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Die letzten Dinge - Lebensendgespräche

In diesem Menüteil mache ich es mir einfach und schlicht. Ich lasse mich anregen und treiben von Iris Radisch: Die letzten Dinge - Lebensendgespräche, 2015 im Rowohlt Taschenbuchverlag erschienen. Alles, was uns interessiert, was uns möglicherweise umtreibt, wird hier in achtzehn Interviews "mit großen Zeugen unserer Zeit" von Iris Radisch erörtert. Diese Erörterungen stehen unter solch zentralen Fragestellungen, ob man zum Beispiel anders auf das durchlebte Zeitalter blickt, wenn der Tod näher rückt. Iris Radisch fragt ihre Interviewpartner, ob das, was früher wichtig war, unwichtiger werde; wo man geirrt habe, was man habe bewirken könne und was möglicherweise bleibe.

Also lassen wir uns anregen vom "Wechsel der Blickrichtung". Da kann das drohende Lebensende - wie in Tolstois Erzählung "Der Tod des Iwan Iljitsch" schon einmal eine Tür bedeuten, "durch die Lebenslügen nicht hindurchpassen". Und warum sollten solche Erkenntnisse nicht schon vor dem drohenden Lebensende zu einem Perspektivenwechsel anregen? Ist man eh schon älter, dann stellt sich auch die Einsicht in das mors certa - hora incerta in einer anderen Unmittelbarkeit dar. Irisch Radisch spricht von einer gewissen "Altersradikalität", die zwar manchmal zu Zynismus und Verzweiflung einlade, die aber andereseits auch "neue Freiheiten" verheiße, weil man sich von falschen Vorspiegelungen nicht mehr betrügen lasse: "Die Masken dürfen fallen." Immer gehe es um die Kunst zu leben und darum, was Bestand hat, wenn die Sanduhr ausläuft und die Selbsttäuschungen sich verflüchtigten:

"Wer war ich? Und wer bin ich jetzt, da ich gerade dabei bin zu verschwinden? Die Antwort ist ein Chor sich kreuzender, sich widersprechender Stimmen von Toten und Lebenden, der nicht aufhört zu reden, solange noch jemand zuhört."

 

Amos Oz - Von einem, der die Welt zwingen wollte und weise wurde - Interview aus dem Frühjahr 2015

Dazu musste Amos Oz zuerste einmal Halbweise werden - auch im Sinne von halb weise. Iris Radisch enthüllt in ihrer kurzen Einleitung jenes Geheimnis, das Amos Oz fast sein Leben lang mit sich herumgetragen hat und erst in seiner Autobiographie Eine Geschichte von Liebe und Finsternis offenbart: Der kleine Amos verliert seine Mutter, die in den Tod geht, und er beginnt die Revolte gegen alles, was die Traditionen einer berühmten osteuropäischen Gelehrtenfamilie ausmacht: "Er legte den Namen seines Vaters ab und nannte sich Oz, was Kraft bedeutet." Er trat in ein Kibbuz ein, lebte dort vierzig Jahre, heiratete und sah seine Kinder groß werden.

"Doch am Ende seines Lebens stellte er fest, dass man seiner Herkunft niemals entkommt und die Eltern in seinem Inneren nicht zum Schweigen bringt."

Imre Kertész: "Ich habe alle meine Augenblicke schon erlebt. Es ist fertig, und ich bin noch da."

Iris Radisch trifft Imre Kertész zum ersten Mal 1997 und zum zweiten Mal 2013. Von seinem Lebensbuch "Roman eines Schicksallosen" sei eine moralische und literarische Revolution ausgegangen. Es sei kein "weiterer edler Tropfen im Strom der Neuerscheinungen, sondern ein Staudamm, an dem man nicht vorbeikommt." Sie stellt einen Vergleich an, indem sie davon ausgeht der "Roman eines Schicksallosen" bedeute für die europäische Literatur, was die "Blechtrommel" für die deutsche Literatur bedeutet: "Den Autoren beider Bücher war klar, dass man an die Vor-Auschwitz-Sprache nicht mehr anknüpfen konnte. Und beide fanden eine neue Sprache, um in die Abgründe der Vergangenheit hinabzusteigen. Eine satte, körperwarme Sprache der eine, eine ausgenüchterte, atonale Sprache der andere." Bei Imre Kertész beeindruckt - man könnte auch sagen schockiert, ähnlich wie bei Ruth Klüger, das nüchterne, kontingenzgewärtige Resümee eines unwahrscheinlichen Lebens:

Ilse Aichinger: "Erfüllte Wünsche sind ein Unglück"

Den Abdruck des Fotos auf Seite 31 in Iris Radischs "Lebensendgesprächen" muss Ilse Aichinger auatorisiert haben. Sie schaut wie ein Eimer saure Milch - es gibt im Übrigen andere Fotos von ihr. Vermutlich ist es ein zeitnahes Foto aus den 90er Jahren. Das Interview fand am 24. Oktober 1996 statt. Am 11.11.2016, vor wenigen Tagen, ist Ilse Aichinger gestorben. Und dennoch kommt einem das Interview 20 Jahre zuvor wie ein "Lebensendgespräch" vor. Und es wird von Iris Radisch auch so geführt bzw. Ilse Aichinger lässt ihr gar keine Alternativen. In der Einleitung vermerkt Iris Radisch, dass Günter Eich bereits ein Vierteljahrhundert tot ist - solange ist Ilse Aichinger Witwe. Ihre "Nabelschnur" zur Welt pulsiert über einen jungen Mann, Richard Reichensperger, der - wie Radisch betont - ihre Werke herausgegeben hat und darüber seit vielen Jahren zum wichtigsten Mann in ihrem Leben geworden sei.

Péter Nádas: Im Tod fängt etwas Großartiges an

Iris Radisch berichtet Péter Nádas schon oft begegnet zu sein. Das abgedruckte Interview findet im Jahr 2002 statt. Péter Nádas ist eben 60 Jahre alt und insofern - wie Iris Radisch bemerkt - noch viel zu jung für ein Gespräch am Ende des Lebens. Und sein Monumentalwerk "Parallelgeschichten" wird erst zehn Jahre nach diesem Gespräch erscheinen. Aber was er "anzubieten" hat, macht ihn mit Blick auf Lebensendgeschichten vielleicht dann doch zu einem besonderen - ungemein faszinierenden Gesprächspartner.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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