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Hartmut Rosa: Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung

Dies ist kein neuer Beitrag! Er ist im Rahmen dieses Blogs 2020 - nach dem Tod meiner Schwiegermutter - veröffentlicht worden. Er tritt unterdessen (im März 2023) wieder in den Vordergrund, weil er auf ein Spannungsverhältnis aufmerksam macht, dass für mich und mein Umfeld - mit meinem 71sten Geburtsag verbunden - nicht mehr die Fürsorge für die Alten fokussiert (dies hat sich mit dem Tod der letzten Ahne gewissermaßen erledigt), sondern den eigenen Status als älterer bzw. als alter Mensch in den Mittelpunkt rückt. Alle Fragen der eigenen Daseins-Vorsorge stellen sich nun unmittelbar, und sowohl die letzten Jahre mit den zentralen Aktivitäten als auch die in Aussicht genommenen Vorhaben sind unter dieser Perspektive zu betrachten. Dazu stelle ich hier einmal, bevor Hartmut Rosa in seiner beeindruckenden Aktualität das Wort hat, ein paar biografische Hinweise - sozusagen in eigener Sache - voran. Wie sehr im Übrigen das eigene Alter und Altern die Gegenwart beherrscht, soll in der Erinnerung an Winfried Rösler noch einmal deutlich werden. Er wäre vor drei Tagen, am 27.3. dreiundsiebzig Jahre alt geworden. Er hat sich zu Hartmunt Rosa und meiner kritischen Rezeption der Resonanz-Publikation noch als immer aufmerksamer Freund geäußert:

  • Meine Versetzung in den Ruhestand jährt sich 2023 zum sechsten Mal. Zeitgleich mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben, nahmen wir - meine Familie und ich - 2017 den Umbau und die Sanierung des Elternhauses meiner Frau in Angriff: Zu diesem Zeitpunkt lebte meine Schwiegermutter mit uns (meiner Frau und mir) gemeinsam unter einem Dach; nach Oberschenkelhalsbruch im Dezember 2015 und Kurzzeitpflege in einer örtlichen Einrichtung, entschieden wir uns gemeinsam für diesen Versuch einer Betreuung und Pflege in der Familie. Dieser Umstand - verbunden mit dem Einbau eines Treppenlifters ins seinerzeit bewohnte Haus - veranlasste uns bei den Planungen für die Kernsanierung des Elternhauses den Einbau eines Aufzugs vorzusehen, um die Schwiegermutter nach dem gemeinsamen Umzug auch dort - Am Heyerberg - angemessen betreuen und versorgen zu können. Der Versuch, die (Schwieger-)Mutter innerhalb der Familie zu betreuen und zu pflegen, scheiterte schlicht am wechselseitigen Unvermögen, sich noch einmal vollends aufeinander einlassen zu können. Nach einem erneuten Krankenhausaufenthalt (Bruch des Oberarms) im Mai 2017 entschlossen wir uns zu einer Dauerunterbringung im örtlichen Pflegeheim.
  • Im Zuge der erwähnten Sanierung hielten wir an  unserem Vorhaben fest, den Umbau altersgerecht vorzunehmen. Wir wohnen heute in einem komplett dieser Maßgabe Rechnung tragenden Haus. Alle Vorkehrungen und alle Voraussetzungen für einen Verbleib im Haus - auch im hohen und höchsten Alter - sind getroffen bzw. geschaffen. In der Auseinandersetzung mit Anni Ernaux's Eine Frau - ich spreche von einem erbärmlichen bzw. erbarmungswürdigen Büchlein - habe ich mir die Freiheit genommen, die Widersprüche, Klemmen und schlichten Probleme aufzugreifen bzw. aufzuzeigen, die sich verbinden mit den Erwartungen alter Menschen, ihr Leben in Eigenständigkeit und Würde zu (Ende zu) leben. Welche Rolle dabei der Familie als Resonanzhafen in stürmischer See (Hartmut Rosa) zukommt, lässt sich relativ konkret aufzeigen. Ich nenne einmal die für mich relvanten biografischen Zäsuren, die mit dem Tod der (Schwieger-)Eltern sich gewissermaßen wie eine Perlenkette durch mein Leben ziehen: 1988 (ich bin 36 Jahre alt): Tod meines Vaters; 2003 (ich bin 51 Jahre alt): Tod meiner Mutter; 2010 (ich bin 58 Jahre alt): Tod meines Schwiegervaters; 2020 (ich bin 68 Jahre alt): Tod meiner Schwiegermutter. Ich habe die Beitrage jeweils verlinkt, die sich mit diesen Zäsuren verbinden. Sie belegen, die meinerseits intensiv beanspruchte und erlebte Dimension einer Wahrnehmung jener Verantwortung, in die ich mich gestellt sah und gestellt habe.
  • Soziologisch betrachtet unterliegt die Familie als Institution selbst einem rasanten Wandel. Da gibt es einerseits die von Hartmut Rosa konstatierte Resonanzsucht in der Moderne. Sie bündelt sich in seinen Worten "in ihrer Konzeption der intakten oder wohlbehüteten Kindheit wie in einem Brennglas (350)". Die Familie werde als der Resonanzhafen konzeptualisiert, in dem sich die Kinder geliebt, gemeint, getragen und geborgen fühlen können; sie verdienen alle Liebe ihrer Eltern (und der übrigen Verwandten). In der Summe - so Rosa - spreche allerdings vieles gegen diese ideale/idealisierte Vorstellung von einem Resonanzglück: Den Grund hierfür sieht Hartmut Rosa "weniger im persönlichen oder familialen Versagen als vielmehr in der Unmöglichkeit, individuelle Resonanzinseln in einer als repulsiv konstruierten Umwelt auf Dauer zu bewahren (353)". Repulsive - abstoßende bzw. abwehrende Umwelten: Die individuellen und familialen Konflikte und Dramen, die sich hinter solchen soziologisch Formulierungen verbergen, prägen vielfach den Alltag in deutschen Familien - oder in der Folge schon häufig vom familiären Umfeld abgeschnittenen Einzelschicksalen. Als ich gestern meine Schwester bei der Abfassung einer Vorsorgevollmacht unterstützte, wurde mir einmal mehr eindrücklich vor Augen geführt, wie aussichtslos die Sehnsucht nach einem Resonanzglück häufig genug ist. Es gilt wohl aus tausenden und abertausenden familientherapeutischen Erfahrungen die Einsicht, dass das intergenerative Feld für alle Beteiligten einen lebbaren Rahmen und Tonus abgeben muss. Selbst Inseln engster Resonanzräume - meinetwegen in der Konstellation Vater-Mutter-Kind - lassen sich wohl dauerhaft nicht etablieren, wenn die Bindungen in die Eltern- bzw. Großelterngeneration unterbunden bzw. gekappt werden; Bert Hellinger würde wohl sagen: Wenn Liebe nicht fließen kann und Hinbewegungen unterbrochen werden.

Unter diesen Eindrücken habe ich Harmut Rosas Erkenntnisse zur Familiendynamik noch einmal auf mich wirken lassen:

Alles in allem 815 Seiten - heute am 14.08.2020 für € 20,- gekauft, bereits 2016 erschienen, nunmehr vorliegend in der 3. Auflage im Suhrkamp-Verlag (stw 2272). Das heißt nicht weniger und nicht mehr, als dass ich es eigentlich noch hätte wahrnehmen und auch rezipieren müssen im vorletzten Jahr meiner Tätigkeit in der Uni an einer der zentralen Nahtstellen der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung.

Inzwischen bin ich jedoch in jeder Hinsicht entschleunigt - zuletzt durch den Tod meiner fast 97jährigen Schwiegermutter; mit ihr gemeinsam habe ich in den letzten drei Jahren versucht, eine Praxis der Entschleunigung zu entwickeln bzw. zu gestalten.

In der Angewiesenheit auf Rollator und Rollstuhl und in der Kultivierung von Zeittakt und Resonanzfähigkeit waren flankierende Hilfslinien und ein klarer Aufgabenhorizont vorgegeben, so lange Resonanzverhältnisse in freier Wahl und Gestaltung von den Beteiligten verantwortet werden konnten.

Dass uns Hartmut Rosa hier nicht nur abstrakte Theoriekost anbietet, sondern beschreibungsfähige und -intensive Unterscheidungen, sei konzediert. Ich will hier nur andeuten, dass beispielsweise ein sozialer und kultureller Tsunami wie covid19 - von den ökonomischen Implikationen ganz abgesehen - uns zwingt, auch die Unterscheidungshilfen und -angebote einer konventionellen Soziologie zu überdenken. So ist zu reden über "das Problem ungerechtfertigter Essentialisierungen". Zur Veranschaulichung seiner Überlegungen bietet uns Rosa "grobschlächtig skizzierte Figuren" an, die ihm immer wieder als Referenzpunkte dienen:

"Gustav verkörpert dabei das Prinzip der RessourcenmaximierungVincent die Figur des prozessorientierten (Lebens-)KünstlersAnna steht für die Etablierung intensiver und dauerhafter Resonanzachsen und damit für die Erfahrung von Lebensglück, während Hannah als Inbegriff einer entfremdeten Welterfahrung (und damit der scheiternden Weltbeziehung) dient. Adrian schließlich symbolisiert die Strategie der Weltaneignung durch Weltbeherrschung und Optionenerweiterung, während Dorian eine Strategie der Weltaneignung durch mimetische Anverwandlung versinnbildlicht (34)." In der Vor-Corona-Welt mag es dann auch überzeugend klingen, wenn Rosa betont, die jeweilige Weltbeziehung lasse sich nicht über die Art der Tätigkeiten oder die Objektbereiche per se bestimmen, sondern nur über eine Analyse der jeweiligen Welthaltung und Welterfahrung: "Ob es zur Ausbildung und Aufrechterhaltung konstitutiver Resonanzachsen kommt oder nicht, hängt zum Ersten von den (körperlichen, biographischen, emotionalen, psychischen und sozialenDispositionen des Subjekts, zum Zweiten von der institutionellen und kontextuellen sowie auch von der physischen Konfiguration der jeweiligen Weltausschnitte und zum Dritten von der Art der Beziehung zwischen diesen beiden ab. Selbst tendenziell lebensfeindliche Weltausschnitte wie eine Wüste, eine Schneelandschaft oder eine Tankstelle können unter bestimmten Bedingungen zu genuinen Resonanzoasen werden (35)."

Nehmen wir einmal meine oben erwähnte Schwiegermutter, so lässt sich folgendes zeigen - im Übrigen, ohne dass ich Hartmut Rosa des Zynismus bezichtigen will:

  • zum Ersten: biographisch befindet sich meine Schwiegermutter zu Beginn des corona-bedingten lock-downs mit totaler Kontaktsperre im März 2020 erstens in einem örtlichen Seniorenheim und zweitens mit 96 und einem halben Jahr auf der einen Seite vor einer mehr als überschaubaren Zukunft und komplementär dazu auf der anderen Seite in der Retrospektive auf dem Gipfel eines Lebens in der abschiedlichen Phase. Dazu ist sie drittens sozial und emotional absolut und alternativlos auf den Resonanzraum angewiesen, den ihr ihre Familie lange im eigenen Haus, dann im Haushalt der Tochter und schließlich im örtlichen Seniorenheim angedeihen ließ. Der lock-down mit totaler Kontaktsperre bedeutete psychisch den totalen Zusammenbruch durch das katastrophale Abgleiten in die soziale und emotionale Isolation; körperliche und emotionale Zuwendung prallten an der verhängten Kontaktsperre vollständig ab. Soviel zu den entsprechenden Dispositionen des Subjekts meiner Schwiegermutter.
  • zum Zweiten ergab sich genau dieser desaströse Situationsbefund aus einer institutionellenkontextuellen und letztlich auch physischen Konfiguration, die ein Aufrechterhalten konstitutiver Resonanzachsen durch totales Kontaktverbot vollkommen verunmöglichte.
  • zum Dritten kann und muss man feststellen, dass die Wechselwirkung zwischen eins und zwei in eine soziale, emotionale und physische Resonanzlosigkeit einmündete, die den Lebensmut und den Lebenswillen irreversibel schädigte und schließlich auslöschte.

Es kommt mir ausschließlich darauf an, dass wir unterdessen nicht - wie Hartmut Rosa erwägt - nach topografischen Wüsten oder Schneelandschaften suchen müssen, um die Frage beantworten zu können, ob dieselben sich - entsprechende resiliente psychische und physische Grundausstattungen vorausgesetzt - unter Umständen sogar als "genuine Resonanzoasen" erweisen könnten. Vielmehr lässt sich feststellen, dass wir uns Szenarien - und zwar gesellschaftsweit - nicht mehr ausdenken müssen, um "Entfremdung im Sinne stummerkalterstarrer oder scheiternder Weltbeziehungen" als Ergebnis "beschädigter Subjektivität" auszugeben. Lieber Hartmut Rosa, "resonanzfeindliche Sozial- und Objektkonfigurationen" oder das "Missverhältnis bzw. das fehlende Passungsverhältnis zwischen Subjekt und Weltausschnitt gehen hier vollständig zu Lasten des  W E L T A U S S C H N I T T S.  Covid19 lehrt uns insofern zumindest begreifen, dass Weltausschnitte so konfiguriert sein können, dass bestimmte Subjekte in ihrer unbeantwortbaren Not an struktureller Resonanzlosigkeit zugrunde gehen müssen.

Kehren wir zurück zu jenem Hartmut Rosa, der glaubt sich zunächst einmal gegen die Vereinnahmung als Entschleunigungsguru schützen zu müssen und der betont, dass sich die gesellschaftliche Formation der Moderne nur dynamisch stabilisieren könne. Unzweifelhaft seien moderne Gesellschaften vor allem durch eine systematische Veränderung der Zeitstrukturen charakterisiert, die sich unter dem Sammelbegriff der Beschleunigung beschreiben ließen. Sympathisch - und vielleicht sogar barrieremindernd - wirkt sein Versuch, die Diametrale, die Sehnsuchtsperspektive und die Realperspektive holzschnittartig miteinander zu konfrontieren. Anstelle eines Vorworts erzählt er u.a. die Geschichte von Anna und Hannah.

Ganz nebenbei bemerkt: Es gibt für den nunmehr aufbrechenden Versuch, den Beschleunigungsprozess als "unaufhebbare Eskalationstendenz" zu verstehen, eine Prämisse, von der ich gerne wüsste, ob und wie Hartmut Rosa sie - bedingt durch covid19 - revidieren bzw. reformulieren würde. Er schreibt zu Beginn mit Bezug auf seine Eskalationsthese:

"Das bedeutet, dass die moderne, kapitalistische Gesellschaft sich immerzu ausdehnen, dass sie wachsen und innovieren, Produktion und Konsumtion steigern, Optionen und Anschlusschancen vermehren, kurz: dass sie sich beschleunigen und dynamisieren muss, um sich selbst kulturell und strukturell zu reproduzieren, um ihren formativen Status quo zu erhalten (13f.)."

Um die Frage zuzuspitzen, wann Leben gelingt bzw. misslingt, zeichne ich grob und verknappt - Rosa spricht von einem "Schnappschuss" - die Tagesperspektiven von Anna und Hannah nach. Jeweils um 7.00, um 8.00 und um 18.00 Uhr wirft Hartmut Rosa ein Blitzlicht auf das Leben von Anna und Hannah:

Morgens um 7.00 Uhr sitzt Anna am Frühstückstisch - neben ihr sitzt ihr Mann, ihr halbwüchsiger Sohn und ihre fast schon erwachsene Tochter kommen hinzu: Die Kinder strahlen sie an - sie strahlt zurück und denkt: wie lieb ich sie habe - diese gemeinsamen Momente vor dem Aufbruch am Morgen gehen mir über alles!

Morgens um 7.00 Uhr sitzt Hannah am Frühstückstisch - neben ihr sitzt ihr Mann, ihr halbwüchsiger Sohn  und ihre fast erwachsene Tochter kommen hinzu: Die schlechte Laune der Kinder ist sicht-, spür- und greifbar; alle sehen sich missmutig oder gar nicht an: mein Gott, wie ich das hasse - was hab ich eigentlich mit diesen Leuten zu schaffen? Was verbindet mich mit ihnen, außer dass ich für sie sorgen muss?

Es ist 8.00 UhrAnna auf dem Weg zur Arbeit - sie freut sich auf ihre Kolleginnen und Kollegen, sie hat Lust loszulegen, sie liebt ihre Arbeit!

Es ist 8.00 UhrHannah auf dem Weg zur Arbeit - sie denkt missmutig an die Arbeit, es reicht ihr schon, die immer gleich dumpfen Gesichter ihrer Kollegen sehen zu müssen!

Es ist 18.00 Uhr: Anna in der Turnhalle - sie freut sich auf die Bewegung, sie liebt das Spielerische und auch das Kämpferische; die Leute, das Spiel, die Bewegung tun ihr gut, gleichgültig, ob sie gewinnt oder verliert!

Es ist 18.00 UhrHannah in der Turnhalle - sie fragt sich, was sie hier tut - klar braucht sie Bewegung, hat aber keine Lust sich abzurackern, der Geruch in der Turnhalle nervt sie. Sie ist froh, als es vorbei ist, der Ehrgeiz ihrer Mitspieler geht ihr gegen den Strich!

Ich bin neugierig und lese schon lange nicht mehr chronologisch. Der Sprung zu Kapitel VII Horizontale Resonanzachsen (341) - und hier zu Unterkapitel I Die Familie als Resonanzhafen in stürmischer See - bietet sich bzw. zwingt sich geradezu auf, weil Hartmut Rosa ja mit Anna und Hannah - in den jeweiligen familialen Kontexten - die Familie, gewissermaßen als Einmalerfindung als zentrales Referenzphänomen betrachtet. Und hier enden auf Seite 353 "in der Summe" seine Einschätzungen damit, dass seiner Auffassung nach einiges dafür spreche, "dass Hannahs Frühstücksszenario die Erfahrungsrealität spätmoderner Familien weit eher repräsentiert als Annas Resonanzglück". Rosa liefert dafür sogar eine prägnante Begründung, indem er meint, dass der Grund hierfür weniger im persönlichen oder familialen Versagen liege, "als vielmehr in der Unmöglichkeit, individuelle Resonanzinseln in einer als repulsiv konstruierten Umwelt auf Dauer zu bewahren".

Auch hier einmal nebenbei, aber durchaus rüde bemerkt: Karl Otto Hondrich hat diesen Befund vor 13 Jahren profunde - mit Humor und Bitterkeit gleichermaßen - auf eindrückliche Weise formuliert. Es spricht nicht für Hartmut Rosa, dass er seinen Kollegen von Rang nicht einmal erwähnt!

Hartmut Rosa beginnt mit einer harten Konfrontation, in der auf der einen Seite als "dominanter Allokationsmodus moderner Gesellschaften" der Wettbewerb erscheint: "Wer seinen Wettbewerbsfähigkeit verliert, droht unterzugehen und vom Markt zu verschwinden. Eine so konzeptualisierte und wahrgenommene (Sozial-)Welt bietet zunächst wenig Resonanzflächen (341)." Ähnlich wie Dirk Baecker (siehe  F A M I L I E  gegen Ende des Beitrags) sieht auch Hartmut Rosa die Einmalerfindung Familie als "essentielles Kontrastfeld und unverzichtbaren Ausgleich" an: Die moderne Kultur habe "die eine, zentrale Gegensphäre der Familie etabliert und konzeptualisiert, die den Subjekten als der (vielleicht letzte) 'Resonanzhafen' in einer ansonsten indifferenten oder sogar feindlichen Welt des Kampfes und der Konkurrenz" erscheine.

Die "pervasive Dominanz der Konzeption von Familie als alternativem Resonanzhafen" wird - wie so häufig - auch von Hartmut Rosa dadurch unterstrichen, dass er auf die immer wieder ins Feld geführten Shell-Jugendstudien verweist, wonach die Prozentzahl der Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren, für die ein "gutes Familienleben führen" ein wichtiges Ziel ist, von ohnehin schon beeindruckenden 85% im Jahre 2002 bis 2010 auf 92% angestiegen sei (Anm. 11, 343).

Hartmut Rosa referiert unter Bezugnahme auf Eva Illouz und Anthony Giddens die Idee, dass zwei differente, gleichermaßen paradigmatische Resonanzbeziehungen im Zentrum des modernen Idealbildes der Familie als geschütztem Resonanzhafen stünden: "Zum Ersten ist dies die reine, bedingungslose, romantische Liebe zwischen Mann und Frau (bzw. zwischen zwei Intimpartnern). Rosa erwähnt neben Illouz und Giddens u.a. auch Niklas Luhmann. Kein anderer Theorieansatz hat den ambivalenten Charakter von Intimbeziehungen so schonungslos und sprachlich präzise beschrieben wie eben Niklas Luhmann oder auch sein Schüler Peter Fuchs. Letzterer hat für die Idee der beschriebenen romantischen Liebe jene nüchtern anmutende Formulierung geprägt von der "wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz". Die Institutionalisierung der Liebe in der Ehe lässt sich als Versuch begreifen, aus der reinen Resonanzerfahrung der Liebe bzw. des Verliebtseins eine stabile Resonanzachse [...] werden zu lassen, die auch in den Niederungen des Alltags immer wieder die Resonanzvergewisserung erlaubt und ermöglicht. Die damit verbundene Problematik, dass der Alltag, Gewöhnung und Routine "nachgerade als Feinde der Resonanzsensibilität erscheinen, ist immer wieder beschrieben worden" - die Ehe ist zu einem zentralen Konfliktfeld des modernen Lebens geworden.

Als eine zweite, naheliegende, reine Resonanzachse - so Hartmut Rosa - erscheint die zwischen Mutter und Kind. Allerdings räumt Rosa ein, dass auch hier die Geschlechtertrennung inzwischen an Gewicht verloren habe: "So wie Frauen ihren Platz in den kompetitiv-repulsiven Sozialsphären beanspruchen, pochen Männer auf emotionale Teilhabe an der Resonanzsphäre der Eltern-Kind-Beziehung (349)." Gleichermaßen betont Rosa mit Philippe Ariès, dass es in der modernen Kultur nicht von Anfang an selbstverständliche gewesen sei, dass Kinder nicht verdinglicht, nicht instrumentalisiert, nicht zum Gegenstand stummer Weltbeziehungen gemacht werden dürften. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts und - fortan - in der Spätmoderne habe sich die schon bei Commenius und Rousseau angelegte gegensätzliche Konzeption durchgesetzt; die des Kindes als eines schützens- und liebenswerten, reinen, unschuldigen und guten Wesens bis hin zu einer "sukzessiven kulturellen 'Sakralisierung der Kindheit'".

Hartmut Rosa führt nun aus, in welchem Ausmaß dieser Resonanzdraht heute in das Zentrum resonanter Weltbeziehungen gerückt sei. Insbesondere an den soziokulturellen Reaktionen auf den Verlust eines Kindes lasse sich dies ablesen:

"Wiewohl historisch gesehen der Verlust von Kindern (durch Krankheit, Hunger, Krieg etc.) ein geradezu erwartbares, beinahe alltägliches Ereignis ist, gilt er in der Spätmoderne just deshalb als das schlimmstmögliche Verhängnis überhaupt, wei ler mit dem Verlust aller Resonanzfähigkeit einherzugehen scheint. Eltern, die ihr Kind beerdigen müssen, haben (nach den gängigen kulturellen Deutungsmustern) ihre Antwortbeziehung zur Welt verloren, diese erscheint ihnen  - schwarz, leer, sinnlos, stumm, schweigend, feindlich, kalt; und die damit einhergehende Versteinerung ist so umfassend, dass es den Verwandten und Bekannten schwerfällt, ihrerseits den kommunikativen Faden zu den Trauernden wieder aufzunehmen (351)."

Kurze Einlassung in eigener Sache: Als mein Bruder 1994 bei einem Flugzeugabsturz starb - im Alter von noch nicht 39 Jahren - war er erwachsen, hatte Kinder (fünf und acht Jahre alt), war aber gleichwohl das Kind seiner Mutter (unser Vater war bereits 1988 gestorben). In der Bewältigung meiner eigenen damit verbundenen Krise trug meine Mutter 1998 die Bitte an mich heran, mit ihr gemeinsam dem Gesprächskreis verwaister Eltern e.V. beizutreten. Die intensiven Begegnungen innerhalb dieses Gesprächskreises bilden einen wesentlichen Mosaikstein zu meiner eigenen Auseinandersetzung mit dem plötzlichen Unfalltod meines Bruders - einmal ganz abgesehen davon, dass die Beziehung zu meiner Mutter noch einmal eine eigene Färbung und ein besonderes spezifisches Gewicht annahm.

Mir wird über diesen gesamten Erfahrungsraum, über die eigenen Kinder und die Tatsache der inzwischen eingetretenen eigenen Großvaterschaft in allumfassender Klarheit vor Augen geführt, wie sehr sich - "die Resonanzsehnsucht der Moderne - in den Worten von Hartmut Rosa - bündelt in ihrer Konzeption der intakten oder wohlbehüteten Kindheit wie in einem Brennglas (350)." Die Familie werde als der Resonanzhafen konzeptualisiert, in dem sich die Kinder geliebt, gemeint, getragen und geborgen fühlen können; sie verdienen alle Liebe ihrer Eltern (und der übrigen Verwandten).

Hartmut Rosa lässt keinen Zweifel daran, dass diese beiden Beziehungen zwischen Liebenden einerseits und zwischen Eltern und Kindern andereseits im Erwartungshorizont der (Spät-)Moderne die zentralen und oftmals die alleinigen Resonanztatsachen der Weltbeziehung bilden: "Sie sollen gewährleisten, dass uns die Welt als Ganzes zu antworten, dass sie für uns 'zu singen' vermag."

Hartmut Rosa würde den Erwartungshorizont als Soziologe von Rang bei weitem verfehlen, wenn er diesen - von ihm offenkundig als unbestreitbarer horizontaler Erwartungshorizont der bei weitem größten Anzahl der Weltbürger - in den Raum gestellten Sehnsucht nach Resonanz nicht die nüchterne und ernüchternde Analyse folgen lassen würde:

"Dass sie (die Familien und die beiden in ihr zentralen Resonanzachsen) mit dieser Erwartung und dieser Alleinstellung heillos überfrachtet sind, wissen wir aus unseren eigenen Familienerfahrungen ebenso wie aus einschlägigen familiensoziologischen und -psychologischen Studien. Die Familie kann das auf sie gerichtete und konzentrierte Resonanzverlangen strukturell nicht erfüllen, wenn sie als singulärer Resonanzhafen in einer ansonsten kompetitiven oder indifferenten Umwelt konzipiert wird. Gerade weil und wenn die übrigen Sozialsphären der Schule und des Berufs, der Politik und der Wirtschaft, der Straße, des Marktes und selbst des Fitnesscenters als Arenen des Wettbewerbs, des Kampfes und des Konflikts wahrgenommen werden, dringen die aus ihnen emergierenden Akkumulationszwänge und Optimierungimperative unbarmherzig in den Resonanzhafen Familie ein und infiltrieren dort die Handlungskalküle und Zwecksetzungen ebenso wie die emotionalen 'Antwortregister" (351f.)."

Ich kann mich mit soziologisch geschultem Blick auf diese nüchterne analytische Perspektive und den gleichermaßen nüchternen Sprachgestus vollkommen einlassen. Erst in einer letzten Anstrengung offenbart Hartmut Rosa die ganze Härte und Unerbittlichkeit dieser so elegant daher kommenden - gleichwohl Desaster-tauglichen - Beobachtungen, obwohl er auch hier sozusagen die eher verstellte Perspektive des Filmemachers zwischen das schiebt, was den meisten von uns vertraut ist:

"Doch das Bewusstsein des wechselseitigen, routineförmigen Gegeben- bzw. Aufeinander-angewiesen-Seins in einer ansonsten auf maximale Optionenvielfalt und Wahlfreiheit hin angelegten Welt kann auch seinerseits die Ausbildung einer repulsiven oder indifferenten Beziehung begünstigen. Lange verheiratete Paare können - wie die Filmgeschichte anschaulich zu illustrieren weiß - eine beispiellose wechselseitige Rosananztaubheit bzw. Indifferenz entwickeln, die sich unter anderem darin äußert, dass die Ehepartner weniger als selbst Fremde auf das Lächeln, den Scherz, die Betroffenheit oder den Schmerz des Partners reagieren; dass ihre Augen, ihr Gesicht, ihre Körperhaltung dabei nichts als Teilnahmelosigkeit ausdrücken. In einem solchen Zustand verkehrt sich die resonanzverstärkende Wirkung des Verliebtseins, die bewirkt, dass die Welt zu singen anhebt und farbiger wird, in ihr Gegenteil, also in eine wechselseitige Resonanzdämpfung (352)."

Hartmut Rosa illustriert das analoge Phänomen - entwicklungsnotwendig integriert in pubertäre Abgrenzungshaltungen der Kinder - auch für die Eltern-Kind-Beziehung (ebd.).

Bei der Durchsicht des Personen- bzw. Stichwortregisters fällt auf, dass der Soziologe Rosa nicht nur die außerordentlich hilfreichen Erkenntnisse der Paar- bzw. Familientherapie ignoriert - auch bei dem Anspruch einer "Soziologie der Weltbeziehungen" bleibt dies sträflich; nein Hartmut Rosa ignoriert die eigene Zunft auch da, wo sie - übrigens im Suhrkamp-Verlag - den Bedingungen für die Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft nachgeht. Sträflich ist hierbei, dass zwischen den idealisierten Resonanzsehnsüchten und ihrem desaströsen Scheitern alle Zwischentöne unhörbar bleiben; Zwischentöne, wie sie beispielsweise Arnold Retzer im Lob der Vernunftehe arktikuliert oder eben der Soziologe von Rang beispielsweise in der Person von Karl Otto Hondrich.

   
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