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Aufbruch mit Alexander Kluge – Ankunft mit Benedict Wells (VII) -
Macht Euch auf die Socken

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Zehn Jahre – schlappe zehn Jahre ist es nun her, dass ich mit meinem Blog online gegangen bin. Heute spanne ich einen galaktischen Bogen von der nachstehenden Veröffentlichung Wir müssen uns auf die Socken machen (meine Rezeption des Interviews von Denis Scheck mit Alexander Kluge zu dessen 80sten Geburtstag habe ich am 8. August 2014 online gestellt). Dieser Monolith, an dessen Steilwänden ich mir den Aufwind hole für mein Lebensprojekt, das mit Hildes Geschichte einen ersten, dilettantischen Aufbruch erlebt hat, wird nun zehn Jahre später komplettiert durch Die Geschichten in uns. Benedict Wells hat damit den anderen Monolithen in die Wüste der sozialen Systeme gesetzt. An seinem Fuß sprudeln nun die frischen Quellwasser, an denen man sich jeden Tag laben kann. Allein auf der Seite 381 sprudelt dieser Urquell, wenn er in der Liebeserklärung an seine Mutter feststellt: „Die liebevollen Momente und Besuche bei ihr nach schwierigen Jahren sind unendlich kostbar für mich; ein kleines Wunder und der Beweis, dass man nie aufhören sollte zu hoffen.“ Und unter Zu guter Letzt I (auf derselben Seite) fürchtet er, uns Lesern vielleicht zu viel Persönliches zugemutet zu haben. Nein, Benedict Wells, wenige Wochen nach dem Aufbruch, den Sie mir gestattet haben, kann ich das ganze Gegenteil berichten. Denn die Neverboys und die -girls, von denen sie fürchten, dass sie oft die Bittergirls und –boys von morgen sind, können manchmal tatsächlich auch altgewordene Bitterboys und –girls sein, denen es im hohen Alter von über 80 Jahren gelingt, ihren Frieden zu finden und zu machen – der Beweis, dass man nie aufhören sollte zu hoffen.

Ihre Hoffnung, dass auch nur ein Mensch sich in dieser Beschreibung gesehen fühlt, hat sich mehr als erfüllt. So spanne ich nun beglückt den Bogen von Denis Schecks Interview mit Alexander Kluge (hier ist das Interview verlinkt), zu Den Geschichten in uns, wo auf Seite 99 zu lesen ist:

„Der Publizist Alexander Kluge sagte in einem Interview auf die Frage, wieso er schreibe, er habe im Grunde in all seinen Werken versucht, seine Eltern wieder zusammenzubringen. Vielleicht ist so ein Satz zutreffend. Vielleicht ist auch mein Schreiben geprägt von dem unmöglichen Versuch, die Brüche im Leben meiner Eltern oder meiner Kindheit zu reparieren. Von dem Wunsch, fremde und eigene Fehler zu korrigieren. Und von der Hoffnung meines jugendlichen Ichs, endlich von anderen Menschen gesehen zu werden und all die unausgesprochenen in mir schlummernden Gefühle, Ängste und Gedanken mit ihnen  zu teilen. Sie sind die weißen Blätter, auf die ich bis heute schreibe.“

Wie gut, wie heilsam, dass Sie durchgehalten haben, auf diese weißen Blätter zu schreiben, so dass nicht nur Sie sichtbar werden – gesehen werden -, sondern dass auch viele Namenlose sich endlich gesehen und gewürdigt fühlen.

 

Details

 Veröffentlicht: 08. August 2014

Wir müssen uns auf die Socken machen - Danke, Alexander Kluge!

Was treibt uns an - was treibt uns um? Es ist schön und instruktiv, dass ich neben meinen Gedanken eine der wichtigsten Inspirationsquellen zugänglich machen kann. Es ist mehr als lohnenswert den nachstehenden Link zum Interview mit Alexander Kluge zu nutzen - zumindest, wenn man ein wenig mehr verstehen will, warum ich unter die BLOGGER gegangen bin.

Seit sechs Wochen betreibe ich "VERBOTEN", ein chaotisch-geordnetes BLOG-Projekt. Unterdessen ist das eingetreten, womit ich gerechnet habe. Die Suche nach Struktur und Ordnung mäandert unkontrolliert und dynamisch in verschiedenste Richtungen, ohne jedoch den Antrieb, den "inneren Beweger" völlig aus dem Blick zu verlieren. So erinnere ich mich an ein Interview, das Alexander Kluge am 14.2.2012 - anlässlich seines 80sten Geburtstages und der Veröffentlichung des fünften Bandes seiner "Lebensläufe" - Denis Scheck im DLF gegeben hat:

Kurz vor meinem eigenen 60sten Geburtstag habe ich bei dem 20 Jahre Älteren eine Reihe von Anregungen übernommen, die mit meinen eigenen Motiven nahezu kongruent erscheinen. Denis Scheck gräbt und baggert in dem ausufernden Werk Kluges und bewegt ihn dazu, den Antrieb seines Schaffens einmal auf den Punkt zu bringen. Kluge vertritt die These, dass "Lebensläufe" heute im Vergleich zu früher - zumindest an der Oberfläche - extrem "akzeleriert" und dynamisiert erscheinen (er räumt Scheck gegenüber ein, dass es historisch sicherlich nie eine "verdichtetere Zeit" gab, als die zwischen 1941 und 1945, und das ein "schwarzes Loch" wie Auschwitz kaum jemals überbietbar sei). Die Beschleunigung zeige sich gewissermaßen an "anderen Stellen". Er weist darauf hin, dass zum Beispiel Konflikte, die nur "zugebuddelt" seien, an anderer Stelle wieder in Erscheinung treten: Er spricht von Problemen, "die ungelöst sind und vor sich hinbrennen, unbeachtet von den Menschen, die ja an der Aktualität geschult sind und sozusagen jede Woche etwas anderes sehen", was das andere dann wieder überlagere - Wichtiges und Unwichtiges, Elementares und Nicht-Elementares werde durcheinander gewirbelt; eine Affäre um den Bundespräsidenten decke "Fukushima" und den notwendigen Diskurs schlicht zu - und jede Woche werde eine andere Sau durchs Mediendorf getrieben.

Kluge nennt in der Folge Ovids "Metamorphosen", die reichhaltiger seien als jedes Internet und Denis Scheck räumt ein, dies kuriere nicht zuletzt auch ihn von allen Attitüden der "Nabelschau". Mit Ovid ließe sich lernen, dass der Mensch seine Gestalt erst wandele, wenn er unerträglich leide. Und genau dies gelte auch für Lebensläufe. "Die Geschehnisse des Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen." Niklas Luhmann, der wenig Biographisches zulässt - oder wenn man so will "rauslässt" - schildert in einem Interview einmal den Sekundentod eines Freundes, der wie er, als Flakhelfer neben ihm laufend, durch ein feindliches Geschoss atomisiert worden sei: Da stelle sich nur die Alternative, verrückt zu werden - oder (wie Luhmann bekennt) mit langem Atem und im Endergebnis und für seinen Fall, Soziologe zu werden. Luhmann und Kluge sind für mich in gewisser Weise Gewährsleute für ähnliche Hinweise.

Den entscheidenden Hinweis gibt Alexander Kluge, nachdem Scheck ihn auf ein Gespräch Kluges mit Martin Walser anspricht: Dort beschreibe er, dass er im Grunde schon als Kind versucht habe, die Scheidung seiner Eltern im Jahre 1942 rückgängig zu machen, also ein Widerzusammenkommen zu ermöglichen und weit darüber hinaus eine Art Lebensaufgabe darin zu sehen, als "Friedensstifter" zu wirken. Kluge relativiert sofort und meint: "... unter den Eltern - also nicht im Allgemeinen - ich will nicht mit Verbrechern Frieden haben, aber die Eltern wollt ich gern wieder zusammen haben, und ich würde sie im Elysium doch gerne zusammen wissen."

Scheck insistiert: "Jetzt haben sie aber ein besonderes Verhältnis zu den Toten - die Toten sind gar nicht tot!?" Und Kluge antwortet: "Das ist aber eine Wahrheit, da habe ich viele Eideshelfer (Benjamin, Scholem)." Scheck bohrt weiter und beharrt: "Wie versöhnt man seine toten Eltern miteinander? Mit dem Stift in der Hand auf dem Papier?" Und Kluge gibt die Antwort, die ich mir selbst für die Übernahme ins Langzeitgedächtnis empfohlen habe, obwohl ich - und meine Geschwister - das Glück hatte, eine Scheidung der Eltern nicht erleben zu müssen - das nicht! Aber das Glück, die eigene Ehe nun schon 33 Jahre erleben und gestalten zu dürfen, verdanke ich eher meiner Frau als meiner eigenen Statur (Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete...).

KLUGE ANTWORTET: "Durch Revitalisierung - eigentlich dadurch, dass sie gewissermaßen Empathie auch auf sie anwenden. Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen." (Auch darum ist "Hildes Geschichte" entstanden!)

Lieber Alexander Kluge, vielen Dank! Mir ist schon klar, dass mit diesem Hinweis der zentrale Antreiber für mein gesamtes BLOG-Projekt bezeichnet ist. Umso mehr, als mir der Konjunktiv hinsichtlich der Möglichkeit des "Bürgerkriegs" zu milde erscheint. Auch in der Enkelgeneration derer, die Opfer und Täter der unmäßigsten Verdichtung von Zeit - bis hin zur ungeheuren Sogkraft "Schwarzer Löcher" - geworden sind, tobt noch jener Krieg, der hier nur als Konjunktiv erscheint. Ich weiß, dass Sie unzählige Male gezeigt haben, dass es nicht nur eine Möglichkeit, sondern Realität in vielen Lebensläufen (geworden) ist. Jedenfalls haben Sie in mir (nicht zuletzt durch Ihre Arbeit) einen Zeitgenossen gewonnen, der gegen das Vergessen und Verdrängen anschreibt! Und all Ihr anderen: Hört Euch einmal in Ruhe das Interview an - vielleicht zuckts Euch ja dann auch in der (Schreib-)Hand.

Das letzte Wort soll Alexander Kluge gehören. Auf die Frage von Denis Scheck, warum er eigentlich ein so enorm fleißiger Mensch sei, antwortet er: Weil die Scheidung meiner Eltern und der Bombenangriff auf Halberstadt und was ich noch erfahren habe, was alles dieser Schoß unserer Wirklichkeit bereit hält, eigentlich zur Eile mahnt - wenn sie so wollen. Wir müssen uns auf die Socken machen, der Schnee schmilzt weg. Wach auf du Christ - und was noch nicht gestorben ist, macht sich auf die Socken!"

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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