<<Zurück

 
 
 
 

Kindheit im Spiegel von Fotografien

Auch hier ein älterer Text (aus dem Jahr 2021), der mir jetzt beim Durchforsten des Archivs begegnet. Wer wir sind, hängt nabelschnurmäßig mit der Frage zusammen, wer wir waren (oder mit Blick auf unsere Nachkommen, wer wir gewesen sein werden). Wie durch ein Brennglas treten die Antworten auf diese Frage in Erscheinung in all den Facetten, die uns in der Zusammensetzung des Mosaiks unserer Identitätsvorstellungen begegnen. Ob ich dieses Mosaik durch die Brille des Forscherpaares Grossmann/Grossmann betrachte oder durch die intime Brille des Soziologen Karl Otto Hondrich, immer drängt der Blick auf die Beantwortung der Frage, wie es sich schon in unserer frühesten Kindheit verhielt mit dem Urbedürfnis nach Geborgenheit, Bindung und Zugehörigkeit und ob all dies dazu angetan war, uns ein Urvertrauen zu gewähren und zu bewahren in unseren sozialen Kernbeziehungen. Allein um der Beantwortung dieser Fragen willen rechtfertigen sich alle Bemühungen, unseren Lebenslauf in gleichermaßen selbstkritischer wie achtsamer Grundhaltung zu betrachten:

Der Elfte im Zwölften - wie der Zwölfte im Elften - sind eingebrannt in mein Gedächtnis. Am 12.11.2021 wäre mein Bruder Willi 66 Jahre alt geworden, am 11.12.2021 jährte sich der Geburtstag meines Vaters zum 99sten mal. Gestern - anlässlich des langen, langen Beitrags über Benjamin List- wurde mir ein unverhofftes Lob zuteil; Claudia lobte meine Art der Bilderfassung und -beschreibung mit Blick auf das Porträt von Benjamin List in der ZEIT. Eine eigene Sprache zum Bild zu entwickeln und buchstäblich zu entfalten liegt mir am Herzen, seit ich versucht habe die Fotos (in: Hildes Geschichte, Seite 200 und Seite 203 mit den jeweiligen Interpretationen - wenn man den Link öffnet, handelt es sich um das zehnte und elfte Foto) zu deuten, die meine Mutter und meine Schwester zeigen - und im Zeittakt ein Foto, das Hilde (unsere Mutter), Theo (meinen Vater) und meine Schwester (vermutlich im Sommer 1948) zeigen, dem Jahr, in dem beide geheiratet haben.

Nun steht mir gegenüber ein Fotoarrangement, das mich gemeinsam mit meinem Vater zeigt - ich bin etwa zwei Jahre alt; groß und gerahmt lache ich aus einem Foto, vielleicht im Alter um die 8 Jahre. Und schließlich schaue im mir entgegen als 65jähriger - im Kontext meiner Versetzung in den Ruhestand.

Ganz gewiss kommt nichts subjektiver und schrulliger - aber vielleicht auch deshalb aufschlussreicher daher, als der Blick auf Fotos, die einen biografischen Bezug herstellen:

  • Beginnen wir einmal mit dem frühesten Foto, etwa aus dem Jahr 1954: Es zeigt mich gemeinsam mit meinem Vater. Der Fotograf scheint Einfluss genommen zu haben - wie das früher so üblich war. Die Fluchtlinien sorgen für eine durchkompIMG 1614 2onierte Inszenierung. Das linke Bilddrittel zeigt die Ahr mit Uferböschnung und einem rahmenspendenden Baumbestand. Ich vermute, wir befinden uns am rechten Ahrufer. Die Ahr selbst zeichnet mit ihrem linksseitigen Uferabschnitt (also ahrabwärts) eine Diagonale, die sich über unsere Schulterpartien bis in die Bildmitte hin fortsetzt. Das schwarz-weiß-Foto lässt nur bedingte Rückschlüsse auf die Jahreszeit zu - ich vermute eher Frühjahr, da ich überzeugt bin, nicht wesentlich älter als zwei Jahre zu sein. Wir beide - Vater und Sohn - bilden das Gravitationszentrum des Fotos. Mein Vater befindet sich - in Hockstellung - fast auf Augenhöhe mit mir. Er hält mich. Er umarmt mich, seine rechte Hand umgreift meine rechte Hüfte, während seine linke Hand meinen linken Oberarm fest im Griff hat. Ich könnte mich rückhaltlos fallenlassen; hört sich paradox an, zumal unser beider Haltung so etwas wie Schieflage andeutet - eine leichte Achsenneigung nach links (aus der Betrachterperspektive). Aber das Foto vermittelt mir einerseits eine unfassbare Geborgenheit, sozusagen in den Armen meines Vaters. Der Hinweis auf's Frühjahr ergibt sich aus der Tatsache, dass ich eine Mütze und einen kleinen Schal trage. Bei meinem Pullover handelt es sich zweifelsfrei um Selbtsgestricktes. Ganz vordergründig betrachtet erscheine ich wie der Zwieback-Junge auf den Brand-Packungen der 50er/60er Jahre - ein wenig pausbäckig. Differenzen ergeben sich mit Blick auf unsere Mimik und Gestik. Mein Vater erweckt einen kraftvollen, überaus gesunden Eindruck. Die rechte Hand, die mich an der Hüfte hält, wirkt fast prankenhaft, die linke Hand zupackend. Sein Gesichtsausdruck zeugt von Entschlossenheit und Selbstsicherheit: Ich habe es geschafft: Ich habe die Frau meines Herzens erobert, und ich habe einen Sohn. Dieser etwa 32jährige Mann lässt nicht im geringsten erahnen, dass er Soldat im Zweiten Weltkrieg war, kriegsversehrt nach Hause kam - ohne Berufsausbildung, betrogen um Jugend und Gesundheit. Beruflich war fester Boden erreicht als Croupier im Spielcasino Bad Neuenahr. Die Spiegelung von Zuversicht und Entschlossenheit ergibt sich aus dem harmonischen Zusammenspiel von Augenpartie, Nase und Mund. Vor allem der Lippenschwung signalisiert Zufriedenheit, zurückhaltende Freude, Entschlossenheit. Die Augen sind fokussiert - und dann die Nase; diese formstarke, wohlgebildete Nase. Die hat er mir vererbt - vielleicht auch die ausgeprägte Schmallippigkeit? Das volle Haar ist - wie noch bis in die letzten Jahre - linksgescheitelt und in exakter Manier nach hinten gekämmt und hätte jeder Seborin-Werbung Ehre gemacht. All das zeugt von Ebenmaß. Und ich bin nie den Eindruck losgeworden, dass die Nazis mit ihrem Terrorregime genau diesen Typus im Blick hatten, wenn der Kinderschänder, der sich Führer nennen ließ, von Jungs gesprochen hat, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde. Diese Charakterisierung bleibt mir heute noch im Halse stecken, wenn ich mir vor Augen führe, dass mein Vater diesem Verbrecherregime seine Jugend und seine Gesundheit geopfert hat - und es heute in Deutschland wieder geschichtsklitterndes Pack gibt, die dies in Zweifel ziehen. Mein Vater ist am 24. April 1988 im Alter von eben erst 65 Jahren verstorben. Mein Blick in die Welt auf jenem Foto nimmt sich weitaus skeptischer und zurückhaltender aus - fast schon ängstlich. Das Büblein, das hier in den Armen des Vaters gehalten wird, schaut - ganz und gar unbewusst - wohl in eine Zukunft, die ihre Beschwernisse und ihre Bürden bereithalten wird. Kaum ein Junge meiner Generation wird bis zu seinem siebten Lebensjahrzehnt ein solches Maß an Geborgenheit, Zugehörigkeit und Entschiedenheit seiner Eltern erlebt haben. Wie ich heute meine - als Schreiber dieser Zeilen -, eine notwendige und unverzichtbare Grundausstattung für ein Leben, das mich sicherlich nicht als den Mutigsten, aber gleichwohl als tapferen Wanderer durch die Freuden, Leiden und Zumutungen des Lebens sieht. Natürlich fragt sich jeder Großvater, inwieweit er sich in seinen Enkelkindern wiederfindet. Gegenwärtig, beim Schreiben dieser Zeilen, finde ich meinen Enkel Leo, den kleinen Unglücksraben, der sich gestern Abend bei einem Sturz eine Fraktur des rechten Oberschenkels zugezogen hat, in mir wieder. Der Blick zeugt eben von einem Leid, das man erfährt oder auch nur erahnt, und der alleine gewiss für ein zupackendes und freimütiges Leben nicht ausreicht. Ich hege die schlichte Hoffnung, dass die Grundlagen für ein zupackendes und erfülltes Leben in der urgroßelterlichen, der großelterlichen und erst recht der elterlichen Linie auf eine gediegene Weise vorgespurt ist. Wir freuen uns alle, wenn Leo am Montag mit der Mama aus dem Kemperhof heimkehrt in den Advent.

  • IMG 3859Das zweite Foto (Seite 71 in: Kurz vor Schluss) zeigt einen - vielleicht acht- bis zehnjährigen - Jungen, der offen und zuversichtlich in die Welt schaut. Obwohl mein Bruder Willi - viel mehr als ich - den Prototyp eines Lausbuben darstellt(e), kommen mir hier alle diesbezüglichen Attribute zu. Die Augen strahlen, die Zähne blitzen, die Lippen haben den nötigen und ausreichenden Schwung für ein offenes Lachen, die Haare - ein wenig strubblig und nur halbwegs gescheitelt. Ja, und die abstehenden Ohren, die allerdings schon auf dem Weg zur Angleichung sind, signalisieren den Habitus eines wohlgelaunten Lausejungen, der sich soeben den nächsten Streich ausdenkt. Immerhin beginnt hier schon die (väterliche) Nase das Terrain zu beherrschen, ohne allerdings irgendetwas Unausgewogenes zu erzwingen. So kann die Welt kommen, ich bin bereit, und ich werde allen, die es wissen wollen, zeigen, dass ich meinen Weg in ihr finde. Wenn ich dies heute - am 24. März 2023 - erneut lese, stört mich der eindimensionale Optimismus. Mit über 70 Jahren kann ich zwar uneingeschränkt bekennen, dass ich meinen Weg gefunden habe. Allerdings stellt sich dieses lange Leben im Rückblick auch immer wieder als Achterbahnfahrt dar, in deren Dynamik sich auch immer wieder schlichte Überforderungen einstellten - das Gefühl, die Welt, die da kommen mag, droht einen zu überrollen. Die Tatsache standgehalten zu haben und die ein oder andere (hausgemachte) Zumutung auch überstanden zu haben, beschreiben die Wahrheit eines Lebenslaufes mit Ecken und Kanten mindestens genauso treffend, wie der offene und zuversichtliche Blick in die Welt, wie er vielleicht aus diesem Foto strahlt.

  • Mit gut 65 Jahren inszeniere ich mich für ein Foto, mit dem ich mich aus der Arbeitswelt verabschiede. Auf der Rückseite von Kurz vor Schluss I und II bildet es mit die Klammer, die ich stecke vom etwa 28jährigen Jupp(i) zum 65jährigen Jupp. Und da könnt Ihr alle sehen, was das Leben mit den Menschen macht. Mancheiner hat geglaubt mir den Hinweis geben zu müssen, das sei doch nicht ich! Ich sage hingegen: Es gibt kein Foto, von dem ich meine, glaube und fühle, dass es mir und meinem Selbstbild so sehr entspricht, wie kein zweites. Was und wen sehe ich? Ich sehe einen Mann mit nach wie vor vollem Haar - schon vor dreißig Jahren ergraut.  Wie schon in der kleinen Skizze zuvor - zum acht- bis zehnjährigen Juppi - bildet der ebenmäßige und ausgewogene Nasenerker - einen Fokus, um den sich alles dreht und zentriert; tief(er)liegende Augen, die einen immer noch lebendigen und dichten Rahmen erhalten durch wohlgeformte Brauen. Der Blick ist verhalten, reserviert, und - ich glaube - ein ganz wenijupp kontaktg verschmitzt (das rechte Auge <vom Inhaber aus gesehen> schaut verschmitzt, das link2e eher skeptisch und verhalten). Und die Ohren? Der Kopf ist zwischen die Ohren gewachsen, und - man glaubt es kaum - sie liegen nahezu an. Die Lippen sind geschlossen, und sie sind schmal geblieben. Falten und Furchen sind überschaubar und halten sich in Grenzen. Ich meine, dass die Waage zwischen einer zupackenden und gestaltungswilligen Grundhaltung auf der einen Seite und einer leid- und schmerzvollen Erfahrungsfülle auf der anderen Seite eine notwendige Balance nicht zerströren konnte. Balance wofür? Um einen Weg zu finden,nicht nur zwischen Skylla und Charybdis, sondern auch entlang der Versuchungen, Verlockungen, die das Leben auf der einen Seite zu bieten hat(te), und den Herausforderungen, die eben auch zu jedem Leben in Verantwortung gehören. Ich habe das für mich einmal diskutiert unter der Leitformulierung: Wie ich lernte zu wollen, was ich soll! Dieser Beitrag erscheint mir selbst zentral für mein Selbstbild, das sich in den letzten 15 Jahren massiv in eine Richtung verstärkt hat, die sicherlich tief in mir angelegt war und ist. Ja, das scheint mir eine angemessene Sichtweise, und bei Gelegenheit - die heute gekommen ist - werde ich die hier beschriebenen und interpretierten Fotos einfügen.

Zuletzt - weil es der Elfte im Zwölften ist - möchte ich nicht versäumen, Rudi zu seinem 78. Geburtstag zu gratulieren. Er hat mir mit seiner Denkenden Betrachtung zuletzt noch einmal Anstösse vermittelt, die auch meinen Bemühungen Richtung und Motiv geben.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.