<<Zurück

 
 
 
 

Das Ende: In die Hand nehmen - oder sich aus der Hand geben?

Mein Erwachsenenleben lang - und diesen Status gestehe ich mir erst seit gut 25 Jahren zu - setzte ich mich mit der Frage auseinander, wie wir mit der Tatsache unserer Endlichkeit umgehen, und ob wir diese Tatsache als gegeben hinnehmen und geschehen lassen. Oder ob wir auf die Umstände unseres unausweichlichen Endes Einfluss nehmen - es möglicherweise sogar selbst bestimmen wollen? Vor mir liegen drei gewichtige Leitz-Ordner mit Briefen und Aufsätzen. Beim Durchblättern dieser Ordner fällt mir auf, wie häufig doch im Austausch mit Weggefährten die angesprochenen Fragen in den Vordergrund rücken - und dies auf unterschiedlichste und gegensätzlichste Weise. Im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit im örtlichen Seniorenwohnheim Laubenhof hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, diese Fragen auch im öffentlichen Raum zur Diskussion zu stellen - Rund um den Laubenhof war für drei Jahre ein Forum, das dies auf Ortsebene ermöglichen sollte:

Die Verwüstung der dem Terrain des Todes abgerungenen Gebiete steht mir eindrücklich vor Augen. Es ist so offenkundig, dass wir – um Verwüstung zu vermeiden – etwas benötigen, was Klaus Dörner mit den vier Sozialräumen meint, die nur im Verein miteinander den gesellschaftlichen Reichtum bewahren bzw. pflegen könnten, der sich in unseren Alten manifestiert. Mit ausreichender Pflege und Versorgung die Wartezonen zum Tod zu flankieren reicht eben nicht aus. Fulbert Steffensky mahnt  uns zwar zu der Einsicht, dass wir alle sind, weil wir uns verdanken. Er will die Schranken für etwas Selbstverständliches absenken bzw. einreißen, nämlich dass Fürsorge und Versorgung nur in einer gepflegten Umgebung, in der die liebevolle Zuwendung zu spüren und zu greifen ist, unseren Alten gerecht werden kann. Man kann dies im Sinne unser aller Würde erwarten bzw. fordern. Man muss aber gleichzeitig sehen, dass die moderne Gesellschaft mit ihrem grenzenlosen Hang zur Kommerzialisierung und zur Individualisierung die Grundlagen für eine vorbehaltlose wechselseitige Berücksichtigung unserer (Ur-)Bedürfnisse zunehmend schädigt bzw. zerstört. Sind es zum einen schlicht gesellschaftliche Rahmenbedingungen bzw. Erwartungen (Mobilität, Flexibilität), die uns allein schon räumlich trennen von den uns nahen Menschen, so ist es auf der anderen Seite ein häufig damit verbundener Wertewandel, den es zum Beispiel mit Barbara Bleisch genauer zu betrachten und einzuordnen gilt. Es lohnt durchaus die These, warum Kinder ihren Eltern nichts schulden differenziert und aufmerksam zu betrachten.

Die Gesellschaft als Ganze stößt im Zuge eines demografischen Wandels, der uns von der Zweidrittel- zur Eindrittel-Gesellschaft mutieren lässt, an Grenzen. Eine Unterbringung im Pflegeheim kostet etwa inzwischen in Eigenleistung zu erbringende € 4000,- (mit steigender Tendenz). Auch im konzertierten Miteinander von Pflegekasse, Angehörigen und Eigenleistungen ist dies bei zunehmender Anzahl der Pflegebedürftigen nicht nachhaltig zu stemmen (auch hier wird es unumgänglich sein, die Reichen und Superreichen sehr viel stärker in die Pflicht zu nehmen!).

Leben und Sterben, wo ich hingehöre? Diese Frage beantwortet sich nicht mehr in der Logik stabiler sozialer Nahräume, wie sie über Familie, Nachbarschaft, Kommune und Kirche erkennbar wären - und wie sie Klaus Dörner wiederbeleben wollte. Darauf reagieren alte und kranke Menschen auf unterschiedlichste Weise. In diesem Jahr habe ich zwei Freunde verloren, deren Haltung - auch im Sinne von Besinnung und Widerständigkeit - nachhallen soll. Johann hat keinen Zweifel gelassen an seiner Haltung, über sein Leben und sein absehbares Ende selbst verfügen zu wollen - ein Akt der Selbstermächtigung. Auch Rudi hat an einer entsprechenden Haltung keinen Zweifel gelassen - vor allem im persönlichen Motiv seines Engagements in der Gesellschaft für humanes Sterben e.V. Die Kirchen tun gut daran getan, ihre Haltung gegenüber dem Suizid im seelsorglichen und barmherzigen Sinne zu verändern.

Gleichwohl rücken mir Johann und Rudi mehr und mehr wieder ins Bewusstsein, dass hinter Akten der Selbstermächtigung eine große - möglicherweise übergroße Not steckt. In den letzten Jahren begegnete mir Rudi immer wieder mit der Bezugnahme auf unser Schlüsselritual, das sich in den folgenden Zeilen offenbart:

 

Kommt, reden wir zusammen -
wer redet, ist nicht tot!

Du wusstest wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um Deine Not – und rufst mir zu:
Komm öffnen wir die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in unserm schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)

Details

Tränen sind hartes Wasser

Zuweilen sind Tränen hartes Wasser,
das über Steine rann. (Gottfried Benn)

Doch ohne Tränen, ohne Wasser,
was bleibt außer Seelenwüsten dann?

Ohne uns und die Unsren zu bergen,
veröden die Seelen – vereisen die Herzen.

Wir schrumpfen zu Zwergen,
verloren im eigenen Ich;

begegnen nur Fremden
und Fremdem in uns;

Du sehnst dich nach Hause
und weißt nicht wohin?! (J. von Eichendorff)

Wo darf ich sterben,
selig geborgen?

Was sind das für Fragen,
was treibt uns um?

Wozu die Klagen,
als seien wir hilflos und dumm?

Du mußt dir alles geben,
Götter geben dir nicht? (Gottfried Benn)

Hast du dich selber geboren?
Kehrst selber dein Häuflein Asche zusamm'?


Wenn sich diese Fragen stellen, dann ist es spät:

"Gib in dein Glück, dein Sterben
Traum und Ahnen getauscht,
diese Stunde, ihr Werben..." (Gottfried Benn)

Manchmal zu spät:

Don’t ask – don’t tell

Die Welt kommt zu uns
(manchmal auch als Flaschenpost – seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.

Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.

(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerbricht das dünne Eis der Contenance.)

Danach - und manchmal auch zuvor -
hilft manchmal Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.

Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!

Wenn’s  jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -

und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!

Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)

*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320 so auch obige Zitate aus: DU MUSST DIR ALLES GEBEN, a.a.O., S. 132f.

 

Diese Zeilen wirken im Rückblick vielleicht kryptisch, gewissermaßen unklar in ihrer Ausdrucksweise und unserem Verständnis nicht unmittelbar zugänglich - eben Lyrik. Mir wird zumindest klar, warum ich Briefe so sorgfältig aufbewahre. Briefeschreiben mit der Hand, aber auch auf elektronisch unterstützte Weise, erscheint nicht mehr zeitgemäß. Heinrich von Kleist hat gesprochen von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Im Schreiben geschieht dies möglicherweise auf eine noch präzisere und vor allem nachhaltigere Weise, weil wir uns selbst - zumindest dann, wenn wir jeweils andere teilhaben lassen an der Versprachlichung unserer Gedanken - immer wieder auch entsinnen bzw. konfrontieren können mit dem, was da an geronnener gedanklicher Aktivität Ausdruck gefunden hat. Es sind einige Ordner mit Briefen, die im Laufe der Jahre angewachsen sind. Intensiven kontinuierlichen Austausch hatte ich mit Winfried Rösler und vor allem mit Rudi. 

Im Rückblick gewinnen diese Briefe nochmals ein anderes Gesicht und auch ein anderes Gewicht. Mehrfach habe ich betont, wie sehr sich Rudi Joseph von Eichendorffs Aphorismus verbunden fühlte, der da lautet:

"Wir alle sehnen uns nach Hause und wissen nicht wohin."

Wie mit glühend heißem Eisen eingebrannt steht mir dieser zutiefst resignative Sinnspruch immer wieder vor Augen - genau so wie Martin Heideggers Schlusssatz aus seiner kleinen Schrift Der Feldweg:

"Alles spricht den Verzicht in das Selbe. Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen. Der Zuspruch macht heimisch in einer langen Herkunft."

Noch am 29.11.2021 um 10.52 (ja, das scheint verrückt, sogar die Uhrzeit ist vermerkt) schrieb mir Rudi:

"Lieber Jupp, ich sitze hier und blicke über Rhein und Mosel auf den abgeernteten Acker hoch über Güls, den ich früher auf meinen Spaziergängen so oft umrundete. Dann denke ich darüber nach, wie sich mein Lebensstil in den letzten Jahren doch sehr deutlich verändert hat. Damals - so muss man jetzt schon rückblickend sagen -, damals waren wir sehr viel gemeinsam unterwegs, die Wanderungen, die Einkehr in den verschiedenen Kneipen und Restaurants gehörten unverzichtbar zum aktiven Leben. Aber nun bin ich - altersbedingt und/oder durch die Summe der schmerzhaften Erfahrungen ("Leben ist Leiden") aus der >vita activa< mehr und mehr zur >vita contemplativa< (Hannah Arendt) übergegangen. Und die durch die Pandemie redzierten Erfahrungsspielräume haben diese Tendenz noch stark unterstützt. Und auch meine Hörschädigung erschwert inzwischen das Sprachverständnis in Gruppensituationen so radikal, das ich solche Situationen inzwischen meide - was allerdings aber vielleicht falsch sein mag."

Gewiss hat Rudi sich nach Hause gesehnt und wusste schon lange nicht mehr wohin - auch verbunden mit drastischer Entwurzelung, die sich zu wesentlichen Anteilen dem Beliebigkeitszufälligen zuschreiben lässt, also dem, was wir in eigener Entscheidungshoheit und Wahl bewirken - aber eben nicht nur. Die Dimension des Verlustes zweier Söhne - in ihrer möglicherweise wechselwirksamen systemischen familiären Dynamik - nimmt in Rudis Leben gewiss die überaus schmerzhafte Dimension des Schicksalszufälligen an - dem, was uns zustößt, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen können. Rudi hat am Ende seines Lebens vergeblich nach der Gelassenheit gesucht, Dinge hinzunehmen, die eben nicht zu ändern sind - und andererseits den Mut zu finden, Dinge zu ändern, die er in seinem Sinne zu beeinflussen vermochte. Und: Bei alledem auch noch die Weisheit zu gewinnen, das eine vom anderen auch unterscheiden zu können (siehe dazu Reinhold Niebuhr und Odo Marquard). Dass Leben Leiden sei, war ihm zuletzt zur allumfassenden Gewissheit geworden.

Im oben zitierten Brief teilt er mir neben dem wenigen Positiven, das es zu berichten gab, vor allem seine Sorgen mit. Die werde ich selbstredend in diesem öffentlichen Blog-Beitrag nicht wiedergeben. Aber einen Hinweis, den er mir mit Blick auf seinen älteren Bruder und seine Perspektiven im Alter gab, den möchte ich in diesem Kontext uns allen zu bedenken geben: "Habe den großartigen Film >The Father< mit Anthony Hopkins angeschaut und viele Parallelen sehen und verstehen können."

Betrachter dieses großartigen Films mit einem großartigen Anthony Hopkins und mit einer großartigen Olivia Colman werden alle Tränen weinen, die wir als Beobachter aus der geschützten Sofaecke heraus zu weinen vermögen, weil wir zutiefst angerührt sind vom Spiel der Darsteller, weil wir ahnen, dass sie uns meinen, weil ihr Spiel etwas vorwegnimmt, was vielen von uns - cum grano salis - bevorsteht.

Der letzte Satz in Fulbert Steffenskys kleiner Schrift Mut zur Endlichkeit - Sterben in der Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) lautet:

"Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens."

Am 31. März 2024 schrieb mir Rudi, dass er sich mittlerweile als jemand beobachte, der hilflos in einer kafkaesken Welt umher irre: "Und zu Kafka passt auch gut die jüngste innerfamiliäre Entwicklung [...] Nachdem ich zwei Söhne durch Tod verloren habe, geht mir nun auch die Letzte - überaus lebendig - verloren, sich befreiend von einer Beziehungsumgebung, die als toxisch empfunden wird [...] Ist das eventuell auch >paranoid< - neben jeder Vernunft?! So bin ich nun im Krawitzschen >Panikorchester<, wie wir das seit den 1970er Jahren genannt haben, der Übriggebliebene, denn die Enkel haben dazu (noch?) keine Meinunag."

So sehnen sich alle nach Hause und wissen hoffentlich wohin!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.