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Benedict Wells: Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Leben VI

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Meine Auseinandersetzung mit Benedict Wells hat unverhofft einen völlig unerwarteten Anstoß bekommen, einen Impuls, der mich dazu verführt, Erwartungen zu phantasieren – nein, nicht zu hegen –, Erwartungen, die so illusorisch sind, wie meinetwegen die frühen Phantasien Benedict Wells‘ ein erfolgreicher Autor zu werden. Auf Seite 337 meint er, es gebe Autoren, die „an ihrem Leben entlang schreiben“. Andererseits gebe es Autoren, die ihre Einfälle aus der Außenwelt bezögen: „aus den Geschichten anderer Menschen und Beobachtungen“:

„Manche fangen mit der eigenen Geschichte an, ehe sie sich zunehmend anderen Themen zuwenden. Andere landen zu Beginn weit draußen im Fiktiven und müssen sich dem eigenen Leben annähern; das Schreiben als Rückkehr zu sich selbst.“

Am vergangenen Samstag – ein Tag vor dem zwanzigsten Geburtstag meines jüngsten Patenkindes – trafen sich Patenonkel auf der einen Seite, Vater, Mutter, (Paten-)Kind auf der anderen Seite. Im Geburtsjahr meines Patenkindes hatte ich mit einer Kladde begonnen und diese Kladde dann völlig vergessen. In meinem Urlaub auf Juist habe ich dann den unmöglichen Versuch unternommen, der damit ausgelösten Bringschuld gerecht zu werden. Insofern ein Glücksfall, als dies zumindest ermöglichte eine Spanne von zwanzig Jahren zu überschauen und damit zu wissen, was an wichtigen äußeren Wendepunkten im Lebenslauf meines Patenkindes durch Beobachtung belegbar schien. Ich habe unter anderem Odo Marquards Unterscheidung des Schicksalszufälligen vom Beliebigkeitszufälligen bemüht (siehe: hier).

Ein weiterer, unverhoffter Glücksfall ergab sich aus der schlichten Tatsache, dass ich aus hunderten und aberhunderten von Büchern just Benedict Wells‘ Die Geschichten in unsVom Schreiben und vom Leben auswählte. Eigentlich unpassend für eine Zwanzigjährige – dachte ich noch –, versucht der unterdessen vierzigjährige Benedict Wells uns doch hier zu vermitteln, „warum Schreiben die schönste Sache der Welt ist und zugleich oft zum Verzweifeln“. Im Klappentext ist die Rede von einem „berührenden und lebensklugen Buch – eine Antwort auf die Frage: Wieso schreibt man, und was suchen und finden wir in Literatur?“ Hier wird also weniger erzählt als viel mehr reflektiert. Der Paradigmenwechsel im Wellsschen Schreiben ergibt sich sodann aus dem schlichten Umstand, dass Benedict Wells „einen tiefen Einblick in sein Leben, von seiner Kindheit bis zu seinen ersten Veröffentlichungen gibt“. Mehr noch würdigt Ian McEwan diese fast 400 Seiten umfassende Selbstoffenbarung als „eine kunstvolle, und ungemein fesselnde Meditation über Leben, Verlust und Liebe“ (auf der Rückseite des Buchumschlags).

Als ich das unverpackte Buch aus dem Rucksack zog, und mein Patenkind realisierte, was ich ihr da offerierte, stellte sich mit der Überraschung unversehens ein Strahlen ein, das mich vollkommen überraschte. Ihr war Benedict Wells nicht nur bekannt. Sie hatte alle seine Bücher gelesen und erwartete voller Ungeduld den neuen Titel, hatte ihn bereits in Händen, hatte ihn nur nicht gekauft, weil die Eltern augenzwinkernd signalisiert hatten, dass da etwas unterwegs sei (sie hatten – allerdings erfolglos – versucht zum Geburtstag über den Verlag ein signiertes Exemplar zu beschaffen). Die etwa zwei Jahre zurückliegende Initialzündung war in Hamburg nach einer Lesung von Benedict Wells erfolgt. Eine Wahltante meines Patenkindes hatte diese Lesung besucht und war davon so sehr fasziniert und bewegt, dass ihre Anregungen Benedict Wells zu lesen, fruchtbare und nachhaltige Resonanz auslösten.

Nun saßen wir da – eine beglückte Zwanzigjährige und ein mehr noch beglückter 72jähriger Patenonkel. Der war fasziniert von Benedict Wells‘ Geschichte(n). Vor allem – nach kometenhafter Karriere – von dem Eingeständnis bzw. der Einsicht, dass irgendwann die Bücher anfingen auch über ihn zu sprechen. Peter Sloterdijk sagt in den Frankfurter Vorlesungen (bei Suhrkamp, Frankfurt 1988, S. 19):

„>Die Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus<, hatte Celan gelehrt. Inzwischen wissen wir, daß Poesie sich aussetzt, weil sie von etwas Zeugnis gibt, dem ihre Sprecher ausgesetzt waren, ehe es bei ihnen zur Selbstaussetzung kam.“

Benedict Wells drückt dies sehr viel profaner und schlichter aus:

„Denn je mehr Geschichten man in die Öffentlichkeit bringt, desto mehr wird man von einem am Rand fläzenden Beobachter zu einem im Mittelpunkt stehenden Beobachteten.“ (S. 338ff.)

Mir sind Die Geschichten in uns zu einer Offenbarung geworden, weil Benedict Wells nach seinem kometenhaften Aufstieg offenlegt, warum er sehr früh – eben lange vor seinem Durchbruch – die Namensänderung von von Schirach zu Wells vorgenommen hat, und wie lange er unterwegs war, um eine Sprache für seine wirklichen Gefühle zu finden. Das Bekenntnis auf den Seiten 34ff. kommt eben einer Selbstaussetzung gleich. Und vor allem: Es könnte andere ermuntern ihre Sprache zu finden.

Dies – vor allem dies – erhoffe ich für mein Patenkind, in dessen Leben Schicksalszufälliges schon mehrfach (unter anderem verbunden mit dem 14. Juli 2021) auf dramatische wie lebens- und habitusprägende Weise Spuren hinterlassen hat. Vor dem allein, was Benedict Wells uns offenbart, mag man fassungslos stehen – verbinden sich doch hier Mosaiksteine zum Schreckensbild einer düsteren und belasteten Kindheit. So düster die Konturen dieser Kindheit und so unwahrscheinlich der Weg zum Erfolgsautor scheinen, so unglaublich kommt es uns vor, dass vor allem auch Dankbarkeit und Liebe die Grundmotive für den Schreibfuror Benedict Wells‘ liefern.

Für meinen Vater, den Geschichtenerzähler, lautet die Widmung in Die Geschichten in uns; jenen Vater, der ihn auf versifften Matratzen schlafen lässt, und der es zulässt, das er früh in eine Parentifizierung gerät, wenn er sich schämt, den Gerichtsvollzieher wiederholt durch die sagenhaft vermüllte Wohnung führen zu müssen; wenn er sich (allein mit seiner Schwester) immer wieder um die an einer bipolaren Störung leidende Mutter kümmern muss.

Für Ariadne und Benedict - lässt uns Richard von Schirach in seinen Erinnerungen Der Schatten meines Vaters (erschienen im Carl Hanser Verlag, München 2005) teilhaben an einer buchstäblich verrückten Familiendynamik, in der die Liebe der alle miteinander verbindende Modus bleibt. Richard von Schirach erzählt in dieser autobiografisch motivierten Schrift vor allem auch das Ringen um einen Vater – Baldur von Schirach –, der auch nach seiner Verurteilung im Rahmen der Nürnberger Prozesse und nach zwanzig Jahren Haft letztlich unbelehrbar bleibt (um dies nachzuvollziehen, sollte man Der Schatten meines Vaters einfach lesen).  Eine folgenreiche Reminiszenz Richard von Schirachs soll hier nicht unerwähnt bleiben:

„Wenige Tage vor der Entlassung traf der letzte Brief aus Spandau ein. Es war der 1.080ste in ununterbrochener Folge […] Nach zwanzig Jahren, die mich zu einem zertifizierten Briefeschreiber gemacht hatten, wurde ich nach der Entlassung von >Nummer eins< (so das Synonym für seinen Vater) von einer Minute auf die andere dieses Amt  los […] Daß dem warmen, ja innigen Ton der Briefe bald darauf ein jäher Temperatursturz folgen sollte, traf mich unvorbereitet und sollte eine der schmerzlichsten Enttäuschungen meines Lebens werden.“ (S. 262f.)

Benedict Wells, der Die Geschichten in uns mit einer vierseitigen Danksagung abschließt, huldigt Mutter und Vater – neben seiner Schwester Ariadne – auf ungewöhnliche und anrührende Weise (so, dass ich hier nicht verabsäumen möchte, diese Liebeserklärung wiederzugeben - schaut dazu bitte auch einmal auf die Web-Seite von Benedict Wells):

„Meine Schwester hat mich beim Schreiben immer unterstützt und ist eine großartige Leserin, denn sie kann schon in miesen frühen Fassungen sehen, wie ein Buch später sein wird – weil sie mich so gut kennt wie niemand sonst (weshalb ich ihr auch ein Wort wie Neverboy verdanke). Vor allem aber ist sie einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich bin zutiefst froh und dankbar, sie zu  haben.
Meine Mutter konnte sich mit ihrem psychologischen Blick in alle Figuren hineindenken; dann diskutierten wir bei einem Essen über Alvas Vater oder die korrekte Darstellung der bipolaren Krankheit in Fast genial, aber auch über alles Mögliche andere. Diese liebevollen Momente und Besuche bei ihr nach schwierigen Jahren sind unendlich kostbar für mich; ein kleines Wunder und der Beweis, dass man nie aufhören sollte zu hoffen.
Mein Vater freute sich über alles, was ich machte und schrieb. Ein Jahr vor seinem Tod ließ er sich auch dieses Buch von mir vorlesen und kommentierte gut gelaunt die Stellen über sich selbst, besonders die kritischeren. Wenn er Geschichten erzählte, wurde es selbst in der größten Unordnung schlagartig gemütlich. Seine Zuneigung und die inspirierenden, oft lustigen Gespräche mit ihm gehören zum Schönsten in meinem Leben.“ (S. 380f.)

Benedict Wells hat mir mit Die Geschichten in uns ein überaus kostbares Geschenk gemacht – und dies in mehrfacher Hinsicht: Sollten mir selbst noch ein paar helle Jahre vergönnt sein, so wird Hildes Geschichte noch einmal mit einer frisch motivierten und gründlich überdachten Herangehensweise rechnen dürfen – losgelöst von der erdrückenden Nähe des ersten Anlaufs.

Auf Seite 381 macht Benedict Wells unter Zu guter Letzt 1 eine Bemerkung, die meinen zu Beginn erwähnten, hoffnungsvollen Phantasien einen neuen Schub verleiht. Er schreibt:

„Ich hoffe, ich habe im biografischen Teil nicht zu viel Persönliches zugemutet. Auch wenn das eher die zensierte Fassung ist, fiel es mir nicht leicht, so offen zu sein. Doch die Neverboys und –girls von gestern sind oft die depressiven Bittergirls und –boys von morgen, und falls nur ein Mensch sich in dieser Beschreibung gesehen fühlt, war es mir das schon wert.“

Danke, Benedict Wells: Die Verstrickungen und Dynamiken in meiner eigenen Herkunftsfamilie – Hildes Geschichte – schrumpfen im Vergleich mit den Schilderungen Ihres Vaters – und dem, was Sie selber schildern – zu etwas, dem man im Zeichen des Terrors der Nationalsozialisten nur den Charakter des Alltäglichen zubilligen mag. Gleichwohl tragen Ihre Schilderungen dazu bei, auf behutsame Weise die Grundhaltung eines: Don’t ask – don’t tell aufzubrechen. Denn in vielen - allzu vielen - Familien wirkt dieses don't ask - don't tell bis heute auf destruktive Weise:

Nur wer redet, ist nicht tot

Don’t ask – don’t tell

Die Welt kommt zu uns (manchmal auch als Flaschenpost – seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.

Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.

(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerbricht das dünne Eis der Contenance.)

Danach - und manchmal auch zuvor -
hilft dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.

Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!

Wenn’s  jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -

und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!

Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)

*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320

 

   
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