärzte- und Pflegeteam der Abteilung des Universitätsklinikums Bonn tief gerührt und beeindruckt; jenen Menschen gegenüber, die ihn nach seinem kombinierten Hirn- und Herztrauma im März 2008 durch sein fast dreimonatiges Koma und darüber hinaus begleitet haben. Die aus tiefem Dank sich speisende Pflege meines Schwiegervaters über viele Jahre, die Erfahrung, dass sich jemand "aus der Hand gibt", der sein Leben als "self-made-man" niemals jemandes Verantwortung überantwortet hätte, hat mich selbst geöffnet für eine Einsicht, die Fulbert Steffensky in "eine Art psychologische Anthropologie" integriert:
"Der Versuch sein eigener Lebensmeister zu sein; sich selber zu erjagen und sich in der eigenen Hand zu bergen, führt in nichts anderes als in Vergeblichkeit und Zwänge. Der Zwang, sich selber zu gebären und sich durch sich selbst zu rechtfertigen, führt in Verzweiflung und in den Kältetod. Das wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen. Man kann sich nicht selbst bezeugen, ohne der Verurteilung zu verfallen. Gnade ist also nicht der Differenzbegriff zwischen dem großen Gott und dem kleinen Menschen. Gnade heißt Befreiung von dem Zwang, sein eigener Hersteller zu sein. Gnade denken heißt wissen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmacht."
Liebe und Dankbarkeit waren die nicht versiegenden Kraftspender in der Begleitung der Eltern und in der langen Pflege der Schwiegereltern - aber all dies letztlich nur in Gestalt eines wechselseitigen Phänomens, dass Fulbert Steffensky für mich in seinen weiteren Überlegungen in einer überaus kristallinen Klarheit formuliert hat:
"Vielleicht könnte auch der Kranke aus dieser paulinischen Anthropologie lernen, der eigenen Endlichkeit zuzustimmen. 'Pathos' - 'Mathos' haben die Griechen gesagt - Leiden ist Lernen. In der Krankheit könnte der Mensch lernen, sich nicht mehr durch sich selber zu rechtfertigen. Der Schwerkranke ist hilflos, und er ist nicht mehr Souverän seines eigenen Lebens. Er hat seine Stärke verloren. Er kann sich nicht mehr in der eigenen Hand bergen, er muss sich aus der Hand geben. Er ist angewiesen und bedürftig geworden. Er braucht für die äußeren Verrichtungen und für seine innere Konstitution Menschen. Die Bedürftigkeit ist der Grundzug aller Humanität. Je geistiger ein Wesen ist, umso bedürftiger ist es; umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke. Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen; aber vielleicht ein Anfang davon vielen."
Dass derjenige den Anfang gemacht hat, von dem niemand jemals hätte annehmen wollen und können, dass er sich aus der Hand geben würde, sich anvertraut, sich geborgen und aufgehoben fühlt, dafür bin ich unendlich dankbar, lernen wir doch alle - ohne es zu wissen - durch die Haltung anderer, still und ruhig - allenfalls hörbar weit in der Ferne, wie das Gurgeln und Murmeln eines Gebirgsbaches, der sich beharrlich seinen Weg sucht, denn kein Wasser fließt zurück.