Happy Birthday, Boomer? - Wer wir Sind - Eine (ums Ganze) erweiterte Anlehnung an einen Beitrag von Barbara Supp im SPIEGEL 33/24, Seite 9-15)
Für mein Patenkind
Wie kann sich heute die Generation der sogenannten Kriegskinder den sogenannten Generationen Z oder gar Alpha vermitteln, da geht es ja bereits um die Enkelgeneration der Kriegskinder? Vielleicht muss man sich zunächst einmal mit vorliegenden Kohorteneinteilungen selbst befassen. Barbara Supp, die im SPIEGEL 33/24 auf der Grundlage von Kohorteneinteilungen generationenbezogene Unterschiede generiert, stützt sich auf Karl Mannheim – jenen Karl Mannheim, der bis 1933 als ordentlicher Professor das Frankfurter Institut für Sozialforschung leitete, 1933 aufgrund seiner jüdischen Abstammung entlassen wurde und über die Niederlande nach England emigrierte, wo er als Soziologe von Weltrang forschte und lehrte. Barbara Supp bekennt bislang mit dem Generationenbegriff gefremdelt zu haben. Denn sicher ist zunächst nur, dass es in jeder Generation alles gibt:
„Die Reichen, die Armen und die dazwischen. Die Gebildeten und diejenigen, denen man nie Bildungschancen gab. Männer, Frauen, Diverse. Frisch Zugereiste, Einheimische, vor langer Zeit Immigrierte, deren Kinder, deren Kindeskinder.“
Auch Karl Mannheim sei sich darüber im Klaren gewesen, dass der Begriff Generation keine konkrete Gemeinschaft abbilde: „Er nannte es >Erlebnisschichtung<, was die ungefähr Gleichaltrigen miteinander teilen.“ Gemeinsam sei ihnen, auch wenn sie es unterschiedlich erlebten: historische Ereignisse; gesellschaftliche Konventionen; technische Möglichkeiten, auch wenn nicht alle daran partizipierten: „Und im Groben der Lebenslauf, ungefähr gleichzeitig die Kindheit, gleichzeitig die Phase der Prägung, gleichzeitig die Phase, in der man selbst – in unterschiedlichem Maß natürlich – prägend wirken kann auf die Welt.“ Innerhalb einer Generation ergeben sich unterschiedliche Varianten, in denen sich das Verhältnis zwischen Individuum, Kohorte und Ereignis abbildet:
„Man kann Zeitgenosse eines historischen Ereignisses sein, ohne dass es eine Auswirkung auf das eigene Leben gibt oder ohne dass man von der Auswirkung weiß. Man kann davon wissen und sich dazu verhalten, aber auf unterschiedliche Weise. Und man kann zu einer Kohorte gehören, die in ähnlicher Weise reagiert. Mannheim hat Soziologenwörter für diese unterschiedlichen Grade von Gemeinsamkeit: >Generationslagerung<, >Generationszusammenhang<, >Generationseinheit<.“
Barbara Supp exemplifiziert dies für ihre Generation – die Boomer – anhand von Tschernobyl (und an weiteren Ereignissen: Vietnamkrieg, Niederschlagung des Aufstands in Prag, RAF-Terrorismus, Waldsterben):
„Der Mensch wird beeinflusst von seiner Zeit, und er kann sie beeinflussen, das gilt für Individuen wie für Generationen.“
In Anlehnung an Heinz Bude („Abschied von den Boomern“) führt sie einen Begriff Niklas Luhmanns ein, der von der „Prominenzphase“ eines Lebenslaufs spricht: Es gehe um das Lebensalter von Mitte fünfzig bis Mitte sechzig: die Zeit, in der ein Mensch in besonderem Maße Einfluss ausüben könne. Aber selbstredend wirke auch ein Nichtprominenter prägend, da er Stimmungen mit beeinflusse, Konventionen mit etabliere, auch mit 20 oder 30 schon:
„Wer Kinder erzieht, prägt. Wer wählt, prägt. Wer Diskurse führt, ob im Feuilleton oder am Stammtisch, prägt. Wer also Stellung bezieht, eine Haltung verbreitet, in den Neunzigerjahren zum Beispiel über die Angriffe gegen Migranten, über den sich ausbreitenden Neoliberalismus, wirkt mit darauf ein, was als Mainstream gilt, hat also einen Einfluss auf die Gesellschaft, in der er oder sie lebt.“
Man mag Barbara Supp zu Gute halten, dass sie ihren Beitrag Anfang August 2024 publiziert hat. Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen veranlassen uns aktuell genau zu der Frage, wer aus welchen Motiven einer gesichert rechtsextremen Partei seine Stimme gibt? Liefern uns – bei genauerer Betrachtung – die Unterscheidungen Karl Mannheims Erklärungshilfen?
Ich kehre zurück zu meinem Ausgangsmotiv. Der Generationenbegriff und –zusammenhang dient mir in erster Linie dazu – am ausgehenden Rande der Kriegskinder (Jg. 1952) – zu verstehen, wie sich für mich erklären lässt, dass ich mich beispielsweise der Boomer-Generation näher fühle als der Generation der Kriegskinder. Zunächst einmal zu einer soziologisch vorgeschlagenen, grobkörnigen Abgrenzung der „prägenden Generationenzugehörigkeit“ (die vorgelegten Zahlen basieren auf den Vorausberechnungen des Zensus 2021 mit Stichtag 31. Dezember 2023):
Kriegsgeneration (Geburtsjahrgänge 1923-1945)
Kriegskinder (Geburtsjahrgänge 1946-1956)
Babyboomer (Geburtsjahrgänge 1957-1966)
Generation X (Geburtsjahrgänge 1967-1980)
Generation Y-Millennials (Geburtsjahrgänge 1981-1994)
Generation Z (Geburtsjahrgänge 1995-2010)
Generation Alpha (Geburtsjahrgänge 2011-2024)
Es liegt auf der Hand, dass generationenübergreifende Effekte die Logik dieser Einteilung sehr in Frage stellen. So ist es gewiss nicht zu leugnen, dass die sogenannte 68er-Revolte maßgeblich von Angehörigen der Kriegskinder angestoßen worden ist. Und da sind die ideologischen Wegbereiter sogar weitgehend außen vor (Rudi Dutschke beispielsweise ist Jahrgang 1940 – liest man dazu beispielsweise Gretchen Dutschke-Klotz‘ Dutschke-Biografie wird aber auch sehr schnell deutlich, wie generationenspezifische, gewissermaßen habituelle Merkmale – wie z.B. ein patriarchales Weltbild -, wie sie der Kriegsgeneration zugeschrieben werden, massenhaft das Weltbild und die soziale Praxis der nachfolgenden Generation überlagern und prägen).
Wie kann man dann beispielsweise einem in den Nullerjahren geborenen jungen Erwachsenen plausibel Unterschiede nahe bringen, die immerhin nicht nur weltbildprägend sind, sondern eben auch als habituell gewordene Grundorientierungen das alltägliche Handeln maßgeblich beeinflussen?
Die folgenden Ausführungen basieren auf einer Rekonstruktion von Unterschieden, die sich für mich nur aufgrund von generationenspezifischen Ausgangslagen erklären lassen. Schwammige Begriffe wie Zeitgeist werden eine Rolle spielen, aber eben auch harte Fakten wie Zugänge zu Bildung und damit einhergehende berufliche Perspektiven. Die aus meiner Herkunftsfamilie ersichtlichen Unterschiede sind dabei so gravierend, dass nicht nur unterschiedliche Einstellungen sichtbar werden, sondern dass bis in die feinsten, lebenslaufbestimmenden Umstände Unterschiede greifbar werden, die ums Ganze gehen. Ums Ganze geht es allein schon hinsichtlich ererbter Grundhaltungen, die man in meiner Herkunftsfamilie mit einem don’t ask – don’t tell umschreiben kann – eingedenk der gewiss sinnvollen Gratwanderungen, die sich aus der Frage ergeben, was kann/darf man sagen und worüber sollte man eher schweigen.
Ausgangslage: Um mit generationenbezogenen Unterschieden arbeiten zu können, wird es im Folgenden darum gehen, Versatzstücke aus Lebensläufen mit zeithistorischen und zeitgeistbezogenen Rahmenbedingungen abzugleichen. Dabei werden zwar individuell zurechenbare ereignishafte und typische Momente angesprochen. Dies geschieht aber in erster Linie, um ihre generationenspezifische Besonderheit in einem sich wandelnden Möglichkeitsraum zu begreifen. Dazu stelle ich uns Fragen.
Mein Geburtsjahrgang ist das Jahr 1952. Von dort aus gesehen geht es um die Elterngeneration (1922er und 1924er Jahrgänge); eine Schwester, 1942 geboren, und deren Sohn (Jahrgang 1962). Man hat mich 2004 gefragt, ob ich Pate seiner Tochter werden wolle: So ergibt sich ein einhundert Jahre umgreifendes Zeitfenster mit folgenden jahrgangsbezogenen Zäsuren: 1924 – 1942 – 1952 – 1962 – 2004; einhundert Jahre Leben in Deutschland, im Deutschland der Weimarer Republik, im Tausendjährigen Reich des Faschismus, Leben in die prosperierende und aufgewühlte Bundesrepublik (der Revolte) bis hinein in die Welt der sogenannten Generation Z. In welcher Weise mag hier – wie Alexander Kluge – empfiehlt – eine Verankerung gelingen? Eine Verankerung in Zeiten, „die sich phasenweise so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind – wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen“?
Denn – so Kluge (hier - der Link zum Interview):
„Es ist am leichtesten sich zu verankern in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie – so Kluge zu Denis Scheck, der ihn interviewt – wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen, unter der Zahl werden wir wohl nicht geboren sein, dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen.“ Alexander Kluges Verankerungsempfehlung wird uns durch die Geschichte gewissermaßen als basso continuo begleiten. Beginnen wir mit dem Geburtsjahr 1924. Ich werde mich auf Fragen beschränken und partielle Antworten, die vor allem dann diskussionswürdig sind, wenn sie sich aus dem Rückblick der jeweiligen Nachfolgegeneration ergeben. In welcher Weise die von Barbara Supp im erwähnten SPIEGEL-Beitrag bereitgestellten Unterscheidungen dabei hilfreich sein könnten, wird im Nachgang erörtert:
Eine knappe Einlassung zur Bemerkung Kluges, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Krieg herrschen: Viele, die versuchen, sich in ihrer Ahnenfolge zu sehen und möglicherweise zu verankern, geraten unter Umständen auch in Bedrängnisse. Es mögen sich unter Umständen tatsächlich Phantasien zu einem Krieg in uns einstellen, wenn wir uns nur unsere acht Urgroßeltern vorstellen und dabei konkret und leibhaftig gewärtigen, wer uns - in Gestalt unserer Eltern und Großeltern - unmittelbar vorausgeht, und wem wir unser Dasein verdanken.
Wer bist du, wenn du 1924 in der Rheinprovinz am Rande der Eifel geboren wirst, Mutter und Vater ungelernt, sich verdingend als Hausangestellte und städtischer Arbeiter? Du besuchst die Katholische Volkschule, wirst im Glauben erzogen. Von allen Geboten wird bis an dein Lebensende mit Inbrunst das Vierte dich prägen, adeln und auszeichnen. Nach dem Verlassen der Schule trägst du bei zum Lebensunterhalt – meinetwegen als Küchenhilfe und Kindermädchen. Wer bist du und wie kann es dann sein, dass du dich verlierst als Siebzehnjährige, einem fremden Mann erliegst, ein Kind von ihm empfängst, ohne dass du wirklich weißt, wie dir geschieht? Wer bist du als gefallenes Mädchen, dass den geliebten Vater – Weltkrieg I-Soldat, im Herzen Monarchist und ehrbewusst – zutiefst enttäuscht? Wer bist du, wenn du auf offener Straße angespuckt wirst? Wer bist du, die die Frucht eines Bastards in sich austrägt und als ein gefallenes Mädchen aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird? Wenn dir wohlgesonnene Menschen – es sind nur wenige (neben der Mutter, deine Oma und die künftige Patin deiner Tochter), denn in der Not passen 1000 auf ein Lot – in dieser Not beistehen? Wenn du die ungesegnete Frucht deines Leibes in einem Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt austrägst, wo – das Beste, was dir widerfahren konnte – professionelle GeburtshelferInnen dir und deinem Kind Wohlgefallen (denn du schenkst ja dem Führer ein Kind) und Fürsorge angedeihen lassen? Wer bist du, wenn du mit einem Bastard wieder dorthin zurück kehrst, wo man dich ausgestoßen hat? Wer bist du in der Hoffnung, dass Gras über die Sache wächst und dass – um Gotteswillen – nicht irgendwann ein Mann vor deiner Türe steht, der Ansprüche stellt und dir womöglich ein zweites Mal zu nahe kommt? Wer bist du, wenn ein Mann dir den Hof macht, der dir von Kindesbeinen an vertraut ist, der um deine Umstände weiß, und der nicht aufgibt – der ganz einfach nicht aufgibt? Wer bist du, wenn dir - mit deiner unehelichen Tochter - und deinem Mann zwei Söhne geboren werden, die hineinwachsen in die heile Familie und bist zuletzt – in einem langen Leben – genauso, wie ihre Halbschwester, das vierte Gebot zu ihrer DNA machen? Wer bist du, wenn deine Tochter dir nacheifert und mit 18 Jahren ein unehelich gezeugtes Kind empfängt und dir, gemeinsam mit ihrem nolens-volens-Mann den ersten Enkel schenkt? Wer bist du, wenn du diesen Enkel vergötterst und ihm all die Liebe angedeihen lässt, mit der du dich deiner Tochter gegenüber nur spärlich zeigen konntest? Wer bist du schließlich mit all deinen Enkelkindern, die du - zu allem Unglück - deinen jüngsten Sohn auch noch verlieren musst, nachdem dein Mann - kriegsversehrt – schon vor der Zeit gegangen ist?
Einerseits bleibst du für deine Söhne die beste vorstellbare Mutter, halt die Mama mit Leib (Herz) und Seele; und natürlich eine Oma, die all das zu geben vermag, was eine Oma geben kann (und die mir Hildes Geschichte schenkt - vor allem auch, weil du - noch zu Lebzeiten - Frieden mit deiner Tochter gefunden hast)!
Wer bist du, wenn du 1942 geboren wirst als Bastard in eine Welt des Terrors und der Ausgrenzung? Wer bist du, wenn man in der Schule über dich lacht, weil du – du weißt es nicht besser – dich vorstellst mit Namen und einem Geburtsnamen dazu? Wer bist du, wenn du früh bemerkst, dass du anders bist, dass alles anders ist, wenn man dich – zur Erziehung – aus purer Not katholischen Schwestern anheimgibt, die nichts Besseres wissen zu tun, als ihr eigenes Trauma, ihre eigene Enttäuschung, ihren eigenen Frust an den ihnen Anvertrauten auszuleben? Wer bist du, wenn du – nach acht Jahren Volksschule und Schwesternterror – als Bürohilfskraft beginnst deinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Welt zu entdecken? Die Welt der Fünfzigerjahre, gnadenlos in ihrer Borniertheit, ihrer reaktionären Ausrichtung! Wer bist du als katholisches Mädchen vom Land in der dir gemäßen Volksschule, in der zurückgekehrte und reaktivierte Nazis nahezu bruchlos die alte Welt verkörpern – mit Disziplin, Prügelstrafe und einem heimlichen Lehrplan, in dem die Nazi-Ideologie in so vielen Spielarten und habituellen Unsäglichkeiten fortlebte? Wer bist du, wenn du, eben erst 18 Jahre alt, und nach eigenem Bekunden – ungewollt, dumm wie Stroh, unaufgeklärt und verrückt vor Liebe – wie deine Mutter – ein Kind empfängst, ohne wirklich zu wissen, wie dir geschieht? Wer bist du, wenn du den nolens-volens-Mann ruck-zuck ehelichst und wild entschlossen bist, es gut zu machen? Wer bist du, wenn du in die aufbrechende Welt der Revolte, Vater-Mutter-Kind sein willst, sein musst? Wer bist du, wenn du glaubst, ein Haus, ein Baum, ein Hund und ein Kind würden schon dafür sorgen, dass sich alles findet und ordnet zum Besten? Wer bist du, wenn die Welt auf Revolte gebürstet ist und du nichts anderes weißt und fühlst, als dass das Alt-Hergebrachte auch das Richtige ist. Wer bist du, wenn dein Kind dir das Gegenteil nahe bringt und das Alt-Hergebrachte in Frage stellt – im Übrigen so, wie es sich gehört für ein gebildetes Kind, das schon mehr weiß und spürt von den Widersprüchen und Widerwärtigkeiten dieser Welt? Wer bist du, wenn du Zug um Zug erfährst und erleidest, dass sich nicht alles zum Besten findet, dass die Welt aus den Fugen gerät und das Heil möglicherweise in der Trennung liegt? Wer bist du, wenn der Schmerz die Sehnsucht betäubt und du Heil suchst, in dem, was du doch schon kennst? Wer bist du, wenn die zweite Ehe endet in der Erkenntnis, dass da jemand sich auf deine Kosten einen guten Lenz machen will? Wer bist du, wenn die dritte Ehe vor der Zeit endet, weil das Schicksalszufällige in Gestalt unheilbarer Krankheit dem Beliebigkeitszufälligen (einer Wahl-Ehe aus Überzeugung) einen fetten Strich durch die Rechnung macht (mach dir einen Plan, und das Schicksal fällt lachend vom Stuhl)? Aber vor allem: Wer bist du, wenn du ahnst, wenn du weißt, dass dein Leben auf einer Lebenslüge derjenigen beruht, die dich geboren hat (don't ask - don't tell)? Wie findet so jemand, dem man schließlich vorhält, er nehme sich zu wichtig, seinen Frieden? Er findet seinen Frieden spät – aber immerhin in der Einsicht fehlbar zu sein, wie alle Menschen, aber auch hartnäckig und zäh, hilfreich und helfend auf seine Weise.
Ein kleiner Exkurs mit Silvia Bovenschen (auch für meine Cousine):
„Die Pille – Immer das Gestöhne, die gepeinigt aufgerissenen Augen, das furchtsame Getuschel während des Unterrichts unter den Mädchen der Oberstufe - >… ich habe meine Tage nicht bekommen. Der Vater schlägt mich tot.< Dann meistens die Erleichterung ein oder zwei Tage später (meistens, denn ein Kind hatte schon ein paar Monate in der Oberprima verbracht). Da war viel Angst unter den Mädchen. Adressen von dubiosen Helfern wurden gehandelt. (Darf man von dieser Angst der jungen Mädchen noch erzählen, jetzt, wo die Gebärunwilligen bevölkerungspolitisch auf der Anklagebank sitzen?)
Dann kam die Pille. Und mit ihr eine anhaltende Erleichterung. Ich erhielt sie ungewöhnlich früh, diese Pille, von einem Gynäkologen, zu dem ich eigentlich nur wegen Menstruationsbeschwerden gegangen war. Ich erinnere mich an den Neid der anderen und das Gefühl der Befreiung, als ich das Rezept in den Händen hielt […] >Nimmst du jenes Präparat, das dir der Gynäkologe verschrieb, auch einigermaßen regelmäßig?< fragte meine Mutter mich beim Mittagessen. Ich war so erstaunt, dass mir beinahe das Besteck aus den Händen gefallen wäre, denn das waren die ersten Worte meiner Eltern zu diesem Thema, die ich je vernahm (und es sollten auch die einzigen bleiben). In den fünfziger Jahren und noch in die sechziger hinein war die Angst vor der ungewollten Schwangerschaft immer schon in eine erste grundsätzliche Sexualangst eingelagert. Sexualität an sich galt als schmutzig. Ein Werkzeug des Teufels. Noch bevor wir uns als Kinder unter der Unkeuschheit etwas vorstellen konnten, wurden wir in der Schule und Öffentlichkeit zu Keuschheit verpflichtet. Schuldwarnungen wurden tief in uns hineingesenkt.“ (Silvia Bovenschen, Älter werden, Frankfurt 2008, Seite 123f.)
Wer bist Du, wenn du 1952 geboren bist – hinein in die Unterschicht, an der sich deine Ahnen selbst am Schopfe packen und aus dem Sumpf ziehen? Wer bist du, wenn du früh erkennst, dass dir ein Prinzendasein verheißen ist? Wer bist du, wenn du nichts verkehrt, aber alles richtig machen darfst/kannst? Wer bist du, wenn der Kokon deiner Kindheit und Jugend aus Zugehörigkeit, Geborgenheit und liebevoller Zuwendung gewoben ist? Wer bist du, wenn du nach acht Jahren Volksschule entdeckst, dass dir die Handelsschule nicht genügt und du dich selbst auf den Weg machst? Wer bist du, wenn du dich bei deiner Wahl für’s Gymnasium überhebst und früh deine Grenzen findest? Wer bist du, wenn dein Scheitern in der Familie nicht zur Ausgrenzung führt, sondern zu grenzenloser Unterstützung, bis du als erster in deiner großen, großen Herkunftsfamilie die Allgemeine Hochschulreife erwirbst? Wer bist du, wenn die Welle der Unterstützung dich bis zur Promotion hin trägt und du deinen Eltern, deinem Umfeld etwas zurückgeben kannst? Wer bist du, wenn dir der Bruder genommen wird und du an der Macht des Schicksalszufälligen zu verzweifeln beginnst? Wer bist du, wenn du dann der große Verlasser wirst – immer wieder - und Tränen an dir hingen? Wer bist du, wenn andere in deinem Wahn und deiner Hybris deine Not erkennen und dir hilfreich zur Seite stehen? Wer bist du schließlich, wenn du begreifst, dass die ungeheuren Privilegien, die dich – gestützt auf ein unverbrüchliches Urvertrauen – mit all der Hilfe, der Unterstützung, dem Wohlwollen und dem Zugang zu einer umfassenden Bildung nähren und halten, den ganzen Unterschied ausmachen? Wer bist du schließlich, wenn alle Welt dir wohlgesonnen begegnet, in den Situationen der Bewährung? Wer bist du, wenn die Alten hinfällig und hilfebedürftig werden? Wer bist du, wenn es darum geht der unseligen Dynamik eines don’t ask – don’t tell standzuhalten und zu entkommen? Wer bist du, wenn es darum geht, den dir zugedachten Privilegien gerecht zu werden? Wer bist du, wenn du dich der Frage stellst, wie es sich mit dem Sollen und dem Wollen im Leben verhält? Wer darfst du sein, wenn deine Kinder dich brauchen? Und wer darfst du erst recht sein, wenn es um den Kokon für diejenigen geht, die deinen Kindern entwachsen? Und wer wirst du sein, wenn du selbst der Hilfe bedarfst?
Wer bist du, wenn du 1962 geboren wirst – an der Nahtstelle der Unterschicht zur unteren Mittelschicht? Wer bist du, wenn du hineingeboren wirst in ein komplexes Familiengefüge, in dem du einerseits vielleicht wie ein Messias empfangen wirst, in dem aber andererseits Vieles im Dunkel liegt? Die Familie verfügt über ein Meer an liebevoller Zuwendung, und du musst auf der Hut sein, darin nicht zu ertrinken. Das Andererseits unterliegt einer untergründigen Dynamik, die man mit dem Doppelgebot eines don’t ask – don’t tell auf den Punkt bringen könnte. Also: wer bist du – wer kannst du sein – wer willst du sein in einem Meer von Liebe und Tabus? Wer bist du, wenn du geliebt, geachtet wirst als Baby, als Kind hinein wächst in eine Welt der Möglichkeiten und Erwartungen? Wer bist du, wenn du einerseits deine Möglichkeiten nutzt – du bist der zweite in einer bildungsfernen Familie, der die Allgemeine Hochschulreife erwirbt? Wer bist du, wenn du Erwartungen damit einerseits erfüllst, früh aber bemerkst, dass das Bündel an Erwartungen, das deine Eltern möglicherweise an dich herantragen, sich andererseits nicht mit dem deckt, was dein eigener Lebensentwurf dir nahe legt? Wer bist du, wenn du – meinetwegen als Volljurist dir Optionen eröffnest, die aber – wie Michael Stolleis in seinem Beitrag „Furchtbare Juristen“ (in: Deutsche Erinnerungsorte II, C.H. Beck, München 2003, Seite 538) darlegt, primär von einem ganz bestimmten Sozialisationstyp bedient werden – einem Sozialisationstyp, der möglicherweise deinem Selbstbild zuwiderläuft? Wer bist du, wenn Leib, Herz und Seele deinem Selbstbild folgen, der Broterwerb dir aber das auch Gegenteil abverlangt? Wer bist du, wenn in deinem frühen Erwachsenenleben dies so sehr offenkundig wird, weil vielleicht Gordon Matthew Thomas Sumner dir zeigt, dass man sich entscheiden kann/muss (einer deiner Weggefährten stellt sich dieser Entscheidung ein ganzes Leben lang auf seine Weise, auch eine Weise, die dir die Erziehung seines Kindes mitüberlässt)? Wer bist du, wenn die Früchte der Bildung, von denen du gekostet hast, dir einen Horizont eröffnen und gestatten, der weit, weit über den Horizont der meisten in deiner Herkunftsfamilie hinausgeht? Wer bist du, wenn du als Angehöriger der Boomer-Generation Optionen für dich beanspruchst – beanspruchen kannst, die deiner Eltern-Generation nicht annähernd ein Möglichkeitsraum waren? Wer bist du, wenn du eine Praxis entfaltest - ähnlich wie viele deiner Generation (und auch deine Onkel), in der Beziehungen sich in der Tat im Modus des Plurals und des Optionalen vollziehen - manchmal sogar in Parallelwelten? Wer bist du, wenn dies – möglicherweise erst spät – gerinnt zur Liebe deines Lebens, mit der ein Kinderwunsch nicht nur ein Wunsch bleibt? Wer bist du, wenn all dies Konturen und Gestalt annimmt – in der Tat – zu einer Vater-Mutter-Kind-Skulptur? Wer bist du, wenn dein Gefieder verklebt, und wenn es Phönix gelingt mit Behaarlichkeit und Lebenswillen der Asche zu entsteigen? Wer bist du, wenn Vergangenheit dich bedrängt und Zukunft der Gestaltung harrt? Wer bist du, wenn die Welt deiner Stimme harrt, weil ein beharrliches Schweigen droht, die Quellen der Erkenntnis und der Liebe versiegen zu lassen? Wer bist du, wenn in deinem Umfeld Beziehungen im Desaster enden – aber lange nicht enden wollen? Wer bist du, wenn all dies eine Welt ausmacht, die dein Duldungsvermögen übersteigt, aber dein Verstehensvermögen herausfordert? Wer bist du, wenn Abgrenzung Not tut, Gelassenheit Errungenschaft ist, Verständnis eine Frage von Bildung wird, Ernüchterung der Preis ist, mit dem die Münze des Idealen ihre Kehrseite, nämlich die einer realen Welt mit Menschen aus Fleisch und Blut zeigt? Wer bist du, wenn andere endlich ihren Frieden finden? Wer bist du, wenn die, die nach dir kommen, Fragen haben, Orientierung suchen – um Zugehörigkeit und Geborgenheit immerhin wissend? Wer bist du dann im Ozean eines don’t ask – don’t tell? Wer bist du dann mit deinem ganzen Vermögen an Wissen und Kenntnissen?
In Du musst dir alles geben stellt Gottfried Benn in den Raum – man weiß nicht so genau, ob als Frage oder als Faktum?: „Warst du so sehr der Eine, hast das Dumpfe getan… Warst du der große Verlasser, Tränen hingen dir an… Stier unter Fackelhaltern… Gabst dir alles alleine… Süße Stunde. O Altern!
Ja, Altern! Aber es ist noch nicht zu Ende, denn wir fragen weiter und stehen noch nicht am Rand:
Wer bist du, wenn du 2004 geboren bist von deiner ganz und gar besonderen Mutter und einem Vater, der angesichts deiner Ankunft müde, sprachlos und glücklich ist? Wer bist du also, wenn deine Ankunft ersehnt und der Kokon bereitet ist? Wer bist du, wenn der Kokon früh Risse bekommt und früh das Schicksalsmächtige das Zepter in die Hand nimmt? Wer bist du, wenn dich die Liebe trägt, wie ein Boot auf stürmischer See, in der sich immer wieder die Ungeheuer hervorwagen und ihre Fratzen zeigen? Wer bist du, wenn sich die stürmische See langsam beruhigt, dein von Liebe getragenes Boot sich in ruhigere Fahrwasser begibt und die Mündung des Flusses erreicht, von dem her du aufgebrochen bist? Wer bist du im Schutz und unter der Obhut der Mutter, die dein Boot gegen die Strömung steuert? Wer bist du, wenn du Schritt für Schritt - auf eigenen Füßen all das erreichst, was dir nicht bedingungslos ins Stammbuch geschrieben ist? Wer bist du, wenn du – allen Widrigkeiten zum Trotz – all das erreichst, was nur aus deinem eigenen Vermögen genährt und getragen wird? Wer bist du, wenn das Schicksalszufällige zum zweiten Mal das Zepter in die Hand nimmt und dir dein Zuhause nimmt? Wer bist du, wenn du spürst, dass du – trotz dieser Schicksalsmacht – nicht alleine bist? Wer bist du, wenn du spürst, wie sehr du besonders bist, durch den Blick deiner Mutter, deines Vaters, deines Bruders, deiner Oma (und auch deiner Opas) und auch dein Pate reiht sich hier ein? So kannst du dir vielleicht – wie weiland Benedict Wells – die Frage stellen: Wer will, wer kann ich sein? In der Gewissheit deines Vermögens, deiner Kraft, deiner Träume und Sehnsüchte!
Ich flüchte mich im Nachgang nun nicht in die Wissenschaft, sondern ich bemühe wissenschaftlich begründete Unterscheidungen, um in den generationsbezogenen Zeitsprüngen massive Unterschiede kenntlich zu machen, die das Handeln und die Dynamik, der sich die jeweiligen Protagonisten ausgesetzt sehen, transparenter erscheinen lassen. Meinem Patenkind habe ich in diesem Zusammenhang geschrieben, dass ich ihr gerne die „gänzlich unterschiedlichen Ausgangslagen der Generationen, in deren Abfolge wir uns bewegen, näher bringen möchte“ – im Blick dabei eben die Kriegsgeneration (aus dem Blickwinkel meines Patenkindes die Urgroßeltern), die Kriegskinder (aus dem Blickwinkel meines Patenkindes die Großeltern) und schließlich die Boomer (aus dem Blickwinkel meines Patenkindes die Eltern). Ich selbst – als 52er Jahrgang – gerate dabei zwischen die Kriegskinder und die Generation der Boomer:
„Ich möchte auf meine Weise eine Lanze brechen für Deine Großeltern. Dabei wähle ich eine Argumentation, bei der vor allem die Boomer im Vordergrund stehen. Ich selbst stehe – so sehe ich das zumindest – aus soziologisch und zeitgeistbedingten Erwägungen den Boomern näher als den Kriegskindern. Warum? Als 1952 Geborener kann ich hinschauen, wo ich will. Die Nähe ergibt sich aus der Wirkungsmacht kultureller und politischer Einflüsse gleichermaßen: Musik, Literatur, Politik, Kunst, Sexualität, Bildung/Ausbildung – ein aus all diesen Einflussfaktoren sich ergebender Blick auf die Welt und unserse Gesellschaft erklärt vielleicht eine größere Nähe zu der Generation der Boomer. Um einmal ähnliche Handlungsmuster bei Deinem Vater (Jg. 1962) und mir (Jg. 1952) aufzuzeigen: Weder Dein Vater noch ich haben die erste Frau geheiratet, mit der uns eine langjährige, intime Beziehung verband. Wir hatten die Wahl! Für Deine Großeltern gab es solche Optionen und Wahlmöglichkeiten in keinem vergleichbaren Ausmaß. Es gab auch nicht das (für uns greifbare Privileg einer „höheren Bildung“ – verbunden mit dem Besuch eines Gymnasiums und dem Erreichen der Allgemeinen Hochschulreife - die Chance zu einem Studium!) Die Boomer-Generation ist die zweite Generation, die sich des Füllhorns der Optionen bedienen konnte! „Für die Boomer selbst sind geplatzte Beziehungen normal. Trennungen? Immer wieder. Ein Leben lang.“ (Barbara Supp im SPIEGEL 33/24) Odo Marquard würde diese Optionalität unter der Rubrik des Beliebigkeitszufälligen zurechnen. Dein Leben hinein in ein Erwachsenenleben hat dagegen mindestens schon zweimal Begegnung machen müssen mit dem, was Odo Marquard das Schicksalszufällige nennt. Der 14. Juli 2021 gehört zweifellos in diese Kategorie!“
Der ganze Unterschied, um den es hier getan ist, hängt mit den radikal voneinander abweichenden Bildungsbiografien zusammen – und freilich mit den exorbitant gewachsenen Freiheitsgraden, mit denen sich die Boomer gesegnet und konfrontiert sehen. Und ich stelle die Frage an alle auf diese Weise Gesegneten: Was haben wir daraus gemacht? Barbara Supp betont als eine Facette das bereits weiter oben erwähnte Faktum: „Für die Boomer selbst sind geplatzte Beziehungen normal. Trennungen? Immer wieder. Ein Leben lang.“ Natürlich sind hiermit verbunden Kollateralschäden nicht von vorne herein eingepreist. Ähnlich wie die 1944 geborene Silvia Boventer (siehe weiter oben) beschreibt Barbara Supp die Unterschiede mit Blick auf die Kriegskinder an einem drastischen Exempel (und gibt sich selbst im Übrigen als Boomerin zu erkennen: „Dieser Text <von Barbara Supp> meint primär die Jahrgänge 1955 bis 1965, und, dies sei nicht verschwiegen, die Autorin dieses Textes gehört dazu.“):
„Manchmal verschwand ein Mädchen aus der Schule, man erkundigte sich und erfuhr: >Die kriegt ein Kind.< Man sah sie dann nie mehr. Dies muss man im Kopf haben, um zu begreifen, wie unglaublich groß die Erleichterung war, als es dann die Pille gab. Erst nur für verheiratete Frauen, dann für die, die Glück hatten mit dem Frauenarzt, dann endlich für alle.“
Die größte Kränkung mag für viele zu Beginn der 60er Jahre Geborenen in der unverhohlenen Tatsache begründet liegen, dass sie – wäre die Pille – früher verfügbar gewesen, vielleicht niemals das Licht der Welt erblickt hätten. Eine weitere folgenreiche Feststellung Barbara Supps liegt in der Tatsache begründet, dass Scheidungen bis in die späten 60er Jahre hinein „fast schon einen skandalösen Sonderfall“ darstellten, „über den getuschelt“ wurde. Die Boomer kultivierten Trennungsprozesse hingegen exzessiv.
Allein diese völlig veränderte Ausgangslage – und hier geht’s eben um’s Ganze – bildet einen zentralen Mosaikstein in den nun einsetzenden Individualisierungsschüben; jene Individualisierungsorgien, die von Richard Sennett und Karl Otto Hondrich in den 90er Jahren in ihren Ambivalenzen beschrieben und analysiert werden. Die Gemengelage verdeutlicht, dass sich gesellschaftlicher Wandel und Verschiebungen/Veränderungen bezogen auf Ansprüche, Selbstbilder und Habitus wohl entschieden wechselseitig bedingen.
Es ist keineswegs das „Verdienst“ der Boomer jene Freiheitsräume kolonisiert zu haben, die zu ihrer individuellen Entfaltung beitrugen und die gleichzeitig eine veränderte Kultur des Zusammenlebens, der Kindererziehung oder der sexuellen Freizügigkeit erst ermöglichten und begründeten! Wie wohlfeil mag es uns da vorkommen, wenn die zu Beginn der 60er Jahre und in die 60er Jahre Hineingeborenen zu Teilen gnadenlos ins Gericht gehen mit den gescheiterten Lebensentwürfen ihrer Eltern, mit Fragwürdigkeiten und Fehlleistungen ihrer Eltern in der Erziehung?
Ich würde gerne die These diskutieren, dass Generationenzugehörigkeit in mancherlei Hinsicht - kombiniert mit anderen Erklärungsansätzen - belegbare Unterschiede im Hinblick auf Wahrnehmung, Bewertung und Gestaltung von Welt ermöglicht. Zuletzt hat Joachim Gauk bei Caren Miosga transgenerationale Aspekte bemüht, um das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern plausibel zu machen.