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(M)Ein Adventskalender (10) heute öffnen wir das zehnte Türchen/Fensterchen

Donnerstag ist immer Festtag. In der Regel stehe ich früher auf, heute schon um 6 Uhr. Ich gehe mit Akribie an meine Übungen. Nach einer guten halben Stunde bereite ich dann das Frühstück vor und gehe - wie immer donnerstags - mit einer gewissen Neugier zum Briefkasten. Dort liegen die Rhein-Zeitung und die aktuelle ZEIT für mich bereit. Ich blättere die Rhein-Zeitung durch, lege sie bei Seite und beginne mein wöchentliches Ritual - ich schaue im Inhaltsverzeichnis, der ZEIT nach, ob sich etwas aufdrängt. Ich interessiere mich nicht für Chemie - leider! Dennoch bleibe ich auf der Seite 19 hängen. Benjamin List schaut mir entgegen. Über ihm schweben fünf schwarze, fett gesetzte Wörter, die sich zu einer sinnvollen semantischen und grammatikalischen Ordnung fügen: Das  Experiment  meines  Lebens (ZEIT 51/21, S. 19-21 - Benjamin List im Interview mit Malte Henk und Benjamin Senkter).

Eine kleine private Anmerkung zu Beginn: Selten hat mich ein Interview so gefesselt, fasziniert und bewegt. Ich hatte die Hälfte bereits für mich gelesen, als Claudia zum Frühstück kam. Ich habe ihr angeboten, noch einmal von vorne zu beginnen und ihr das Interview vorzulesen, ohne zu ahnen, was da insgesamt auf uns zukam. Das gemeinsame Lesen von Artikeln aus der ZEIT gehört seit vielen Jahren zu unseren Donnerstag-Morgen-Ritualen. Ich gehe hier so weit, dass mir (uns) nicht nur ein Heureka-Erlebnis zu Teil wurde, sondern dass mir die Weihnachstbotschaft in einer besonders prägnanten, drastischen und bewegenden Weise vermittelt wurde. Das wird nun ein langes zehntes Türchen, durch das ich/wir gehen, und ich kann alle Leser nur ermuntern einerseits bis zu Ende zu lesen bzw. - noch besser - sich das Original-Interview zugänglich zu machen. Zuvor möchte ich erklären, wie allein schon die Präsentation dieses Interviews seine besondere Wirkung entfaltet:

Benjamin List schaut ernst - und wie mir scheint - abgeklärt, vielleicht gepaart mit ein wenig Skepsis in die Kamera - manch eine(r) mag Anflüge von Arroganz wahrnehmen). Er wirkt gediegen bis bieder, trägt ein hellgraues Hemd, einen dunkelgrauen Überzieher mit V-Ausschnitt; insgesamt ein harmonisches Erscheinungsbild eines 53jährigen. Der ernste Blick wird unterstrichen durch eine insgesamt reduzierte Mimik, schmale, geschlossene Lippen, extrem hohe Denkerstirn, die in erster Linie betont wird einerseits durch Inszenierung (Perspektive der Kamera, Blickwinkel) andererseits aber durch objektive Tatbestände - zum Beispiel eine Glatze. Nur ansatzweise lässt sich die Möglichkeit eines Haarkranzes erahnen, allein dem (logischerweise) abgewandten Hinterkopf vorbehalten. Das linke Ohr bildet einen (durchaus ästhetischen) visuellen Fokus. So betrachtet könnte man Ben List als einen 53jährigen Durchschnittmann betrachten, der aber alles Durchschnittliche durch ein besonderes Maß an Ebenmäßigkeit und Ausgwogenheit aufwertet. Ich mag noch nicht enden in der Charakteristik jemandes, der weiß, dass er hier fotografiert wird für eine übergroßes Porträt in einer der wichtigsten Wochenblätter der Republik. Und da sagt sein Blick: Ich weißt wer ich bin, und ich möchte hier so abgelichtet werden, wie ich mich sehe. Dies wird unterstrichen durch die Haltung und kleine optische Details seiner Wahl des modischen Auftretens. So spärlich diese Gesamtinszenierung wirkt, so entschieden dominieren die Details. Benjamin List steht hinter einer Barriere - vielleicht einer Empore, die den Blick freigibt nur auf den Oberkörper, die linke Hand liegt locker auf der Ballustrade und korrespondiert mit seinem Blickwinkel. Das mächtige dunkle Grau seines Überziehers wird überstrahlt von einem überbelichteten Schädel, der in seinen Details und Facetten (schmaler Mund, mächtige, aber ästhtisch beachtliche Nase und vor allem einen gleichermaßen weiten wie tiefen selbstbewussten Blick) eine ungeheure Präsenz ausstrahlt.

Ich weiß, das reicht nun wirklich. Aber in dem Augenblick, in dem Benjamin List zu Wort kommt, offenbart sich - zumindest aus meiner Sicht - die absolute Berechtigung dieser Herangehensweise. Um daran keinen Zweifel zu lassen, beginne ich mit (s)einer absolut privaten und intimen Auslassung, die für ihn lebensbestimmend und lebenswendend geworden ist. Und das Ereignis, auf das er sich hier bezieht, hat nichts mit dem Nobelpreis zu tun, der ihm in diesem Jahr - gemeinsam mit Dave McMillan - von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften zugesprochen wurde. Dazu später mehr. Aber zuerst der 

Kern der Weihnachtsbotschaft:

Benjamin List wird gegen Ende des Interviews von den beiden ZEIT-Redakteuren Malte Henk und Benjamin Senkter auf ein Ereignis angesprochen, das - wie schon angedeutet - gleichermaßen lebensprägend - wie lebenswendend war. Die Redakteure sind vorsichtig und fragen Benjamin List, ob er darüber berichten wolle. Er reagiert offen und freimütig: "Ich möchte mich damit nicht wichtig machen, und es ist lange her. Aber wenn Sie danach fragen, erzähle ich es Ihnen gerne." Ich widme nun diesen Schilderungen eine besondere Aufmerksamkeit und gebe einige Passagen im Original wieder. Die beiden ZEIT-Redakteure fragen - wie angedeutet - vorsichtig und zurückhaltend: "Einige Monate bevor Sie zu einem der Direktoren Ihres Instituts aufstiegen, geschah etwas Schreckliches. Sie gerieten Weihnachten 2004 in Thailand in den Tsunami. Wollen Sie davon berichten?"

"Ich erzähle es Ihnen gerne. Wir waren dort mit Freunden im Urlaub, es war unser Abreisetag, die Koffer waren schon gepackt. Ich lag am Pool unseres Hotels, und las, meine Frau und die beiden Jungs waren auch in der Nähe. Die Kinder waren drei und fünf und konnten noch nicht schwimmen. Auf einmal war da ein Geräusch. Erst einmal igoniert man es und denkt, aha, ein Flugzeug. Das Geräusch wurde lauter und lauter. Leute schrien: 'Run! Run! Big wave coming!' Es war keine riesige Welle, es war einfach nur Wasser, das da auf uns zukam. Aber mit hoher Geschwindigkeit. Und weil der Ort an einen Berg gebaut war, merkte ich physikalisch intuitiv: Hier wird gleich alles überschwemmt. Ich hab mir den Paul geschnappt, meine Frau den Theo. Wir versteckten uns hinter dem Pool-Haus. Das Wasser wurde immer stärker. Etwas fiel mir auf den Kopf. Paul glitt mir aus den Händen, und ich war in diesem schwarzen Ozean und wurde herumgeschleudert von der Welle. Als Surfer hatte ich so etwas schon erlebt, aber noch nie in dieser Heftigkeit. Es ging so schnell, dass ich keinen rationalen Gedanken mehr hatte. Aber irgendwie das Bewusstsein: Okay, das ist jetzt das Ende. Man wird innerlich ruhig... Irgendwann hatte die Welle einen stillen Moment. Ich merkte, wo oben und unten ist. Ich schaffte es, aufzutauchen und auf eine Palme zu klettern. Da unten zwischen diesem ganzen Müll im Wasser war das Gesicht eines Mädchens, es schrie: Help! Ich hab's versucht, aber es ist mir nicht gelungen. Wahrscheinlich ist das Mädchen ertrunken. Mein Denken setze wieder ein. Ich dachte: Meine Familie ist tot.

Die ZEIT-Redakteure fragen: "Haben Sie gesucht?" Ich merke, wie mir das Vorlesen schwer fällt, wie mir die Stimme stockt, wie ich einen Kloß in den Hals bekomme - aufgrund der Schilderungen Benjamin Lists beginnen auch meine Gedanken Tsunami zu spielen. Ich will das nicht an mich heranlassen; den Gedanken, dass ich nun weiterlesen muss: Seine Familie ist ertrunken, und er muss allein weiterleben. Wir lesen weiter:

"Als das Wasser weg war, kraxelten wir Überlebenden die Hügel hoch. Dort oben fand ich meine Frau wieder, sie hatte Paul im Arm - das Kind, das ich mir geschnappt hatte. Er war an der Lunge verletzt, sagte aber: 'Alles okay, keine Sorge, Daddy:" Am Abend, es war schon dunkel, fuhren sie uns in eine 150 Kilometer entferntes Krankenhaus. Ganz hinten in einer Ecke lag ein blonder Junge mit zerstrubbelten Haaren, nahezu unverletzt. Ich dachte, das könnte unser Theo sein. Dann dachte ich: Das ist die Halluzination eines Vaters, der gerade ein Kind verloren hat. Ich ging hin und schaute ihm ins Gesicht. Er war es."

Claudia und ich schauen uns fassungslos an. Hinter diesem relativ nüchternen Bericht toben die Abgründe der Hölle - des Tsunamis, der Weihnachten 2004 nach Schätzungen circa 230.000 Menschen das Leben gekostet hat. Malte Henk und Benjamin Senkter fragen abschließend: "Was hat diese Erfahrung mit Ihnen und Ihrer Familie gemacht?"

"75% der Gäste des Hotels waren gestorben. Inklusive unserer Freunde. Bei uns war in der Zeit danach ganz viel Glück und Bescheidenheit. Ein Wissen, worauf es wirklich ankommt im Leben - dass einen das Streben nach Auszeichnungen und materiellen Zielen am Ende nicht glücklich macht. Ich sage das jetzt so auf, aber man fühlt es einfach. Und ich glaube, ein Nachklang davon ist bis heute in mir drin. Hier an meinem Institut sind wir ein sehr internationales, sehr ehrgeiziges Team. Natürlich arbeiten wir hart. Aber ich ermuntere meine Leute immer, ihrem Enthusiasmus zu folgen. Ich sage ihnen: Macht im Leben das, was ihr mit Leidenschaft macht. Es soll sich nicht anfühlen, wie harte Arbeit. Und das kann man eigentlich jedem Menschen als Rat mitgeben. Nicht nur Nachwuchsforschern. Finde ich jedenfalls."

Im zehnten Fensterchen also die Weihnachtsbotschaft: Rückblickend auf das Weihnachtsfest 2004, das so vielen Menschen den Tod, Not, Elend, Verzweiflung gebracht hat, die frohe Botschaft: Benjamin List und seiner Frau sind Paul und Theo wiedergeschenkt - wiedergeboren worden - ein unfassbares Glück angesichts der von Benjamin List geschilderten Ereignisse und Umstände. Mich haben diese Schilderungen (die so unendlich weit weg sind) fassungslos gemacht. Vielleicht ist Benjamin Lists Nüchternheit, vielleicht auch die von ihm reklamierte Bescheidenheit - die Erfahrung puren Glücks im großen Unglück - der Kern einer Weihnachtsbotschaft, wie sie manchmal aus den schon vergangenen neun Fensterchen meines Adventskalenders (auch) leuchten möge.

Aber nun zum eigentlichen Thema - gleichermaßen faszinierend und gleichermaßen unglaublich: Die Geschichte, wie Benjamin List Nobelpreisträger wurde:

Der Nobelpreisträger

Benjamin List wächst im Frankfurter Westend auf, "in einem großbürgerlich geprägten Umfeld". Die ZEIT-Redakteure stellen fest, dass es in seinem Umfeld auffällig viele musisch und künsterlisch begabte Menschen gibt - und eine Tante (Schwester seiner Mutter), die 1995 im Alter von 53 Jahren den Nobelpreis bekommen hat: Christiane Nüsslein-Volhard, Entwicklungsbiologien aus Tübingen. Sie nimmt Benjamin mit nach Stockholm zur Verleihung und behauptet bis heute - entgegen der Erinnerung Benjamins - er habe damals schon gesagt: "Eines Tages kriege ich den auch." Er hat ihn also bekommen! Wofür?

Benjamin List lässt keinen Zweifel an seinem überbordenden Selbstbewusstsein. Er erzählt, sicherlich sei es zweischneidig, wenn man eine Nobelpreisträger-Tante hat. Das bedeute latenten Druck:

„Das andere aber ist, dass man spürt: Wenn sie es schafft, die zu meiner Familie gehört, zu meinem Genpool – dann kann ich so etwas auch erreichen. Ich habe wirklich eine tolle Familie. Wir hatten gerade ein Treffen, da haben meine beiden Brüder eine Rede auf mich gehalten. Total süß.“

Beiläufig erfahren wir, dass er eine antiautoritäre Erziehung genießt - auch unter der Betreuung Daniel Cohn-Bendits, den Benjamin List in guter Erinnerung hat. Und wie kommt Benjamin zur Chemie?

"Es war eine kindlich-philosophische Fragestellung. Ich weiß nicht, wo sie herkam. Jedenfalls dachte ich etwa mit elf Jahren: Alles besteht aus kleinen Teilchen. Und die Chemiker verstehen, wie diese Teilchen sich verhalten. Also müsste man doch als Chemiker alles begreifen - warum es die Welt gibt und wie sie sich verändert. Warum es Menschen gibt und wie sie ticken."

Da hat sich Benjamin natürlich mächtig überhoben - vor allem mit der Idee, aus der Teilchen-Philosophie, pardon, ich meine natürlich der Teilchen-Chemie auch ableiten zu können, wie Menschen ticken. Ich kenne auch Chemiker, die sich durchaus als Teilchen durch die Welt bewegen und dabei an der Teilchen-Beschleuniger-Philosophie Platons orientieren; der hatte ja auch schon die Idee, dass die passenden (komplementären) Teilchen nur zusammenfinden müssen, um als ehemalige Hälften sodann endlich ein komplettes, harmonisches Ganzes zu kreieren. Manche Chemiker sind sich dabei durchaus auch bewusst, dass Katalyse dabei im Sinne von beschleunigenden Anstößen hilfreich sein könnte.

Es gibt im Fortgang seiner Wissenschaftlerkarriere sozusagen basics, die er auf amüsante bis elegante Weise zu vermitteln weiß. Er schwärmt von molekularer Architektur und sagt: "Ein Molekül Stück für Stück zusammenzusetzen ist hochelegant und ästhetisch und fast schon Kunst." Die ZEIT-Redakteure präsentieren ihm die Selbstauskunft einer jungen, promovierten Chemikerin, die uns allen weitgehend als TV-Gesicht bekannt sein dürfte. Mai Thi Nguyen-Kim schreibt in  ihrem Buch Komisch, alle chemisch: "Die Welt in Molekülen zu sehen, ist wie ein Zwang für mich, aber ein schöner Zwang. Man könnte sagen, ich leide unter OCD - Obsessive Chemical Disorder. Wenn ich mir vorstelle, wie Nicht-Chemiker ihren Alltag leben, so ganz ohne an Moleküle zu denken, finde ich das traurig. Sie wissen gar nicht, was sie verpassen."

Benjamin List entgegnet: "Unterschreibe ich hundertprozentig. Ich finde diese Frau supert. Irgendwann will ich sie mal kennenlernen. Ich denke wie sie: Die armen Menschen, die ihn einfach nicht wahrhaben wollen, den Reiz der Moleküle."

Benjamin List erzählt nun, wofür er den Nobelpreis bekommen hat und betont dabei, dass es ihm von Anfang darum gegangen sei, seine eigene, unabhängige Karriere zu starten. Sein Ziel sei gewesen, kleine organische Moleküle zu designen, die wie Enzyme funktionieren:

"Ich meinte zu verstehen, welche Bestandteile eines Enzyms die Hauptrollen spielenäää bei der Katalyse - eine Aminogruppe und eine Säuregruppe. Mir fiel ein: Ich könnte einfache eine existierende, längst bekannte Aminosäure benutzen. Prolin. Ein wunderschönes kleines Molekül, die hübscheste aller Aminosäuren. Komplett ungiftig, von süßem Geschmack."

Sofort insistieren Henk und Senkter: "Mir fiel ein", sagen Sie.

Und Benjamin List offenbart nun einer seiner basics, die für sich und für ihn spricht: "Wenn man sich als Nicht-Naturwissenschaftler diesen Prozess vorstellt, denkt man wahrscheinlich, er ist sehr rational. Dass man klug Argumente abwägt, die Literatur konsultiert - und am Ende seine Entdeckung macht. Das ist nicht meine Erfahrung. Ich kriege Ideen. Und wie diese Formulierung impliziert, kommen die Ideen halt zu mir. Ohne dass ich immer weiß, wie und warum. Manche Gedanken fühlen sich einfach gut an. Damals wusste ich, ich muss dieses Experiment jetzt machen."

Benjamin List schildert im Fortgang nun "das Experiment seines Lebens". Das ist sicherlich nur etwas für Fachleute - nicht wahr, lieber Frank Udo? Das hört sich alles lapidar und beiläufig an: "Wir hatten nebenan ein Biolabor (er ist inzwischen am Scripps-Institut in Kalifornien). Da stand Prolin rum. Mit ihm wollte ich eine Standardreaktion der Chemie in Gang bringen, bei der Ketone und Aldehyde eine Verbindung eingehen." Als ihm anderntags klar wurde - schildert er -, dass das erwartete chemische Produkt entstanden war. Er hatte das , was man wohl einen Heureka-Moment nennt: "Das war so toll."

Er hielt seine Erkenntnisse geheim und publizierte sie - von Frankfurt aus - am 6. Dezember 1999; zwei Monate bevor Dave McMillan, der auf anderem Weg zur organischen Katalyse fand und mit dem er sich den Nobelpreis teilt. Auch hierzu noch ein Schmankerl: Benjamin erhält den Anruf des Generalsekretärs der Schwedischen Akademie der Wissenschaften Anfang Oktober in Amsterdam. Wenige Minuten später rief der Generalsekretär ihn nochmals an und bat ihn um die Rufnummer von Dave MacMillan. Er konnte ihn nicht erreichen.  Benjamin List erzählt:

Dave und ich waren früher eher Konkurrenten, aber heute verstehen wir uns gut. Ich habe denen seine Nummer gegeben - und Dave eine sms geschrieben: 'Dave, wake up!' Er rief mich kurz darauf an, um mir zu erklären, das Ganze sei ein Prank. Eine Veräppelung. Seine Doktoranden würden ständig solche Scherze mit ihm machen. 'Tut mir echt leid, Ben. Sorry, wenn du drauf reingefallen bist." Nun, wir wissen ja, das Dave diesmal auf der falschen Fährte war.

Ich kürze ab und springe zu den Aussagen Lists, mit denen er Perspektiven der Chemie seines Verständnisses skizziert und reibe mir dabei die Augen. Auf die Frage, ob er heute noch mit Prolin als Katalysator arbeite, antwortet er.

"Nur noch ganz selten. Aber wir erleben gerade die beste Zeit der organischen Katalyse. Wir haben mittlerweile Katalysatoren, die sind so viel stärker als Prolin, dass sogar Chemiefirmen sie einsetzen wollen. In der Medikamentenherstellung geschieht dies schon längst. Ich hätte den Nobelpreis niemals bekommen, wenn ich damals noch meiner Entdeckung aufgehört hätte zu forschen und nur noch in Kalifornien surfen gegangen wäre [...] Gerade war ich bei BioNTech, wir bereiten eine Kooperation vor. Ich kann keine Details verraten, aber es geht darum, die nächste Generation Impfstoffe noch besser zu machen. Da spielt die organische Katalyse auch eine Rolle." 

Und wenn sich mancheiner wundert, dass Benjamin List in Mühlheim an der Ruhr forscht, dann ist folgender Hinweis sicher hilfreich. List sagt, jeder Chemiker kennt Mühlheim an der Ruhr: "Als das Institut 1912 gegründet wurde, war es die erste Forschungseinrichtung im Ruhrgebiet überhaupt [...] Dieses Institut ist eine weltweite Marke. Wir haben sogar den Kollegen in den USA beigebracht, das deutsche Wort 'Kohlenforschung' auszusprechen und nicht etwa coal research zu sagen. War nicht ganz leicht."

Denn sie ist einfach wunderschön, diese Welt!

Was will Benjamin List in Zukunft machen? Eigentlich - sagt er - habe er noch etwas vor mit seinem Feld, der organischen Katalyse. Er wolle sie in höchste Höhen führen. Er verstehe sich als Chemiker -

"warum sollen wir nicht unser Wissen nutzen, um den Klimawandel zu bekämpfen und die CO²-Emissionen in den Griff zu bekommen [...] Man müsste es aus der Luft holen und im Gigatonnenmaßstab daraus etwas vernünftiges machen. Also eine Fotosynthese, wie bei Pflanzen, nur eben künstlich: Wir spalten das CO² in C und O² - in Sauerstoff und Kohlenstoff, den man dann chemisch nutzen könnte."

Die künstliche Fotosynthese sei ein sehr alter Traum der Chemie, bemerken Henk und Senkter und Benjamin List antwortet (dabei lasse ich es dann bewenden und bin natürlich gespannt, ob sich dieser Traum jemals erfüllen wird. List jedenfalls schließt dies nicht aus:

"Ja, früher habe ich immer ein bisschen geheim gehalten, dass ich auch davon träume. Nicht dass man mich für einen Scharlatan hält. Aber sie wäre nun mal eine chemische Reaktion, die die Welt verändern würde, wenn sie technisch durchführbar wäre. Man müsste das CO² mit Hilfe von Licht und einem Katalysator zu Sauerstoff und Kohlenstoff machen. Kohle ist nicht besonders umweltschädlich - wenn sie nicht gerade brennt. Das Problem ist die Menge. So viel Kohle braucht kein Mensch, auch wenn wir daraus wiederum Benzin oder Kunststoffe machen würden. Man müsste sie wohl unter die Erde schaffen. Oder zu Diamantenstaub pressen, als Baumaterial im Zement."

Ganz zum Schluss noch mal für Frank-Udo. Das Sinnieren über Begriffsherkünfte bringt Benjamin List zu folgender abschließender Bemerkung:

"Im chinesischen Wort für Katalysator steckt übrigens des Schriftzeichen für 'Heiratsvermittlung'. Ja, fast alles auf dieser Welt ist chemisch-molekulares Werden und Vergehen. Das führt mich zu meinem elfjährigen Ich zurück, zu diesen ultimativen Fragen, die ich damals hatte: Warum gibt es Leben? Was ist der Ursprung unseres Bewusstseins? Wo gehen wir alle hin? Wissen Sie, inzwischen habe ich es längst aufgegeben, die Antworten darauf in der Chemie zu suchen. Die Chemie ist für mich heute nur ein Spielplatz. Ein Ort, an dem ich die Schönheit der Welt und der Materie, aus der sie gemacht ist, genießen kann. Denn sie ist einfach wunderschön, diese Welt."

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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